Kategorie-Archiv: Internationale Tage Ingelheim

Der wichtigste Ort im Leben ist das Zuhause – Internationale Tage Ingelheim zeigen ab 21.04.2024 „HOME SWEET HOME Zuhause sein von 1900 bis heute“

Die Ausstellung HOME SWEET HOME. Zuhause sein von 1900 bis heute (21. April bis 30. Juni 2024) beleuchtet das alltägliche Tun, Erleben und Erfahren im Zuhause. Ort: Kunstforum Ingelheim - Alter Bahnhof. © Foto Diether von Goddenthow
Die Ausstellung HOME SWEET HOME. Zuhause sein von 1900 bis heute (21. April bis 30. Juni 2024) beleuchtet das alltägliche Tun, Erleben und Erfahren im Zuhause. Ort: Kunstforum Ingelheim – Alter Bahnhof. © Foto Diether von Goddenthow

Die eigenen vier Wände sind für die meisten Menschen der Mittelpunkt des Lebens. Wie unterschiedlich dieses Zuhause jedoch individuell gelebt und erlebt werden kann, beleuchtet die wunderbare Ausstellung mit dem ironischen Titel „Home Sweet Home – Zuhause sein von 1900 bis heute“ im Rahmen der Internationalen Tage Ingelheim vom 21. April bis 30. Juni 2024 im Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus (François-Lachenal-Platz 1,55218 Ingelheim am Rhein).

Neue Leiterin und Kuratorin der Internationalen Tage Ingelheim. © Foto Heike  von Goddenthow
Neue Leiterin und Kuratorin der Internationalen Tage Ingelheim. © Foto Heike von Goddenthow

Dr. Katharina Henkel, neue Leiterin der Ingelheimer Tage und Kuratorin, gelang es bestens rund um die  „eigenen vier Wände“ eine komplexe hintergründige und schöne  Ausstellung zu konzipieren, „die einen hohen Identifikationsfaktor schafft, also ein Thema in den Fokus rückt, bei dem auch jeder mitreden kann.“ Das „Thema „Zuhause sei sehr naheliegend gewesen“, so die Kuratorin. Henkel hat dabei unser alltägliches Tun, Erleben und Erfahren im Zuhause in den Mittelpunkt gerückt und  in fünf Themen schwerpunktmäßig untergliedert.   Alltagsroutinen, aber auch wie innere Krisen und äußere Ereignisse in unsere Privatsphären  hineinwirken können, werden in „Home Sweet Home“  aus der Perspektive von 80 bekannten Künstlern  auf ganz unterschiedliche Weise erzählt und lassen uns dabei auch unser eigenes Zuhause neu entdecken.

Es gab natürlich schon einige Ausstellungen zum Thema Interieur, so Dr. Henkel, ebenso auch thematische Ausstellungen, „die den einen oder anderen Fokus in den Mittelpunkt gerückt haben. In meiner Ausstellung habe ich tatsächlich den Schwerpunkt auf das gelegt, was man zuhause tut.“ Und das sei natürlich vielfältig, wobei es bestimmte Dinge gibt, die wir alle zuhause machen, etwa „Körperpflege“, oder „das in Familie sein“, „an geborgenen beschützten Ort zu sein“, „Freizeit verbringen“, „sich erholen“, „Treffen mit Familie und Freunden“ Man spielt, man musiziert usw., das seien klassische kunsthistorische Themen, die auch vertreten seien in der Schau, so die Kuratorin.

Impression der Ausstellung "HOME SWEET HOME Zuhause sein von 1900 bis heute" vom 21.April bis 30. Juni 2024 Internationale Tage Ingelheim. © Foto Diether von Goddenthow
Impression der Ausstellung „HOME SWEET HOME
Zuhause sein von 1900 bis heute“ vom 21.April bis 30. Juni 2024 Internationale Tage Ingelheim. © Foto Diether von Goddenthow

117 Exponate  – Papierarbeiten, Gemälde, Fotografien, Videos und Skulpturen – zeigen Erwachsene und Kinder, allein oder in der Gemeinschaft, bei ganz verschiedenen Beschäftigungen oder in Alltagssituationen bis hin zum Home-Office in Zeiten von Corona. Den privaten Rückzugsort positiv erleben zu können, hat in allen Lebensphasen eine herausragende Relevanz: Hier ist man aufgewachsen, hier verrichtet man seine Arbeit im Haushalt, am Schreibtisch oder im Atelier, verbringt seine Freizeit, erfährt Glück, Liebe, Schutz und Geborgenheit. Hier kann man genesen und im Idealfall sterben. An dem eigentlich geschützten Ort müssen nicht wenige Menschen aber auch Not erleben oder Bedrohung und Gewalt erfahren. Anhand ausgewählter Werke zeigt die Ausstellung der Internationalen Tage Ingelheim neben der positiv besetzten Seite des Zuhauses auch deren negative Umkehrung. So stellt Dr. Henkel beispielsweise dem Themenraum „Das Zuhause als Ort der Familie und Geborgenheit“ als Gegenpol den Themenraum „Das Zuhause als Ort der Bedrohung“ gegenüber, dem Thema „Das Zuhause als Ort der Freizeit und des Müßiggangs“ als Kontrapunkt das Schwerpunktthema: „Das Zuhause als Ort der Arbeit“

Die fünf Themenräume im Überblick:

Part 1: Das Zuhause als Ort der Privatsphäre

links eröffnet der erste Themenraum mit Eric William ohnsens "Boudoirszene, 1918, In diesem Raum geht es um Körperpflege und Intimität der Geschlechter. © Foto Diether von Goddenthow
links eröffnet der erste Themenraum mit Eric William ohnsens „Boudoirszene, 1918, In diesem Raum geht es um Körperpflege und Intimität der Geschlechter. © Foto Diether von Goddenthow

In diesem ersten Themenraum im Untergeschoss, werden  Liebespaare, Frauen und Männer bei der Körperpflege, beim Ankleiden, sich Zurechtmachen sowie bei der Selbstinszenierung vor dem Spiegel präsentiert. Diese Motive stehen direkt und symbolisch für die  Welt der Privatsphäre. In seinem privaten Bereich kann sich jeder Mensch frei und unbeobachtet entfalten und auch verhalten. Werkbeispiele von Edgar Degas, Pierre Bonnard oder den Künstlern der Brücke wie auch Künstler:innen der Gegenwart zeigen das Zuhause als den Ort, an dem man sich nackt und ungeniert bewegt und sich ganz um sich selbst kümmert.

Part 2: Das Zuhause als Ort der Familie und Geborgenheit

Die Lithographie "Geburt" von Conrad Felixmüller (1897 - 1977) gehört zu den Lieblingsbildern der Kuratorin. Nicht die von der Hausgeburt noch völlig erschöpfte Mutter steht im Mittelpunkt des Blattes, sondern der Säugling, hochgehalten wie eine Trophäe von der Hebamme.  © Foto Diether von Goddenthow
Die Lithographie „Geburt“ von Conrad Felixmüller (1897 – 1977) gehört zu den Lieblingsbildern der Kuratorin. Nicht die von der Hausgeburt noch völlig erschöpfte Mutter steht im Mittelpunkt des Blattes, sondern der Säugling, hochgehalten wie eine Trophäe von der Hebamme. © Foto Diether von Goddenthow

Dieser Raum widmet sich der Familie als Keimzelle unserer Identität: Nichts prägt alle so intensiv wie die eigene Familie, kein anderes soziales Umfeld hat solch einen nachhaltigen Einfluss auf die eigene Persönlichkeit und auf das Verhalten anderen Menschen gegenüber: Hier lernt man den Umgang miteinander, das Einstehen füreinander und die Sorge umeinander. Im Zuhause in der Familie erfahren die meisten Menschen von klein auf die Liebe, Nähe, Zuwendung und Fürsorge, die sie schließlich selbst weitergeben. Werkbeispiele von Paula Modersohn-Becker, Conrad Felixmüller, Nathalie Djurberg & Hans Berg, Edvard Munch oder Beate Höing zeigen Facetten der Geborgenheit.

Part 3: Das Zuhause als Ort der Bedrohung

Patricia Waller hat in ihren gestrickten Figuren, hier "René" (2020) die häusliche Gewalt festgehalten. © Foto Diether von Goddenthow
Patricia Waller hat in ihren gestrickten Figuren, hier „René“ (2020) die häusliche Gewalt festgehalten. © Foto Diether von Goddenthow

Zwar sollten an kaum einem anderen Ort  alle so geschützt sein wie in ihrem Zuhause.

In seinem Bild "Der Albtraum" (2019) hat Markus Fräger die auch vorkommende häusliche Gewalt von Frauen gegen Männer aufgespießt.  © Foto Diether von Goddenthow
In seinem Bild „Der Albtraum“ (2019) hat Markus Fräger die auch vorkommende häusliche Gewalt von Frauen gegen Männer aufgespießt. © Foto Diether von Goddenthow

Doch mitunter wird dieses Zuhause auch zum Ort von Bedrohung,  Werkbeispiele von Max Beckmann, Pablo Picasso, Käthe Kollwitz, Herlinde Koelbl, Patricia Waller, Eleanor Macnair oder Csaba Nemes zeigen in diesem Themenraum wie das   Zuhause  von innen heraus zu einem Ort werden, an dem es sich wegen ökonomischer Faktoren oder durch ausgeübte Gewalt nur unter erschwerten Bedingungen oder gar nicht leben lässt.

Ebenso können Einwirkungen von außen wie Krieg und Zerstörung  massive  Bedrohungen darstellen, die dazu zwingen, das Zuhause zu verlassen.

Part 4: Das Zuhause als Ort der Freizeit und des Müßiggangs

Musizierende, Spielende und Lesende, aber auch Ruhende sind Themen in Raum 4 © Foto Diether von Goddenthow
Musizierende, Spielende und Lesende, aber auch Ruhende sind Themen in Raum 4 © Foto Diether von Goddenthow

Lange war der Begriff Müßiggang negativ besetzt, wurde er doch als Inbegriff der Faulheit verstanden. Doch aus dem Müßiggang können wegweisende Ideen, Erkenntnisse oder kreative Schübe entstehen. Mit ihm gehen aber auch Freizeitaktivitäten wie Geselligkeit, Ertüchtigung oder Weiterbildung einher. Arbeiten von James McNeill Whistler, Paul Kayser, August Macke, Walter Gramatté oder Ulrike Theusner richten den Blick auf den Zeitvertreib, wie er zuhause gerne praktiziert wird: musizieren, spielen, lesen, zusammen sein oder dösen.

Part 5: Das Zuhause als Ort der Arbeit

Gegenpol zum Zuhause, Ort der Freizeit und Müßiggangs bilden die Werke im Raum 5 "Das Zuhause als Ort der Arbeit" Hier reicht der Bogen von "Haushalt und Hausarbeit" über Home-Office (etwa Zeit von Corona) bis hin zu Atelier-Szenen. Eine der bekanntesten Motive ist dabei sicher Erich Heckels "Sich Waschende" von 1912. © Foto Diether von Goddenthow
Gegenpol zum Zuhause, Ort der Freizeit und Müßiggangs bilden die Werke im Raum 5 „Das Zuhause als Ort der Arbeit“ Hier reicht der Bogen von „Haushalt und Hausarbeit“ über Home-Office (etwa Zeit von Corona) bis hin zu Atelier-Szenen. Eine der bekanntesten Motive ist dabei sicher Erich Heckels „Sich Waschende“ von 1912. © Foto Diether von Goddenthow

Die Arbeit zuhause ist im Wandel: Im Haushalt strukturiert sie – zwischen Last und beruhigender Routine – zwar schon immer den Alltag, nun zieht jedoch die Büroarbeit im Homeoffice zusätzlich ein. Beruf und Privatleben lassen sich für die meisten zuhause gut trennen. Das Kunstschaffen speist sich hingegen aus dem Leben, weshalb bei Künstler:innen die Grenze zwischen Arbeits- und Lebensraum fließend, und häufig untrennbar ist. Corinna Schnitt oder Erich Hartmann, Thomas Wrede oder Johannes Hüppi, Maurice Denis, Fritz Nölken oder André Villers geben mit ihren Werken Einblick in die Arbeit im Haushalt oder am Schreibtisch sowie ins Atelier.

20240418_105833 plakat home sweet home 450Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus
François-Lachenal-Platz 1,
55218 Ingelheim am Rhein

Öffnungszeiten
Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag
11.00 bis 18.30 Uhr

Samstag, Sonntag und Feiertag
11.00 bis 18.00 Uhr

Montag geschlossen
(außer an Feiertagen)

Internationale Tage Ingelheim

Internationale Tage Ingelheim HOME SWEET HOME – Zuhause sein von 1900 bis heute – ab 21.April 2024

Walter Gramatté (1897 Berlin – 1929 Hamburg) Liegendes Mädchen (Sonia Gramatté), 1921 Aquarell und Tusche, 37,4 x 48,5 cm Foto: Jens Krüger
Walter Gramatté (1897 Berlin – 1929 Hamburg) Liegendes Mädchen (Sonia Gramatté), 1921 Aquarell und Tusche, 37,4 x 48,5 cm Foto: Jens Krüger

Die Ausstellung HOME SWEET HOME. Zuhause sein von 1900 bis heute (21. April bis 30. Juni 2024) beleuchtet das alltägliche Tun, Erleben und Erfahren im Zuhause.

Die eigenen vier Wände sind für die meisten Menschen der Mittelpunkt des Lebens. Über hundert Exponate – Papierarbeiten, Gemälde, Fotografien, Videos und Skulpturen – zeigen Erwachsene und Kinder bei verschiedenen Beschäftigungen oder in Alltagssituationen. Den privaten Rückzugsort positiv erleben zu können, hat in allen Lebensphasen eine herausragende Relevanz: Hier ist man aufgewachsen, hier verrichtet man seine Arbeit im Haushalt, am Schreibtisch oder im Atelier, verbringt seine Freizeit, erfährt Glück, Liebe, Schutz und Geborgenheit. Hier kann man genesen und im Idealfall sterben.

An dem eigentlich geschützten Ort müssen nicht wenige Menschen aber auch Not erleben oder Bedrohung und Gewalt erfahren. Anhand ausgewählter Werke zeigt die Ausstellung der Internationalen Tage Ingelheim neben der positiv besetzten Seite des Zuhauses auch deren negative Umkehrung.

Im Kulturforum Ingelheim – Altes Rathaus werden in fünf Kapiteln über hundert Werke vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart präsentiert, die das Thema Zuhause von 1900 bis heute veranschaulichen.

Die Werkliste umfasst Arbeiten u.a. von Max Beckmann, Paula Modersohn-Becker und den Brücke-Künstlern bis zu Thomas Wrede, Stefan Kürten, Herlinde Koelbl, Anja Niedringhaus, Norbert Tadeusz, Patricia Waller oder Csaba Nemes.

Mit HOME SWEET HOME kuratiert die Kunsthistorikerin Dr. Katharina Henkel als neue Leiterin der Internationalen Tage ihre erste Ausstellung.

kunstforum-ingelheim-(c)-diether-von-goddenthowHOME SWEET HOME
21. April bis 30. Juni 2024
Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus
François-Lachenal-Platz 1,
55218 Ingelheim am Rhein

Kirchner-Ausstellung in Ingelheim geht am 9. Juli 2023 mit großem Erfolg zu Ende

logo-ernst-ludwig-kirchnerDas erstmals im Rahmen der Internationalen Tage ausgestellte Werk von Ernst Ludwig Kirchner ist noch bis zum 9. Juli 2023 im Kunstforum Ingelheim zu sehen.

Bislang zählte die Schau der Internationalen Tage Ingelheim über 15.000 Gäste. Damit ist die von Ulrich Luckhardt und Dagmar Lott kuratierte Ausstellung die bestbesuchteste Präsentation der Internationalen Tage seit dem Umbau des Alten Rathauses 2018 zu einem modernen Ausstellungsgebäude, dem Kunstforum Ingelheim.

Mit 90 Werken – Zeichnungen, Aquarellen, Druckgrafik und einigen beispielhaften Gemälden – werden Einblicke in die fünf wichtigsten Stationen eines der einflussreichsten Künstler in Deutschland gewährt.

Mit dieser Ausstellung „Ernst Ludwig Kirchner. Stationen“ verabschiedet sich Dr. Ulrich Luckhardt nach 11 Jahren als Leiter von den Internationalen Tagen in den Ruhestand. Seine Nachfolge übernimmt nun ab Juli 2023 Dr. Katharina Henkel, die für das kommende Jahr eine Ausstellung mit dem Thema Zuhause kuratiert: rund 100 Werke beleuchten in einem zeitlichen Bogen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute das alltägliche Tun und rücken positiv wie negativ besetzte Tätigkeiten, Beschäftigungen oder Situationen im Zuhause in den Fokus und veranschaulichen die verschiedenen Bedeutungsebenen, die der private Ort hat, aber nicht haben muss (28.4. – 7.7.2024).

 

kunstforum-ingelheim-(c)-diether-von-goddenthowErnst Ludwig Kirchner. Stationen
Noch bis 9. Juli 2023
Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus
François-Lachenal-Platz 1,
55218 Ingelheim am Rhein

„Ernst Ludwig Kirchner. Stationen“ – Auf den Spuren der Einheit von Mensch und Natur – Internationale Tage Ingelheim, ab 30.04.2023

Erstmals wird das künstlerische Schaffen von Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) in einer monografischen Ausstellung im Rahmen der Internationalen Tage in Ingelheim präsentiert.  Ausstellungsimpression. Ernst Ludwig Kirchner Badende am Strand von Fehmarn, 1913. Die nackten badenden Frauen verschmelzen hier beinahe mit dem Strand und dem Meer unter dem mächtigen Baum als Metapher der ursprünglichen Einheit von Mensch und Natur, die Kirchner stehts suchte, und teilweise hier auf der Südostseite von Fehmarn, fand. Fehmarn war sozusagen  seine "Südsee-Insel". © Foto Diether von Goddenthow
Erstmals wird das künstlerische Schaffen von Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) in einer monografischen Ausstellung im Rahmen der Internationalen Tage in Ingelheim präsentiert. Ausstellungsimpression. Ernst Ludwig Kirchner Badende am Strand von Fehmarn, 1913. Die nackten badenden Frauen verschmelzen hier beinahe mit dem Strand und dem Meer unter dem mächtigen Baum als Metapher der ursprünglichen Einheit von Mensch und Natur, die Kirchner stehts suchte, und teilweise hier auf der Südostseite von Fehmarn, fand. Fehmarn war sozusagen seine „Südsee-Insel“. © Foto Diether von Goddenthow

Vom 30. April bis 9. Juli 2023 zeigt das Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus im Rahmen der Internationalen Tage Ingelheim die Sonderausstellung „Ernst Ludwig Kirchner.Stationen“.

Schon lange habe er Ernst Ludwig Kirchner als „prägende Figur des deutschen Expressionismus“ eine Ausstellung widmen wollen, freut sich der langjährige Leiter der Ingelheimer Tage Dr. Ulrich Luckhardt, dass es nun doch noch geklappt hat. Denn immer sei etwas dazwischen gekommen, zunächst die von ihm begleitete Renovierung und Erweiterung des Alten Rathauses zum „Kunstforum Ingelheim“,  und schließlich Corona. Jetzt aber, kurz bevor er  in Rente ginge und die Leitung der Ingelheimer Tage im Sommer 2023 an seine Nachfolgerin Dr. Katharina Henkel übergebe, sei sein Herzenswunsch doch noch in Erfüllung gegangen: Gemeinsam mit der Kuratorin Dagmar Lott ist ihm erstmals gelungen, das künstlerische Schaffen von Ernst Ludwig Kirchner (1880 – 1938) in einer monografischen Ausstellung im Rahmen der Internationalen Tage in Ingelheim zu präsentieren. Mit über 90 Werken – Zeichnungen, Aquarellen, Druckgrafik und einigen beispielhaften Gemälden sowie einer Medienstation mit rund 11 000 abrufbaren Skizzen – werden Einblicke in die wichtigsten Stationen eines der einflussreichsten Künstler in Deutschland gewährt. Die Präsentation ist für die Räumlichkeiten im Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus konzipiert und zeigt in fünf Ausstellungsräumen, die sich über drei Etagen verteilen, fünf für Kirchner und seine Kunst einschneidende Stationen. Das gesteckte Ziel, mit der Ingelheimer Ausstellung „Ernst Ludwig Kirchner. Stationen“ Kirchners künstlerisches Werk und Leben mit prägnanten Beispielen von höchster Qualität sichtbar zu machen, ist bestens gelungen. Ausgewählt wurden Motivgruppen, denen sich Kirchner in der jeweiligen Entstehungszeit besonders intensiv widmete und die seine thematische wie stilistische Entwicklung exemplarisch verdeutlichen.

Ausstellungsrundgang:

Die Media-Station im 2. Obergeschoss ermöglicht den digitalen Zugriff auf 11 000 Skizzen von Ernst Ludwig  Kirchner. © Foto Diether von Goddenthow
Die Media-Station im 2. Obergeschoss ermöglicht den digitalen Zugriff auf 11 000 Skizzen von Ernst Ludwig Kirchner. © Foto Diether von Goddenthow

Die Ausstellung erschließt sich am besten chronologisch, beginnend mit Station 1 im Untergeschoss, endend mit Station 5 im zweiten Obergeschoss (ein Aufzug sorgt für Barrierefreiheit). Im Foyer des 2. Obergeschosses befindet sich zudem die Medienstation mit annähernd 11 000 eingescannten Skizzen aus Kirchners Skizzenbüchern, die per Touch-Screen abgerufen werden können.

1.Das Atelier als Ort der Freiheit

Die erste Station heißt Dresden: Das Atelier als Ort der Freiheit. Kirchner ist Architekturstudent, in Wohngemeinschaft mit seinen Kommilitonen Fritz Bleyl und Erich Heckel. Später stößt Karl Schmidt Rottluff dazu. „Die haben“, so Kuratorin Dagmar Lott, „einen wundervollen Lehrer Fritz Schuhmacher“, der ihnen an der reformorientierten Hochschule Dresden das Freihandzeichnen lehrt und ihnen Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ und „die Gedanken von Freiheit und auch von Reduktion“ vermittelt, „sozusagen als junger Mensch aus der wilhelminischen Gesellschaft auszubrechen“.

Ernst Ludwig Kirchner's Reigen der "Nackten" beginnt mit dem "Paar" von 1908, gefolgt von "Zwei nackte Mädchen" von 1909 usw. © Foto Diether von Goddenthow
Ernst Ludwig Kirchner’s Reigen der „Nackten“ beginnt mit dem „Paar“ von 1908, gefolgt von „Zwei nackte Mädchen“ von 1909 usw. © Foto Diether von Goddenthow

Ganz im Geiste der „Jugend- und Lebensreformbewegung“, ihre tatsächlichen schöpferischen Gestaltungskräfte zu befreien, verlassen die jungen Leute ihr Architekturstudium, um Künstler zu werden, freie Künstler.  Kirchner hat bereits sein Architektur-Vor-Diplom  zum Thema Friedhofsgestaltung in der Tasche.  Aber ihr Freiheitsdrang, zur eigentlichen Bestimmung des Menschen vorzudringen, ist stärker. „Das lässt sich in der damaligen Gesellschaft natürlich eigentlich nur in intimen Raum des Ateliers ausleben, und so entstehen diese Ateliersszenen, wie sie in diesem großen Raum 1 zu sehen sind, in denen diese jungen Menschen nackt, ganz frei , sich undressiert von akademischen Vorgaben bewegen und zeichnen“, erklärt die Kuratorin bei der Presseführung.

Besonders in den großformatigen Blättern sehe man Kirchners talentierten Schwung im Gestus, der auch frei sei von akademischen Vorgaben, so Lott. Kirchners „Figuren werden mit großer Bewegung auf das Blatt gelegt, womit eine Natürlichkeit erzeugt werde, die eben zum krassen Gegensatz zu den damaligen Akademievorgaben stünde und eben diesen Freigeist-Willen der jungen Menschen zum Ausdruck bringe“, so Lott.

Um sich und ihrer neuen „befreiten“ Kunst mehr Gewicht zu verleihen, proklamierten die jungen Rebellen ihren Freiheits- und Führungsanspruch sowie ihre Opposition gegenüber der akademischen Kunst durch die Gründung der „Künstlergruppe Brücke“ am 7. Juni 1905 in Dresden. „Name und Signet sollen ihren Weg zu neuen Ufern symbolisieren und zudem auf einen Satz Nietzsches zurückgehen: ‘Was groß ist am Menschen, das ist, daß er eine Brücke und kein Zweck ist‘“ (zit.n.:Dagmar Lott in Ausstellungskatolg: Ernst Ludwig Kirchner. Stationen, München 2023, S.16)

Ernst Ludwig Kirchner Frauen im Atelier 1910 /1911 © Foto Diether von Goddenthow
Ernst Ludwig Kirchner Frauen im Atelier 1910 /1911 © Foto Diether von Goddenthow

Zum  unkonventionellen Arbeiten gehört auch, dass man keine professionellen Modelle im Atelier hat, sondern das die Freundinnen und Freunde oder auch man selbst durchaus Modell ist.

Gleich in der 1. Station gibt es ganz wichtige Werke aus dieser frühen Schaffensphase Kirchners. „Und wir haben  eine Inkunabel der Kunstgeschichte, nicht nur abgebildet auf dem Katalog zur Ausstellung, sondern auch hier aus einer Privatsammlung“. Dabei handelt es sich um die Lithografie: „Dodo mit japanischen Schirm‘,“. Dodo steht für Doris Grosse, der  Lebensgefährtin Kirchners in Dresdner Zeit. Die Lithographie eine von 6 Exemplaren, die 1909 entstanden, erklärt Dr. Ulrich Luckhardt. Jedes Exemplar sei anders, da Kirchner diese Farbtinktur von einem einzigen Stein (Tuffstein) gemacht habe. Bei diesem Exemplar zeige sich die Farbigkeit besonders schön.

Ein Unikat „Dodo mit japanischen Schirm", 1909, eine farblich besonders gut erhaltene Lithographie , erklärt Dr. Ulrich Luckhardt, seit 10 Jahren, Leiter der Ingelheimer Tage. © Foto Diether von Goddenthow
Ein Unikat „Dodo mit japanischen Schirm“, 1909, eine farblich besonders gut erhaltene Lithographie , erklärt Dr. Ulrich Luckhardt, seit 10 Jahren, Leiter der Ingelheimer Tage. © Foto Diether von Goddenthow

Im Verlauf der Zeit verwischen Atelier- und Privatleben der jungen Künstler zusehends. Es ist ein „Schaffen aus dem Eros heraus“, so Koll, das einigen Künstlern in dieser Zeit wichtig sei, und das eben die Kunst revolutionieren soll aus dem Gefühl heraus, unter Ausschaltung der Ratio und der Ausschaltung der zivilisierten Vernunft zu schaffen. Die Libertinage des reinen Umgangs zwischen Mann und Frau spiele eine große Rolle, und die Freiheit, die man sich im Atelier eben nehme, um frei schaffen zu können. Nicht selten, so behauptete Kirchner, verschmelzen Liebes- und Schaffensakt. (Koll ebenda, S.18).

Ernst Ludwig Kirchner. Paar im Atelier 1910 © Foto Diether von Goddenthow
Ernst Ludwig Kirchner. Paar im Atelier 1910 © Foto Diether von Goddenthow

Es geht um die Unmittelbarkeit des Schaffens,  um noch einmal an eine vorzivilisierte Form des Kunstschaffens zurück zu finden. Dieses Zurückgehen zum ursprünglichen Schaffen, zum Ursprünglichen des Menschseins überhaupt, symbolisieren insbesondere auch die archaischen Artefakte mit ethnologischen Vorbildern, mit afrikanischer oder pazifischer Kunst, festgehalten in Druckgrafiken wie: „Sitzender weiblicher Akt auf geschnitzten Sessel, 1910“ und „Sam und Milly im Atelier sitzend“, 1910. Der „geschnitzte Sessel“ ist ein Hocker aus Kamerun.
Sam und Milly,  beide in Dresden in einer  Völkerschau aufgetreten,  faszinierten Kirchner in ihrer Ursprünglichkeit unglaublich. Er habe sich „von der Ursprünglichkeit dieser Weiblichkeit persönlich leiten lassen. Er hat die beiden ins Atelier eingeladen. Er hat sie gezeichnet, er hat sie gemalt, und er sie fotografiert, und sie waren über einen gewissen Zeitraum Teil seines Ateliers“, so Luckhardt. Kirchner habe immer wieder beobachtet, wie sie so ungezwungen wie nur irgend möglich, und ungekünstelt sich bewegt und verhalten haben.

2.Station: Berlin. Straßenszenen

1911 zieht es Kirchner nach Berlin. Sein Brücke-Kollege Max Pechstein war ihm schon vorangegangen, Heckel und Schmidt-Rottluff folgen nach. Dort gibt es viele neue Kunstforen, und vor allen Dingen Galeristen, auch Privatsammler, die sich für moderne Kunst interessieren. Es ist die Faszination der Großstadt, in der es Kirchner aus dem Atelier nach draußen zieht, er sich ins Getümmel schmeißt, und das unmittelbare, pulsierende Leben der Straße, die Energie dort aufsaugt.

Ernst Ludwig Kirchner Fünf Kokotten auf der Straße 1913/1914 © Foto Diether von Goddenthow
Ernst Ludwig Kirchner Fünf Kokotten auf der Straße 1913/1914 © Foto Diether von Goddenthow

„In Berlin sind die Straßen und die Modernität, die sich dort abspielt, und die Bewegung, dieser Puls der Großstadt, sein Thema“, so Lott. Kirchner entdeckt die Passanten auf den Straßen, und beobachtet, so Luckardt, dass die Passanten durchaus auf der Straße ihrer Tätigkeit nachgehen, als Kokotte, als Prostituierte, und die Männer, die als potentielle Freier diese Kokotten – wie in „Straßenszene“ (1913) festgehalten –  umschwärmen. Kirchner hält seine Eindrücke in rasch dahin geworfenen in Skizzen fest, erklärt der Kurator. Diese fast kaum lesbaren blassen Zeichnungen, insgesamt um die 11 000, seien für Kirchner Ausgangspunkt für weitere Ausarbeitungen, teilweise als  Rohrfederzeichnung , teilweise mit dem Pinsel, auch farbig und  teilweise als Druck, so Luckhardt.

In Berlin verändert Kirchner merklich seinen Stil, der jetzt kantiger, eckiger und nervöser ist, und „nicht mehr der fließende, runde, liebliche, an Jugendstil erinnernde Strich der Dresdner Zeit“, erzählt Luckhardt. Ein Highlight der Ausstellung, und absoluter Höhepunkt in Kirchners Werk ist der seltene Druck „Fünf Kokotten auf der Straße“ (1913/1914). Kirchner sei es exzellent geglückt, diese Nervosität eins zu eins umzusetzen bei seiner direkten Zeichnung auf Stein. Seine Berliner Straßenszenen (1913/1914) zeigen zudem das Denken, das Kirchners Freund Alfred Döblin später in seinem Roman „Berlin Alexanderplatz“ festhält.

  1. Station: Fehmarn. Einheit von Mensch und Natur
Kuratorin Dagmar Lott im Hintergrund Ernst Ludwig Kirchner "Badende Frauen zwischen weißen Steinen"1912- Diese Badebilder entstanden praktisch alle auf der Insel Fehmarn. © Foto Diether von Goddenthow
Kuratorin Dagmar Lott im Hintergrund Ernst Ludwig Kirchner „Badende Frauen zwischen weißen Steinen“1912- Diese Badebilder entstanden praktisch alle auf der Insel Fehmarn. © Foto Diether von Goddenthow

Parallel zum pulsierenden Berliner Leben entflieht Kirchner immer wieder mit Lebensgefährtin Erna dieser Großstadt jeweils für mehrere Wochen im Sommer  auf die Insel Fehmarn. Es ist eine Flucht aus diesem Getümmel der Zivilisation, und ein sich erden, das hier wieder stattfindet. Beide Pole bedient Kirchner in dieser Zeit. Fehmarn sei so etwas wie Kirchners Südsee gewesen, erzählt Luckhardt. Während seine Brücke-Kollegen Max Pechstein, Paul Gauguin oder Emil Nolde in die Südsee reisen, reicht ihm der Südosten Fehmarns, um  Formen von Ursprünglichkeit wieder zu erleben. Auf dem touristisch weitgehend noch unerschlossenen Inselteil eröffnen sich ihm immer wieder Momente der ersehnten Einheit von Mensch und Natur, die miteinander verschmelzen. „Kirchner nutzt nahezu jede Gelegenheit, um seine Freundin zu zeichnen oder zu malen, zumeist unbekleidet, am Strand, im Wasser, allein oder mit anderen. (…)  Es sind die Tage der Fehmarn-Aufenthalte, die zu einer Veränderung der Beziehung zu Erna, aber offensichtlich auch in seiner künstlerischen Einstellung führten.“ (Koll ebenda, S.21/22)  Auf Fehmarn „nähert Kirschner sich der Landschaft, der Vegetation, den Alleen, den Bäumen, die er ebenso, ja fast mit ekstatischen Strichen zu Kompositionen zeichnet, die er dann auch ähnlich ekstatisch in Holzschnitt umsetzt“, erklärt  Luckhardt. Das raue Wetter und das Treiben der Badenden inspirieren Kirchner  zu einer großen Anzahl von Zeichnungen und Druckgrafiken, die zum wichtigsten Teil seines gesamten Schaffens zählen, und beispielhaft in der Ausstellung gezeigt werden.. Kirchner hat auf Fehmarn auch viel fotografiert, einige Aufnahmen sind im Ausstellungs- Katalog abgedruckt.

  1. Station: Krise
Ernst Ludwig Kirchner als Rekrut bei der Kavallerie. Kriegs- und Todesangst waren Auslöser seiner Krise. © Foto Diether von Goddenthow
Ernst Ludwig Kirchner als Rekrut bei der Kavallerie. Kriegs- und Todesangst waren Auslöser seiner Krise. © Foto Diether von Goddenthow

Mit Ausbruch des Ersten Welt-Krieges 1914 endet abrupt Kirchners Ostsee-Idylle, da Fehmarn zur Militärzone erklärt wird, so dass das Künstlerpaar die Insel verlassen muss.  Hierdurch gerät er in eine schwere psychisches Krise. Der Einfluss der Krise auf Kirchners Schaffen ist Thema von Station 4.  Kirchner, zunächst eher überrascht vom Kriegsausbruch, entwickelt zunehmend extreme Ängste, als Soldat eingezogen und im Krieg getötet zu werden. Er meldet sich jedoch  freiwillig zum Kriegsdienst, weil er  hofft, damit  die Waffengattung selbst auswählen zu können, vielleicht Sanitäter oder Kriegsmaler oder irgend so etwas werden zu können, um vom direkten Fronteinsatz verschont zu bleiben. Stattdessen aber landet Kirchner bei der berittenen Kavallerie. Die kurze Militärzeit wird für ihn ein Martyrium, welches er mit Morphium ähnlichen Schlafmitteln (Veronal) und Alkohol (Absinth) zu betäuben versucht. Infolge dessen entwickelt er eine Psychose. Für den Militärdienst inzwischen völlig unbrauchbar, wird er vom Dienst befreit und nacheinander in verschiedene Sanatorien eingeliefert. Diese bieten ihm erst mal einen Schutzraum.

Ernst Kirchner Kopf eines Kranken Selbstbildnis eines Kranken. Grauenhaft! © Foto Diether von Goddenthow
Ernst Kirchner Kopf eines Kranken Selbstbildnis eines Kranken. Grauenhaft! © Foto Diether von Goddenthow

Innerhalb seines  künstlerischen Schaffens stellt diese Phase der Krise eine Zäsur dar. Als Patient von Sanatorien in Königstein im Taunus, in Berlin Charlottenburg und zuletzt in  Kreuzlingen am Bodensee, dokumentiert der Künstler mit eindringlichen Selbstbildnissen seine desolate innere Verfassung. Im Holzschnitt „Kopf des Kranken. Selbstbildnis als Kranker“ (1917) wird sein „Ausnahmezustand“ dargestellt durch anatomisch verdrehte, tiefkerbige und als Holzringe gezeichnete Gesichtszüge.  Seine verkrampften Hände  deuten auf Lähmungen hin, unter denen er litt.

Was  Kirchner aber auszeichne, sei, so Luckhardt, seine Klarheit im Kopf. Kirchner habe in dieser Zeit sogar einen farbigen Holzschnitt-Zyklus zu »Peter Schlemihls wundersame Geschichte« des romantischen Dichters Adelbert von Chamisso gefertigt. Kirchner gab Peter Schlemihl, mit dem er sich identifiziert, sein Gesicht. Die Geschichte: Schlemihl verkauft  an graue Männchen seinen Schatten, entledigt sich hierdurch seiner  Persönlichkeit, wird zu einem Niemand, ungeliebt und einsam.

Titelblatt zu Schlemihls wundersamer Geschichte, Holzschnitt, 1915 © Foto Diether von Goddenthow
Titelblatt zu Schlemihls wundersamer Geschichte, Holzschnitt, 1915 © Foto Diether von Goddenthow

All diese Stationen „Der Verkauf des Schattens“, „Die Geliebte“, „Kämpfe“ (Qual der Liebe)“, „Schlemihl mit der Einsamkeit des Zimmers“ usw.  illustriert Kirchner mittels farbiger Drucke. Nur die letzte Episode, die positive Wendung in Peter Schlemihls Leben, als dieser seinen Schatten und damit sein Leben wieder zurück erhält, lässt er aus. Kirchner  interpretiert die Geschichte aus seinem schlimmen Zustand heraus, in dem eine gute Fügung nicht vorkommt. Für Kirchner gibt es also keine Erlösung wie für Schlemihl.

Ernst Ludwig Kirchner. Selbstbildnis im Morphiumrausch, 1917. Tusche. © Foto Diether von Goddenthow
Ernst Ludwig Kirchner. Selbstbildnis im Morphiumrausch, 1917. Tusche. © Foto Diether von Goddenthow

Von seiner ausweglos empfundenen Verzweiflung zeugen all seine schrecklichen Selbstporträts, etwa -„Selbstbildnis im Morphiumrausch“ oder „Selbstbildnis im Tanz mit dem Tod“. (1917). „Das sind unglaubliche Zeugnisse einer Selbstwahrnehmung als Kranker und als ein Leidender und als ein Gefährdeter“, so Luckhardt.Übrigens reihte sich Kirchner  mit seinen Selbstbildnissen ein in eine Galerie berühmter „Einzelgänger“,  die er in den Sanatorien in Königsstein und Kreuzlingen porträtierte. Darunter waren der Architekt Henry van de Velde, der Komponist Otto Klemperer, der Schriftsteller Carl Sternheim und die Psychiater Ludwig Biswanger und Oskar Kohnstamm.

  1. Station: Davos. Die neue Lebenswelt
Ernst Ludwig Kirchner. Stafelalp. Gesamtansicht-Alpaufzug, 1918. Dass Kirchner ausgerechnet die Stafelalp für seine Erholung wählte, lag an dem Umstand, der er hierauf mit Pferdefuhrwerken gelangte, da er für einen Fußmarsch dorthin  zu schwach und gelähmt war. © Foto Diether von Goddenthow
Ernst Ludwig Kirchner. Stafelalp. Gesamtansicht-Alpaufzug, 1918. Dass Kirchner ausgerechnet die Stafelalp für seine Erholung wählte, lag an dem Umstand, der er hierauf mit Pferdefuhrwerken gelangte, da er für einen Fußmarsch dorthin zu schwach und gelähmt war. © Foto Diether von Goddenthow

Erst in der Schweizer Bergwelt, ab 1917 auf der Stafelalp nahe Davos-Frauenkirch, findet Kirchner, zeitweise an Händen und Beinen gelähmt, nach längeren Aufenthalten Ruhe und neue Inspiration. Vorgesehen für einen längeren Aufenthalt mietet er mit seiner Lebensgefährtin Erna Schilling im  September 1918 in der Hofgruppe „In den Lärchen“ ein Haus. Zunächst an Armen und Beinen gelähmt, beobachtet er, umgeben von der mächtigen Bergwelt, das einfache Leben seiner Nachbarn. Überwältigt von der Mächtigkeit der Natur, fernab vom Kunstgeschehen, entstehen hier monumentale Gebirgslandschaften und weitere zahlreiche Bilder vom Leben der Menschen und ihrer Tiere. Kirchners Stil beruhigt sich, und er findet zu einer neuen Farbigkeit. 1920 kann seine Lebensgefährtin Anna Schilling sein Atelier in Deutschland auflösen und nach Davos-Frauenkirch umziehen mit Druckpresse, Werkarchiv, exotischen Einrichtungsgegenständen.

Die Heilkraft der Bergwelt – Kirchners neue Schaffensphase

Ernst Ludwig Kirchner Wintermondnacht (Langmatte bei Monduntergang), 1919. Farbholzschnitt. © Foto Diether von Goddenthow
Ernst Ludwig Kirchner Wintermondnacht (Langmatte bei Monduntergang), 1919. Farbholzschnitt. © Foto Diether von Goddenthow

Mit der  Übersiedlung in diese völlig andere, ihn jetzt umgebende  Hochgebirgs-Umgebung „findet Kirchner zu neuer Schaffenskraft und einer Motivik, die sein Naturerlebnis und die Beziehung zu den Einheimischen ins Zentrum rücken, die das Naturerlebnis und die ihn umgebenden Menschen miteinander verbindet“, so Luckhardt.

In Station 5 der Ausstellung werden wichtige Schlüsselwerke wie „Drei Wege, Stafelalp“ (2017), „Winternacht“ (1919), „Wettertannen“ (1919) u.ä. aus den frühen Jahren  Kirchners  in Davos gezeigt, „wo er als kranker Mann hinkommt, und dann aber doch noch ein eigenständiges Spätwerk entwickelt. Auch diese Schaffensphase ist geprägt von der Suche nach dem Ursprünglichen, nach dem Einklang von Mensch und Natur. Auch  in Davos ist es  wieder die Vegetation, aber dieses Mal sind es die Bergwälder, die Bauern, ihre Tiere und die Farbwelten, die er in Zeichnungen, Holzschnitten und Drucken festhält“, so Luckhardt.

Dr. Ulrich Luckhardt zeigt auf die kleinen Menschen unter dem großen Dach der  "Wettertannen", 1919 als Symbol für die Verschmelzung von Mensch und Natur. © Foto Diether von Goddenthow
Dr. Ulrich Luckhardt zeigt auf die kleinen Menschen unter dem großen Dach der „Wettertannen“, 1919 als Symbol für die Verschmelzung von Mensch und Natur. © Foto Diether von Goddenthow

„Er beobachtet nicht nur, sondern solche Situationen wie sie hier im Holzschnitt und in der Zeichnung zu sehen sind, zeigt, dass es eine Welt ist, die ihn berührt, die ihn zum Schaffen bringt. Wie es im Atelier der Eros war, ist es jetzt das Naturerlebnis, die Größe, die Erhabenheit der Natur, die ihn zum Schaffen bringt“, ist auch für Dagmar Koll ein Phänomen. Es erscheint fast wie ein Wunder, bedenkt man, dass dieser Mann 2017 zum Teil so gelähmt war, dass er nicht mehr  laufen konnte.

Gefühle von Ausweglosigkeit  treiben Kirchner in den Selbstmord

Aber es nimmt dennoch mit ihm alles ein trauriges, und ein zu frühes Ende. Denn Kirchner beobachtet natürlich seit 1933 die politischen Vorgänge in Deutschland. Er kann es nicht fassen, dass er nun nicht mehr ein wichtiger, sondern ein sogenannter entarteter Künstler ist, dessen Werke aus Museen entfernt und einige davon auf sogenannten Schauen „entarteter Kunst“ präsentiert wurden. Seine Ängste kumulieren , insbesondere als 1938  Gerüchte umgehen, dass die Deutschen nach dem sogenannten Anschluss Österreichs eventuell auch in die Schweiz einmarschieren. Hier wäre es also dann auch nicht mehr sicher. Kirchner gerät in Panik,  greift wieder zu Alkohol, wieder zu Morphium-ähnlichen Medikamenten, und er verfällt wieder in eine Art Psychose, die ihn schließlich in den Selbstmord treibt. Seine Ängste sind  nachvollziehbar, wenn man weiß, dass das Zentrum einer kleinen nationalsozialistischen Bewegung in der Schweiz ganz in seiner Nähe von Davos war. Aus Sorge, auch sie könne Opfer werden, hatte Kirchner versucht,  seine Lebensgefährtin Erna zum Selbstmord als bessere Alternativ zu überreden. Das lehnte diese jedoch ab. Kirchner erschoss sich am 15. Juni 1938 vor seinem Haus und wird auf dem Davoser Waldfriedhof beigesetzt.

„Es ist eine Situation der Ausweglosigkeit, das haben wir versucht, auch im Katalog darzustellen, Kirchner hat deswegen so viele Stationen immer wieder ausprobiert, um sich selbst künstlerisch weiterzuentwickeln, aber natürlich auch mit der Sehnsucht, ein bedeutender deutscher Künstler zu sein. Er ist immer wieder  an Orte gegangen, wo er sein Potential entwickeln konnte, und an diesem Punkt 1938 in Davos sah er keinen Ausweg mehr. Also es war kein selbstdestruktiver Akt, sondern es war diese Situation: Keine weitere Station mehr vor sich zu haben.“, analysiert  Koll  seine Beweggründe. In dieser letzten Phase werden seine Zeichnungen und Drucke wieder düsterer.

Mit der Ausstellung „Ernst Ludwig Kirchner. Stationen“ verabschiedet sich Dr. Ulrich Luckhardt nach über 10 Jahren von den Internationalen Tagen in den Ruhestand. Seine Nachfolge mit der Leitung wird zum 1. Juli 2023 Dr. Katharina Henkel übernehmen, die bereits Anfang dieses Jahres ihre Tätigkeit offiziell aufgenommen hat.

(Diether von Goddenthow /Rhein-Main.Eurokunst)

kunstforum-ingelheim-(c)-diether-von-goddenthowErnst Ludwig Kirchner. Stationen
30. April bis 9. Juli 2023
Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus
François-Lachenal-Platz 1,
55218 Ingelheim am Rhein

Öffnungszeiten
Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag
11.00 bis 18.30 Uhr

Samstag, Sonntag und Feiertag
11.00 bis 18.00 Uhr

Montag geschlossen
(außer an Feiertagen)

Internationale Tage Ingelheim

Katalog
katalog-Cover-Ernst-ludwig-krichner-stationen-2023Diesen Katalog sollte man unbedingt zur Ausstellung dazu nehmen, um weitere Hintergrundinformationen über Ernst Ludwig Kirchners Schaffen und Leben zu erfahren, und in der Ausstellung Gesehenes nochmal nachlesen und vertiefen zu können. Oder: Man liest vorher darin, und geht dann durch die Ausstellung.

Der Katalog kann praktisch wie ein Ausstellungsführer verwendet werden. Mit über 90 zumeist farbigen Zeichnungen, Aquarellen, Druckgrafik und Gemälden von Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) werden Einblicke in die wichtigsten Werkgruppen und Lebensetappen eines der bedeutendsten und einflussreichsten Künstler in Deutschland gewährt. Darunter: Atelierbilder, Straßenszenen, Badende, Selbstporträts und bäuerlich geprägte Bergwelt.
Gut verständliche Texte in komprimierter Form gehen dabei Fragen nach, wie sich Kirchners Lebensstationen, geographische Veränderungen und neue Motivgruppen in seinem Werk niederschlagen? Der reich bebilderte Band veranschaulicht den engen Zusammenhang von Orts- und Themenwechsel in seinem Oeuvre: Dresden als Impuls der Freiheit für die künstlerische Entwicklung des jungen Kirchner und Berlin als Inspiration für seine berühmten Straßenszenen, Fehmarn als Idylle einer Sehnsucht nach Einheit von Mensch und Natur, der erste Weltkrieg als Phase von Krise und Sanatoriumsaufenthalten und schließlich Davos als neue Lebenswelt.

Ernst Ludwig Kirchner. Stationen. Hg. Ulrich Luckhardt mit Beiträgen von M. Hoffmann, D. Lott, U. Luckhardt, K. Müller, T. Röske, A. Soika

176 Seiten, 100 Abbildungen in Farbe
21 x 27 cm, gebunden
erschienen im Hirmer-Verlag München,
34,90 Euro
ISBN: 978-3-7774-4198-6

Internationale Tage Ingelheim 30. April bis 9. Juli 2023 – Ernst Ludwig Kirchner. Stationen

Ernst Ludwig Kirchner Strand auf Fehmarn, 1912 Aquarell über Bleistift 45,9 x 58,5 cm Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett
Ernst Ludwig Kirchner Strand auf Fehmarn, 1912 Aquarell über Bleistift 45,9 x 58,5 cm Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett

Erstmals wird das künstlerische Schaffen von Ernst Ludwig Kirchner (1880 – 1938) im Rahmen einer monografischen Ausstellung im Rahmen der Internationalen Tage in Ingelheim präsentiert. Mit über 90 Werken – Zeichnungen, Aquarellen, Druckgrafik und einigen beispielhaften Gemälden – werden Einblicke in die wichtigsten Stationen eines der bedeutendsten und einflussreichsten Künstler in Deutschland gewährt.

Angepasst an die Ausstellungsfläche des Kunstforums Ingelheim –Altes Rathaus – sieht das Konzept der Kuratoren Dr. Ulrich Luckhardt und Dagmar Lott M.A. eine auf fünf Räume präzise zugeschnittene Auswahl an Werken vor, die einen Einblick in das Schaffen Kirchners ermöglicht. Jeder der Ausstellungsräume veranschaulicht eine »Station« im Leben und im künstlerischen Wirken des Künstlers. Ausgewählt wurden Motivgruppen, denen sich Kirchner in der jeweiligen Entstehungszeit besonders intensiv widmete und die seine thematische wie stilistische Entwicklung exemplarisch verdeutlichen.

1. Station: Dresden. Das Atelier als Ort der Freiheit
Für den jungen Künstler, der in Dresden Architektur studierte, ist es zunächst das Atelier, das ihm als Ort der Freiheit Raum für ein ungezwungenes Leben und künstlerisches Schaffen bot. Weibliche und männliche Modelle, die sich freizügig im Atelier Kirchners bewegen und zeichnen lassen, stehen im Zentrum der Jahre 1908 bis 1910. Eine wichtige Rolle zwischen den kleinen, intimen Darstellungen und den Gemälden spielen dabei großformatige Zeichnungen und Holzschnitte, mit denen Kirchner bildmäßige Kompositionen schafft.

2. Station: Berlin. Straßenszenen
Bereits vor seinem Umzug nach Berlin 1913 verändert sich Kirchners Stil, weg von der fließenden Linie hin zu einer kantigeren Bildsprache. Diese kommt ihm bei den Berliner Straßenszenen entgegen, in denen er auf ungewöhnliche Weise die Beziehungen zwischen Kokotten und ihren Freiern beobachtet.

3. Station: Fehmarn. Einheit von Mensch und Natur
Der Großstadt entfliehend, findet Kirchner seit 1912 eine quasi exotische Idylle auf der Ostseeinsel Fehmarn, wo er seine Vorstellungen von der Einheit von Mensch und Natur verwirklicht sieht. Das manchmal raue Wetter und das Treiben der Badenden inspirieren Kirchner zu einer großen Anzahl von Zeichnungen und Druckgrafiken, die zum wichtigsten Teil seines gesamten Schaffens zählen.

4. Station: Krise
Eingezogen als Soldat im Ersten Weltkrieg stürzt Kirchner in eine schwere psychische Krise, die eine Zäsur in seiner Kunst darstellt. Als Patient der Sanatorien in Königstein und Kreuzlingen dokumentiert der Künstler mit eindringlichen Selbstbildnissen seine desolate innere Verfassung. Symbolhaft dafür ist auch die Folge der farbigen Holzschnitte zu Adalbert von Chamissos „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ zu sehen.

5. Station: Davos. Die neue Lebenswelt
Mit dem ersten Aufenthalt im schweizerischen Davos im Sommer 1917 verändert sich Kirchners Situation grundlegend. Zur Erholung verbringt er einige Wochen auf der hochgelegenen Stafelalp, umgeben von der monumentalen Bergwelt und den Bauern, die sich als Nachbarn um den Künstler kümmern. Mit der endgültigen Übersiedlung in die Umgebung von Davos im folgenden Jahr findet Kirchner zu neuer Schaffenskraft und einer Motivik, die sein Naturerlebnis und die Beziehung zu den Einheimischen ins Zentrum rückt.

Das Ziel der Ingelheimer Ausstellung „Ernst Ludwig Kirchner. Stationen“ ist es, die fünf wichtigen Abschnitte in Kirchners künstlerischem Werk und Leben mit prägnanten Beispielen von höchster Qualität zu präsentieren. Die Schau umfasst über 90 Werke, die aus öffentlichen wie privaten Sammlungen in Deutschland und der Schweiz als Leihgaben zur Verfügung gestellt werden.

Im Frühjahr 2023 erscheint im HIRMER Verlag ein umfangreicher Katalog, in dem alle ausgestellten Werke farbig reproduziert sind.

Ernst Ludwig Kirchner. Stationen
30. April bis 9. Juli 2023
Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus
François-Lachenal-Platz 1, 55218 Ingelheim am Rhein

Internationale Tage Ingelheim präsentieren ab 1.Mai 2022 Meisterblätter von Edvard Munch

Meisterblätter von Edvard Munch in Ingelheim Die Ausstellung der Internationalen Tage widmet sich 2022 dem norwegischen Künstler Edvard Munch. Der 1863 geborene Künstler entwickelt sich schnell zu einem der bedeutendsten und einflussreichsten Maler und Grafiker der frühen Moderne in Europa. © Foto Diether v. Goddenthow
Meisterblätter von Edvard Munch in Ingelheim Die Ausstellung der Internationalen Tage widmet sich 2022 dem norwegischen Künstler Edvard Munch. Der 1863 geborene Künstler entwickelt sich schnell zu einem der bedeutendsten und einflussreichsten Maler und Grafiker der frühen Moderne in Europa. © Foto Diether v. Goddenthow

Nach Käthe Kollwitz im vergangenen Jahr, präsentieren die Ingelheimer Tage mit Meisterblättern des norwegischen Künstlers Edvard Munch vom 1. Mai bis 10.Juli 2022 wieder herausragende künstlerische Positionen, die in diesem Umfang in Ingelheim noch nie zu sehen waren. Der 1863 geborene Künstler entwickelt sich schnell zu einem der bedeutendsten und einflussreichsten Maler und Grafiker der frühen Moderne in Europa.

Mit der Ausstellung „Edvard Munch. Meisterblätter“ greifen die Internationalen Tage zwei Schwerpunkte auf, die auch in den vergangenen Jahrzehnten für die Ausstellungen in Ingelheim prägend waren, so Kurator Dr. Ulrich Luckhardt. Zum einen würde einer der international bekanntesten Künstler um die Wende des 19. Zum 20. Jahrhundert gezeigt, zum anderen, greife auch die diesjährige Ausstellung wieder das künstlerische Medium der Druckgrafik auf. Dieses künstlerisches Medium habe auch in der Vergangenheit immer wieder eine zentrale Rolle bei hier gezeigten internationalen Künstlern gespielt, etwa bei Picasso, Miro, Dürer, Rembrandt, Goya, und im letzten Jahr bei Käthe Kollwitz.
Bei den von Munchs präsentieren Druckgrafiken handele es sich beispielsweise um Radierung, Lithografie, Holzschnitte und als Besonderheit um eine Hektografie, um einen sogenannten Matrizendruck, was sehr ungewöhnlich sei, so Dr. Luckhardt.

Edvard Munch
Nach einem kurzen Kunststudium in Christiania (heute Oslo) zieht es Edvard Munch 1889 erstmals nach Paris, wo er sich mit dem Symbolismus des ausgehenden Jahrhunderts auseinandersetzt. Persönliche Schicksalsschläge wie der frühe Tod der Mutter und einer Schwester, aber auch unglückliche Beziehungen zu Frauen, prägen schon früh Munchs künstlerisches Werk. So ist die Beziehung der Geschlechter mit den Facetten von Glück und Angst, Erwartung und Sehnsucht Grundthema seiner Kunst, die sich nach der Wende zum 20. Jahrhundert mehr und mehr vom Symbolismus löst. Munch entwickelt nun eine eigene psychologische Bildsprache zwischen tief empfundener Melancholie, Einsamkeit und Todesangst. Als diese Werke erstmals 1892 in Deutschland im Verein Berliner Künstler in Berlin ausgestellt werden, lösen sie einen Skandal aus, der zur Schließung dieser Ausstellung führt.
Gefeiert von der jungen Generation von Künstlern, Literaten und Intellektuellen begründet sich so Munchs großer Einfluss nicht nur auf die bildende Kunst in Deutschland.
Neben der Malerei entsteht seit 1894 weitgehend autodidaktisch ein sehr umfangreiches druckgrafisches Werk, das die Themen der Gemälde aufnimmt. In ihrer technischen Perfektion und den einzigartigen Experimenten, unterschiedliche Druckverfahren miteinander zu kombinieren, wird Munchs druckgrafisches Werk zu einem künstlerischen Höhepunkt in diesem Genre.

Selbsterkundung und Führungen mit Frühstück bzw. Kaffee u Kuchen
Die zirka 90 oftmals farbigen Druckgrafiken geben einen profunden Überblick über das Werk von Edvard Munch. Dabei habe man jedoch die Werke nicht wie bei einer Retrospektive chronologisch, sondern nach Themenschwerpunkten gehängt, angepasst an die Räumlichkeiten im Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus. Hierdurch gewinnt die Ausstellung eine enorme Klarheit und Besucher können sich, beginnend mit Raum 1, im Untergeschoss, systematisch bis Raum 5, im 2 Obergeschoss, durch Munchs Werke „arbeiten“. Am besten sei, so Dr. Luckhardt, dies jeweils im Uhrzeigersinn zu tun. Saaltexte in jedem Raum geben eine kleine Einführung zu den jeweiligen Werken.

Themenschwerpunkte

Ausstellungs-Impression : Meisterblätter von Edvard Munch in Ingelheim vom 1.05. bis 10.7.2022. Vorne "Mädchen auf der Brücke", 1920, Holzschnitt und farbige Lithografie, Sammlung E.W.K., Bern. © Foto Diether v. Goddenthow
Ausstellungs-Impression : Meisterblätter von Edvard Munch in Ingelheim vom 1.05. bis 10.7.2022. Vorne „Mädchen auf der Brücke“, 1920, Holzschnitt und farbige Lithografie, Sammlung E.W.K., Bern. © Foto Diether v. Goddenthow

Anziehung und Loslösung
Beginnend mit dem Geschlechterverhältnis von Mann und Frau, von Männerfantasien über die Annäherung und die innige Liebe bis hin zu Eifersucht und Loslösung und Trennung durch gemeinsamen Tod, wird hier ein Bogen des Lebens visualisiert.

Selbst und Freunde
Zusammen mit den Selbstporträts zeugen die Bildnisse der Literaten wie Henrik Ibsen und August Strindberg oder des Komponisten Frederick DeLus Munchs enge Verbindungen in andere künstlerische Bereiche.

Melancholie und Einsamkeit
Einen weiteren Schwerpunkt bilden Melancholie und Einsamkeit von Menschen, sowohl in Innenräumen wie vor der offenen Meereslandschaft, wobei diese zum tiefgründigen Ausdruck der menschlichen Seele werden.
Das Schwermütige spiele ja in Skandinavien in der Kunst eine sehr große Rolle, so Dr. Luckhardt, und insbesondere auch bei Munch, der ja selber psychisch sehr labil war und nach einem psychischen Zusammenbruch in den Jahren 1908 /1909 für 8 Monate in einer Kopenhagener Nervenklinik weilte. Diese Schwermütigkeit zeichne sich besonders in Darstellungen der Figuren am Meer aus,  einsame Figuren, auch Rückenfiguren, deren Gesicht man nicht sieht. Das sei natürlich alles vor dem Hintergrund zu sehen, dass zu Munchs Zeit die Psychoanalyse entwickelt wurde. Und gerade die nordischen Künstler haben sich damit sehr auseinandergesetzt. Sie haben diese neue Dimension der Menschheit versucht darzustellen, oder im Werk aufwühlen zu lassen, so der Kurator bei der Presseführung.

Erinnerung
Erinnerung meint hier insbesondere das Erinnern an traumatische Lebenssituationen. Vorangestellt wird auf der Texttafel ein Zitat, in dem Munch die Situation beschreibt, in der ihm das Motiv „Der Schrei“ erscheint, was er dann in Gemälden und in der jetzt in Ingelheim gezeigten Lithographie künstlerisch ausgearbeitet hat. Aber auch Ängste spielen bei diesen  Motiven eine große Rolle. Der Schrei resultiere ja im Endeffekt aus einer Angst, so der Kurator. Ebenso haben Munch persönliche Erinnerungen besonders geprägt wie der frühe Tod seiner Mutter oder der frühe Tod einer seiner Schwestern. Munch verarbeitet dies unter anderem in einer Motivgruppe „Das Kranke Kind“.

Liebe, Schmerz, Tod
In der letzten Station im großen, ehemaligen Ratssaal, geht es erneut  um das „Verhältnis der Geschlechter“, diesmal jedoch um die „Rolle“ der Frau als ein für Männer bedrohliches Wesen. Er stellt sie da, etwa als  Salome, im „Gewand“ einer Geigerin mit einem fast skeletthaften, ausgemergelten Kopf. Oder als „Harpye“ , die auch eine Todesgefahr für das männliche Geschlecht signalisiere. Oder „seine“ Frau mit roten Haaren und grünen Augen, der Munch den Titel die „Sünde“ gegeben hat. Besonders nachdrücklich der Titel „Vampyr“: eine über einen Mann gebeugte Frau, die den Mann aussaugt, ihn tötet. Allerdings, so Dr. Luckhardt, könne dieses Werk auch anders interpretiert werden, etwa als eine intime zärtliche Umarmung. Eindeutigkeit gäbe es bei Munch bewusst nicht.

Der schöpferische Akt
Die Ausstellung endet sozusagen als Essenz seines Werkes mit drei Blättern: Im Holzschnitt „Die Blume des Schmerzes“ ragt eine männliche Figur aus dem Boden heraus, aus seinem Herz quillt ein Blutstrom, welcher eine Blume nährt und diese zum Erblühen bringt, sozusagen als Symbol für den Kreislauf des Lebens. Im zweiten Druck  erneut ein Motiv mit einer  Harpyie, einem antiken Zwitterwesen, einem Vogelwesen, was einen weiblichen Körper hat. Die Vogelfrau tötet Männer und wird bei Munch zur Metapher für die Kunst über das Leben des Künstlers hinaus. Das dritte Werk, eine Lithografie einer vertikal aufgerichteten „Urne“, aus der unten ein junges Frauengesicht herausschaut, ist ein geflügeltes Wesen „voller Trauer und Schönheit“. Es symbolisiert die Erneuerung, das Neuerstehen aus dem Abgelebten. So erklärt Munch einen Aspekt zum Wesen der modernen Kunst: ihre ständige Erneuerung.

Besuch und Führungen

Neben Selbsterkundung gibt es auch ein großes Angebot an originellen  Führungen:  etwa „Frühstück & Kunst“ (18 Euro inklusive Frühstück), „Kaffeezeit & Kunst“ (18,- Euro inklusiv Kaffee u. Kuchen) oder die an drei Terminen die Kuratoren-Führung mit Dr. Ulrich Luckhardt. Zudem gibt es gesonderte Angebote für Schulklassen, sowie Workshops für Kinder und am 10. Juni von 19 bis 24 Uhr die Nacht der Kunst rund um den Francois-Lachenal-Platz.
https://www.internationale-tage.de/fuehrungen/

Öffnungszeiten:
Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag
11.00 bis 18.30 Uhr

Samstag, Sonntag und Feiertag
11.00 bis 18.00 Uhr

Montag geschlossen
(außer an Feiertagen)

Eintritt
7,- Euro Tageskarte (ausschließlich am Tag des Besuchs an der Museumskasse erhältlich, eine Reservierung vorab ist nicht notwendig)
5,- Euro ermäßigt
(Schüler ab 17 Jahre, Studenten, Auszubildende, Behinderte)
Kinder und Jugendliche bis 16 Jahre frei

Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus
François-Lachenal-Platz 1
55218 Ingelheim am Rhein
(Stadtteil Nieder-Ingelheim)

 

Katalog

It_Katalog_2022_01-250Gefeiert von der jungen Generation von Künstlern, Literaten und Intellektuellen begründet sich Munchs großer Einfluss auf die Kunst unter anderem in Deutschland. Sein umfangreiches druckgrafisches Werk bildet in technischer Perfektion und der einzigartigen Kombination unterschiedlicher Druckverfahren einen künstlerischen Höhepunkt dieser Gattung. Der Band stellt beliebte Themen seines Schaffens anhand herausragender Arbeiten vor. Die exzellenten Abbildungen erläutert ein fundierter Text von Uwe M. Schneede.
Edvard Munch. Meisterblätter
Herausgegeben von Ulrich Luckhardt mit Texten von Uwe M. Schneede
160 Seiten, 100 Abbildungen in Farbe
21 x 27 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-3984-6
29,90 €

Die Ausstellung der Internationalen Tage Ingelheim präsentiert Meisterblätter von Edvard Munch – 1. Mai bis 10. Juli 2022

Edvard Munch: Vampyr II, 1895-1902 Farbige Lithographie und farbiger Holzschnitt Sammlung E.W.K., Bern
Edvard Munch: Vampyr II, 1895-1902 Farbige Lithographie und farbiger Holzschnitt Sammlung E.W.K., Bern

Die Ausstellung der Internationalen Tage widmet sich 2022 dem norwegischen Künstler Edvard Munch. Der 1863 geborene Künstler entwickelt sich schnell zu einem der bedeutendsten und einflussreichsten Maler und Grafiker der frühen Moderne in Europa.

Nach einem kurzen Kunststudium in Christiania (heute Oslo) zieht es Edvard Munch 1889 erstmals nach Paris, wo er sich mit dem Symbolismus des ausgehenden Jahrhunderts auseinandersetzt. Persönliche Schicksalsschläge wie der frühe Tod der Mutter und einer Schwester, aber auch unglückliche Beziehungen zu Frauen, prägen schon früh Munchs künstlerisches Werk. So ist die Beziehung der Geschlechter mit den Facetten von Glück und Angst, Erwartung und Sehnsucht Grundthema seiner Kunst, die sich nach der Wende zum 20. Jahrhundert mehr und mehr vom Symbolismus löst. Munch entwickelt nun eine eigene psychologische Bildsprache zwischen tief empfundener Melancholie, Einsamkeit und Todesangst. Als diese Werke erstmals 1892 in Deutschland im Verein Berliner Künstler in Berlin ausgestellt werden, lösen sie einen Skandal aus, der zur Schließung dieser Ausstellung führt.

Gefeiert von der jungen Generation von Künstlern, Literaten und Intellektuellen begründet sich so Munchs großer Einfluss nicht nur auf die bildende Kunst in Deutschland.

Neben der Malerei entsteht seit 1894 weitgehend autodidaktisch ein sehr umfangreiches druckgrafisches Werk, das die Themen der Gemälde aufnimmt. In ihrer technischen Perfektion und den einzigartigen Experimenten, unterschiedliche Druckverfahren miteinander zu kombinieren, wird Munchs druckgrafisches Werk zu einem künstlerischen Höhepunkt in diesem Genre.

Anhand von ca. 90 oftmals farbigen Werken – Radierungen, Lithografien, Holzschnitte und Hektografien – zeigt die Ausstellung einen Überblick über das Werk von Edvard Munch. Auf die Räumlichkeiten im Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus zugeschnitten, entstehen fünf motivisch bzw. thematisch ausgerichtete Räume.

Edvard Munch: „Kopf bei Kopf“ (Mann und Weib sich küssend), 1905 Farbholzschnitt Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen
Edvard Munch: „Kopf bei Kopf“ (Mann und Weib sich küssend), 1905 Farbholzschnitt Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen

Beginnend mit dem Geschlechterverhältnis von Mann und Frau, von Männerfantasien über die Annäherung und die innige Liebe bis hin zu Trennung und dem gemeinsamen Tod, wird hier ein Bogen des Lebens visualisiert. Zusammen mit den Selbstporträts zeugen die Bildnisse der Literaten wie Henrik Ibsen und August Strindberg oder des Komponisten Frederick Delius Munchs enge Verbindungen in andere künstlerische Bereiche. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Melancholie und Einsamkeit von Menschen, sowohl in Innenräumen wie vor der offenen Meereslandschaft, wobei diese zum tiefgründigen Ausdruck der menschlichen Seele werden. Das Seelenleben ist auch zentrales Thema in den Werken, die sich mit Angst, Krankheit und Tod auseinandersetzen, wobei das Motiv des kranken Kindes im Mittelpunkt steht. Am Ende werden Darstellungen von Frauen gezeigt, die Munch zu begehrten Madonnen stilisiert, oder die als „Vampyr“ und „Harpye“ auch eine Todesgefahr für ihn veranschaulichen.

Die diesjährige Ausstellung zeigt Werke, die von einer Reihe von Museen und aus Privatsammlungen zur Verfügung gestellt werden.

Edvard Munch. Meisterblätter
1. Mai bis 10. Juli 2022
Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus
François-Lachenal-Platz 1,
55218 Ingelheim am Rhein

Weitere Informationen Internationale Tage Ingelheim

Empfehlenswerter Begleit-Katalog :
It_Katalog_2022_01-250Edvard Munch. Meisterblätter
21 x 27 cm, 100 Abbildungen in Farbe.  herausgegeben von Ulrich Luckhardt und Texte von Uwe M. Schneede. Hirmer Verlag GmbH, 160 Seiten, 29,90 Euro.  ISBN: 3777439843
EAN: 9783777439846
Die exzellenten Abbildungen erläutert ein fundierter Text von Uwe M. Schneede. Sein umfangreiches druckgrafisches Werk bildet in technischer Perfektion und der einzigartigen Kombination unterschiedlicher Druckverfahren einen künstlerischen Höhepunkt dieser Gattung. Der Band stellt beliebte Themen seines Schaffens anhand herausragender Arbeiten vor. Die exzellenten Abbildungen erläutert ein fundierter Text von Uwe M. Schneede.

Internationale Tage Ingelheim – Das Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus wird ab 12. August 2018 mit der Ausstellung „Mensch! Skulptur“ wiedereröffnet

Die Renovierung und zeitgenössische Erweiterung des Alten Rathauses am FrancoisLachenal-Platz in Nieder-Ingelheim sind nach zwei Jahren intensiver Bautätigkeit abgeschlossen. Das Ensemble wird ab dem 12. August 2018 unter dem neuen Namen „Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus“ wiedereröffnet. Das frisch sanierte und mit einem Anbau ergänzte und modernisierte Gebäude, das 1982 zuletzt umgebaut und zum Ort für Ausstellungen eingerichtet wurde, bietet in diesem Jahr nun Gelegenheit, historische Architektur und Kunst in einer neuen Symbiose zu erleben.

Die Ausstellung „Mensch! Skulptur“ vereint 12 unterschiedliche bildhauerische Positionen, in denen jeweils die künstlerische Auseinandersetzung mit dem menschlichen Körper im Mittelpunkt steht. Ausgehend von einer realistischen Darstellung werden unterschiedliche Wege aufgezeigt, die die Entwicklung der dreidimensionalen Körperlichkeit hin zur Abstraktion dokumentieren.

Anhand von Motivgruppen wie stehenden, sitzenden oder liegenden menschlichen Körpern und Figuren in tänzerischer Bewegung oder einzelnen Gliedmaßen wie dem Kopf und den Händen wird eine facettenreiche Auswahl gezeigt, die Museen und Privatsammler aus Deutschland, Großbritannien und der Schweiz nach Ingelheim ausleihen.

Die Öffnungen der Rundbogenfenster des Alten Rathauses werden einsichtig sein, so dass der Außenraum der rheinhessischen Landschaft, die Architektur des Alten Rathauses und die Wirkung der Skulpturen im wechselnden Licht in besonders intensiver Weise erlebbar werden. Das einfallende Tageslicht verändert sowohl die Ausstellungsräume als auch die Objekte mit ihren unterschiedlichen Oberflächen. Im Streiflicht – eine ideale Voraussetzung, um Skulpturen zu sehen – wird die dritte Dimension, die Plastizität, und der umgebende Raum zu einer Einheit. Die Objekte entfalten so ihre volle Wirkung und werden den Betrachter in ihren Bann ziehen. Insgesamt werden rund 60 Skulpturen aus Marmor, Bronze oder Terrakotta zu sehen sein.

Die Konzentration auf Skulpturen, die den menschlichen Körper darstellen, hat der Kurator und Leiter der Internationalen Tage Dr. Ulrich Luckhardt mit Bedacht gewählt. Anhand einzelner Motiv- und Themengruppen werden die Entwicklungen und Veränderungen anschaulich, die sich in der Skulptur von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis ca. 1960 ergeben. Es ist der Weg von der realistischen Auffassung des menschlichen Körpers als Einheit hin zur Reduktion abstrakter Flächen oder organischer Formen. Den Besuchern wird durch vergleichendes Sehen die Möglichkeit gegeben, diese Schritte nachzuvollziehen.

Die Auswahl der zwölf Künstler – Alexander Archipenko, Max Beckmann, Rudolf Belling, Edgar Degas, Alberto Giacometti, Georg Kolbe, Henri Laurens, Wilhelm Lehmbruck, Aristide Maillol, Henry Moore, Pablo Picasso, Auguste Rodin – führt den Formenreichtum der Skulptur der letzten hundert Jahre vor Augen.

„Mensch! Skulptur“ stellt nach der Schau „Figuren Afrikas“ (2002) ein weiteres Mal bei den Internationalen Tagen dreidimensionale Kunstwerke in das Zentrum einer Ausstellung.

Der Katalog, in dem die Inszenierung der Werke in den neuen Räumen dokumentiert wird, erscheint Anfang September 2018.

Die Internationalen Tage Ingelheim mit „Emil Nolde. Die Grotesken“ zu Gast im Museum Wiesbaden vom 30. April bis 9.Juli 2017

Emil Nolde 1867 -  1956. Bergpostkarte: "Die drei Mürtschen: Der Böse, der Faule und der Rauhe, 1985. Mischtechnik, Nolde Stiftung Seebüll. Foto: Diether v. Goddenthow
Emil Nolde 1867 – 1956. Bergpostkarte: „Die drei Mürtschen: Der Böse, der Faule und der Rauhe, 1985. Mischtechnik, Nolde Stiftung Seebüll. Foto: Diether v. Goddenthow

„Die Kunst kommt vom Menschen und ist für den Menschen gemacht – nicht für die Experten. Ihre Formen bilden sich aus der lebendigen Liebe zum Leben. Sie verbindet die Menschen und gibt ein positives Lebensgefuhl. Die Kunst ist der Spiegel Gottes – der die Menschheit ist.“ Emil Nolde

 

Dem widrigen Umstand,  dass sich die Sanierung des alten Ingelheimer Rathauses unvorhergesehener Weise verzögerte und als Ausstellungsfläche für die Internationalen Tage Ingelheims nicht bereitstand, verdankt das Museum Wiesbaden die Chance,  Emil Noldes Werk  „Die Grotesken“  präsentieren zu können.

i.t.iDie Internationalen Tage Ingelheim sind ein Kulturengagement von Boehringer Ingelheim seit 1959, die jährlich zwischen Mai und Juli stattfinden, in diesem Jahr zum ersten Mal,  der Raumnot gehorchend, außerhalb. Dr. Alexander Klar erinnert sich beim Pressegespräch:  „Binnen 6 Stunden hatten wir, nachdem die Anfrage hier bei uns eingetroffen war,  die Ausstellung zugesagt“.  Für das Museum Wiesbaden, welches sich explizit dem Expressionismus widmet, war es eine große Chance, auf diese Weise zum zweiten Mal einen Vertreter aus der expressionistischen Künstlergruppe „Die Brücke“ ausstellen zu können.

Zudem dürfte es nun für Besucher der Dokumenta 14 in Kassel noch verlockender werden,  einen Abstecher nach Wiesbaden einzuplanen. Zusammen mit der gegenwärtigen Sonderausstellung „Richard Serra. Props, Films, Early Works“, die noch bis zum 18. Juni 2017 gezeigt wird, kann nun das Hessische Landesmuseum für Kunst und Natur Wiesbaden mit zwei absoluten internationalen Highlights aufwarten.

Die Grotesken

Worum geht es? Wer hofft, in dieser Ausstellung einen Emil Nolde der farbigen Blumengärten, aufgeregten Meereslandschaften,  dramatischen Wolkenformationen oder der intensiven Eindrücke seiner berühmten Reise in die Südsee zu sehen, sucht in dieser Ausstellung vergeblich. Es wird viel spannender: Erstmals wird ein weitgehend unbekannter Emil-Nolde gezeigt, darunter 15 noch nie in einer Ausstellung gezeigte Werke. Es ist eine wesentliche, wenn auch wenig bekannte Facette Noldes umfangreichen Werkes.

Emil Nolde 1867 - 1956 Ohne Titel (Groteskes Tier in Hundegestalt. Nolde Stiftung Seebüll. Foto: Diether v. Goddenthow
Emil Nolde 1867 – 1956 Ohne Titel (Groteskes Tier in Hundegestalt. Nolde Stiftung Seebüll. Foto: Diether v. Goddenthow

Dass das „Grosteke“erst jetzt mit dieser Ausstellung  einer breiten Öffentlichkeit gezeigt werden kann,  erstaunt. Denn in Noldes vierbändiger Autobiografie und in seinen Briefen finden sich vielfältige Hinweise und Erläuterungen, die deutlich machen, dass sein künstlerisches Werk entscheidend durch sein subjektives Verhältnis zum Fantastischen und Grotesken beeinflusst und geprägt ist. Wer  tiefer in dieses „groteske“ Nolde-Welt einsteigt, wird  einen  „neuen“ Nolde entdecken können, der  vielleicht mehr als bisher, tiefe Einblicke in sein Seelenleben gibt. Zahlreiche Aquarelle erinnern ein wenig an  Klecksography und  den einstmals zur Diagnostik seelischer Gesundheit verwendeten Rorschach-Test. So gesehen hat der Betrachter durchaus die Chance, selbstreflektorisch auch etwas über die eigenen Befindlichkeiten und „seine Dämonen“ zu erfahren.  Noldes undefinierbare Wesenheiten, Kobolde und seltsamen Gestalten verbindet vielleicht  die archetypische Symbolik menschlicher ( Ur-)Existenzängste, die den Betrachter besonders in seinen Bann  ziehen.  „Die Urmenschen leben in ihrer Natur, sind eins mit ihr und ein Teil vom ganzen All. Ich habe zuweilen das Gefühl, als ob nur sie noch wirkliche Menschen sind, wir aber etwas wie verbildete Gliederpuppen, künstlich und voll Dünkel. Ich male und zeichne und suche einiges vom Urwesen festzuhalten.“ (1914) Emil Nolde

Hallig Hooge, 1919 – Flucht ins Alleinsein

Emil Nolde 1867 -1956 Tolles Weib, 1919. Exemplarisch für Noldes Adaption einiger seiner in Hallig Hooge entstandenen Aquarell-Motiven auf Leinwand in Ölfarbe, steht das  unbetiteltes Aquarell „Die Tänzerin“. Es diente zur Vorlage des Motivs: „Tolles Weib“, 1919. Sie, die mit einem nach oben gereckten Bein auf allen vieren kniet, umspielt ein gewisser Hauch wilder Rohheit, aber noch nicht entfesselt, was sich auch in der bräunlichen Farbgebung ausdrückt. Erst im Gemälde Tolles Weib hat Noldes Figur alle Zurückhaltung abgelegt. Nolde Stiftung Seebüll. Foto: Diether v. Goddenthow
Emil Nolde 1867 -1956 Tolles Weib, 1919. Exemplarisch für Noldes Adaption einiger seiner in Hallig Hooge entstandenen Aquarell-Motive auf Leinwand in Ölfarbe, steht das unbetiteltes Aquarell „Die Tänzerin“. Es diente zur Vorlage des Motivs: „Tolles Weib“, 1919. Sie, die mit einem nach oben gereckten Bein auf allen vieren kniet, umspielt ein gewisser Hauch wilder Rohheit, aber noch nicht entfesselt, was sich auch in der bräunlichen Farbgebung ausdrückt. Erst im Gemälde Tolles Weib hat Noldes Figur alle Zurückhaltung abgelegt. Nolde Stiftung Seebüll. Foto: Diether v. Goddenthow

Nolde entfloh immer wieder über längere Phasen „seiner“ hektischen äußeren Welt. Er suchte Ruhe, das Alleinsein, die totale Abgeschiedenheit. Beispielsweise fuhr Nolde im Frühjahr 1919 allein auf die Hallig Hooge vor der Küste Nordfriesland. Hier entstanden in ungefähr sechs Wochen unter anderem 71 Aquarelle von seinen Visionen mit besonderer Ausdruckskraft. Die Reise wurde Nolde wertvoll. Sie hatte wohl heilsame Wirkung und sollte ihn, zumindest in seinen dort geschaffenen Werken sein ganzes weiteres Leben begleiten. Nolde trennte sich zu Lebzeiten niemals von diesen auf Hallig Hooge entstandenen ungewöhnlichen  Figuren. Sieben dieser Aquarelle dienten ihm noch im selben Jahr als Vorlagen großformatiger Gemälde.

Caroline Dieterich, Mitautorin des Katalogs zur Ausstellung "Emil Nolde - Die Grotesken", 2017. Sie steuerte den Beitrag über Noldes Hallig Hooger Zeit bei.Foto: Diether v. Goddenthow
Caroline Dieterich, Mitautorin des Katalogs zur Ausstellung „Emil Nolde – Die Grotesken“, 2017. Sie steuerte den Beitrag über Noldes Hallig Hooger Zeit bei.Foto: Diether v. Goddenthow

Nolde liebte diese Halligen,  diesen atemberaubenden Wechsel von Ebbe und Flut und das Wattenmeer. Er war überzeugt: „Weitferne Vereinsamung kann reichstes Leben enthalten, rauschende Vielfältigkeit zerstreut alle geistige Sammlung“.

Caroline Dietrich hat „Emil Noldes Reise zur Hallig Hooge“ im sehr gelungenen Katalog zur Ausstellung beschrieben.

Utenwarf 1918

Dr. Ulrich Luckhardt, Kurator u. Leiter des Internationalen Tage, hier mit Emil Noldes Werk "Die Maske", entstanden 1920. Nolde Stiftung Seebüll. Foto: Diether v. Goddenthow
Dr. Ulrich Luckhardt, Kurator u. Leiter des Internationalen Tage, hier mit Emil Noldes Werk „Die Maske“, entstanden 1920.
Nolde Stiftung Seebüll. Foto: Diether v. Goddenthow

Bereits 1912,  Jahre vor Hallig Hooge, hatte sich Emil Nolde mit seiner Frau Ada (ab 1916)  in ein altes Fischerhaus an der westschleswigschen Künste zurückgezogen, das vor dem Deich liegt und deswegen von Hochwassern heimgesucht wurde. Er nennt es Utenwarf. Hier in der Abgeschiedenheit entstehen neben Landschaftsgemälden eine Reihe figürlicher Aquarelle mit verspielt-grotesken Bildthemen, erläutert Dr. Christian Ring, Direktor der Nolde Stiftung  in Seebüll. Sein Beitrag „Zur Kontinuität des Grotesken im Werk von Emil Nolde“, Katalog zur Ausstellung, Seiten 14 – 18, beschreibt diese Facette von Noldes Werk.

Emil Nolde 1867 - 1956. Wüstes Jagen 1918 Nolde Stiftung Seebüll. Foto: Diether v. Goddenthow
Emil Nolde 1867 -1956. Wüstes Jagen 1918 Nolde Stiftung Seebüll. Foto: Diether v. Goddenthow

Bereits in diesen Bildern schafft Nolde eine absolut groteske Gegenwelt zur Realität vor und nach dem ersten Weltkrieg.“‚Ich arbeite währenddem und malte den ‚Geburtstag der Windmühle‘, wo Hund und Hahn so lustig tanzen, und auch den ‚idealen Misthaufen‘ mit seinem glücklichen Federvieh. Kleine Anregungen gaben ihre Wirkungen, ein Gast bei uns benannte die Bilder so! – Es entstehen noch mehr dieser seltsamen freien Erfindungen, deren Bezeichnungen noch erfunden werden müssen“ (Christian Ring, zit. n. Nolde 2002, siehe Katalog zur Ausstellung)

Bergriesen – Bergpostkarten 

„Bereits sein erstes Ölgemälde, die Bergriesen von 1895/96, und die zuvor entstandene Reihe der Berg-Postkarten, in denen
Nolde Schweizer Bergen groteske menschliche Physiognomien gibt, und die ihn als bildenden Künstler noch vor der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert bekannt werden ließen, zeugen von Noldes intensivem Interesse am Fantastischen“, so Dr. Ulrich Luckhardt, Kurator und Leiter der Internationalen Tage Ingelheim.

Von diesen Anfängen, denen 1905 die Mappe Phantasien mit Radierungen folgt, bis in die Jahre des Berufsverbots durch die Nationalsozialisten zieht sich in seinem Werk immer wieder die Abkehr von der Realität hin zu einer grotesken Gegenwelt, so Luckhardt. Diese Realitätsferne zeigt sich neben den in Utenwarf und 1919 auf der Hallig Hooge entstanden Gemälden auch in einer weiteren Reihe von Werken, die alle 1923 gemalt wurden. Wie ein roter Faden zieht sich die Zweiheit, das Motiv des  „Paars“ durch Noldes Werk: „Die Zweiheit hat in meinen Bildern und auch in der Graphik einen weiten Platz erhalten. Mit- oder gegeneinander: Mann und Weib, Lust und Leid, Gottheit und Teufel. Auch die Farben wurden einander entgegengestellt: Kalt und warm, hell und dunkel, matt und stark. Meistens aber doch, wenn eine Farbe oder ein Akkord wie selbstverständlich angeschlagen war, bestimmte eine Farbe die andere, ganz gefühlsmäßig und gedankenlos tastend in der ganzen Farbenreihe der Palette, in reiner sinnlicher Hingabe und Gestaltungsfreude.“ (Emil Nolde)

 

Die Grenzen zwischen Realität und Grenzen verschwimmen bei Nolde immer wieder. Dr. Christian Ring, Direktor Nolde Stiftung Seebüll. Foto: Diether v. Goddenthow
Die Grenzen zwischen Realität und Grenzen verschwimmen bei Nolde immer wieder. Dr. Christian Ring, Direktor Nolde Stiftung Seebüll. Foto: Diether v. Goddenthow

Nolde lässt den Betrachter allein mit seinem Gedankenspuk und Anderswelten. Nolde entzieht sich einer klaren Interpretation und Lesbarkeit des Dargestellten, erklärt Dr. Christian Ring, Direktor der Nolde Stiftung Seebüll.   „Das Interessante ist“, so Ring, „dass man bei einem so weit erforschten Werk, immer noch neue Entdeckungen machen kann.“

Wurde Emil Nolde auch vornehmlich als der Maler dramatischer Meeresansichten, aufgewühlter Wetterwolken und bunter Blumengärten bekannt,  dürfte  sein Hang zum Grotesken jedoch nicht Ausnahme, sondern eher ein zentraler Wesenskern seines gesamten künstlerischen Schaffens  gewesen zu sein.  Dieser Eindruck drängt sich zumindest nach dem Studium dieser Ausstellung auf. Sie spannt einen Bogen seines diesbezüglichen Schaffens  von  den „Bergpostkarten“ und der „Mappe Phantasien“ über die Bilder „Untenwarf“ und  „Hallig Hooge“ bis hin zu Werken der „Phantasien“ und  „Die Ungemalten Bilder“. Nolde sagte einmal: „Alle meine freien und phantastischen Bilder entstanden ohne irgendwelches Vorbild oder Modell, auch ohne festumrissene Vorstellung. Ich mied alles Sinnen vorher, eine vage Vorstellung in Glut und Farbe genügte mir. […] Phantastisch sein im Werk ist schön, phantastisch sein wollen ist blöd. Wenn die Bodennähe im romantisch phantastischen Schaffen mir zu verschwinden schien, stand ich suchend wieder vor der Natur, Wurzeln in die Erde versenkend und demütig in vertieftem Sehen.“

Dr. Roman Zieglgänsberger, Kustos Klassische Moderne, Museum Wiesbaden. Foto: Diether v. Goddenthow
Dr. Roman Zieglgänsberger, Kustos Klassische Moderne, Museum Wiesbaden. Foto: Diether v. Goddenthow

„Emil Nolde hat wirklich am Rande der Welt gelebt, vielleicht muss man sich am Rande der Welt bewegen, um solchen Figuren zu begegnen und diese malen zu können“, fragt sich  Dr. Roman Zieglgänsberger. In seinem  Beitrag  „Schlaglichter auf das Schattenreich der Grotesken um 1900″, Katalog Seiten 8 bis 13, untersucht der Kustos Klassische Moderne im Wiesbadener Museum  das Phänomen der Groteske, welches die Jahrhundertwende allgegenwärtig war.

Die Ungemalten Bilder

Emil Nolde 1867 - 1956. Frühmorgenflug. Nolde Stiftung Seebüll. Foto: Diether v. Goddenthow
Emil Nolde 1867 -1956. Frühmorgenflug. Nolde Stiftung Seebüll. Foto: Diether v. Goddenthow

Zwischen 1931 und 1935 malt Emil Nolde mit den Phantasien eine Reihe großformatiger Aquarelle, die die sogenannten „Ungemalten Bilder“ vorbereiten. Die Ungemalten Bilder sind mit über 1700 Aquarellen der größte zusammenhängende Bestand in Noldes Werk. Die meisten sind vermutlich nach dem nationalsozialistischen Berufsverbot 1941 im Verborgenen auf Seebüll entstanden, manche wohl schon früher. Aus den Farbverläufen der Nass-in-Nass-Technik des Aquarells entstanden auch hier fantastische menschliche Figuren, die Nolde mit Tuschfeder konturiert und oft nochmals farbig überarbeitet. Gerade diese Arbeiten bilden nach dem Zweiten Weltkrieg die Grundlage für die Rezeption Noldes als verfemter Künstler, was seine Verstrickung mit dem Regime für viele Jahre überlagerte.

Es scheint auch eine merkwürdige Ambivalenz zu sein, dass ein „verfolgter“ Künstler wie Emil Nolde, der von den Nazis 1941 Berufsverbot erhielt, sich einstmals zum Nationalsozialismus bekannt hatte. Da in seiner Biographie seine Gedanken hierzu mit chemischen Mitteln entfernt wurden, bleibt seine tatsächliche Position hierzu unklar. Gesichert erscheint, dass sich Nolde stets als ein germanischer, als ein nordischer Maler verstand. „Die Kunstäußerungen der Naturvölker sind unwirklich, rhythmisch, ornamental, wie wohl immer die primitive Kunst aller Völker es war — inklusive die des germanischen Volkes in seinen Uranfängen. […] Das Absolute, Reine, Starke war meine Freude, wo ich es fand, von primitiver Ur- und Volkskunst an bis zur höchsten Trägerin freier Schönheit. […] Die Bilder, welche ich auf den Südseeinseln malte, entstanden künstlerisch unbeeinflußt von exotischer Art zu bilden, […] blieben in Empfindung und Darstellung so heimatlich nordisch deutsch, wie alte deutsche Plastiken es waren — und ich selbst es bin.“ (Emil Nolde)

Biographisches

Emil Emil Hansen, geboren am 7. August 1867 in dem schleswigschen Dorf Nolde, nach dem er sich später nannte. Er lernte in einer Flensburger Schnitzschule, wurde von 1892-97 Lehrer an der Gewerbeschule St. Gallen, die er wegen „unzureichender Erfüllung seiner Lehrtätigkeit“ verlassen musste. Der große finanzielle Erfolgs durch den Verkauf seiner in hoher Druckauflage hergestellten Bergpostkarten verhalf ihm zu wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Es folgten Malerische Ausbildungen in München, Paris, Kopenhagen, Berlin. 1913/14 besuchte Nolde Rußland-und die Südsee. Seine Bilder wurden nach 33 als „entartet“ aus den Museen verbannt und ihm ab 1941 das professionelle Malen gänzlich verboten. In dieser Zeit entstanden seine „Ungemalten Bilder“ (siehe oben). 1946 ernannte ihn die schleswig-holsteinsche Landesregierung  Zu seinem 79. Geburtstag zum Professor. Bis 1951 malte Emil Nolde noch über 100 Gemälde und bis 1956. Emil Nolde nahm 1955 an der  documenta 1 teil. Emil Nolde starb am 13. April 1956 in Seebüll, wo er – neben seiner 1946 verstorbenen ersten Frau Ada – im von beiden geliebten Garten seine letzte Ruhestätte fand. Posthum wurden seine Werke auch 1959 auf der documenta II  und 1964 auf der documenta III  in Kassel gezeigt. Emil Nolde war einer der führenden Maler des Expressionismus und einer der großen Aquarellisten in der Kunst des 20. Jahrhunderts.

Die Ausstellung, die in enger Kooperation mit der Nolde Stiftung Seebüll entstand, umfasst 20 Gemälde sowie ca. 90 Werke auf Papier, die zum Teil noch nie öffentlich in einer Ausstellung gezeigt wurden. Die Ausstellung ist höchst gelungen, hervorragend strukturiert und entführt in eine unbekannte, höchst faszinierende Nolde-Welt.

Diether v. Goddenthow / Rhein-Main.Eurokunst

 

Ort:
Museum Wiesbaden
Hessisches Landesmuseum
für Kunst und Natur
Friedrich-Ebert-Allee 2
65185 Wiesbaden
Fon 0611 ⁄ 335 2250
Fax 0611 ⁄ 335 2192

Nach der Präsentation im Museum Wiesbaden wird diese Ausstellung vom 23. Juli bis zum 15. Oktober 2017 im Buchheim Museum der Phantasie in Bernried am Starnberger See gezeigt.

katalog.noldeDer Katalog, in dem alle ausgestellten Werke abgebildet sind, enthält exte von Caroline Dieterich, Ulrich Luckhardt, Christian Ring, Daniel J. Schreiber und Roman Zieglgänsberger. Er ist erschienen im Verlag Hatje Cantz, Berlin 2017, 176 Seiten, 29,80 Euro.

 

Information Internationale Tage Ingelheim

i.t.iDie Internationalen Tage Ingelheim sind ein Kulturengagement von Boehringer Ingelheim seit 1959. Sie finden jährlich zwischen Mai und Juli statt.
Um Japanische Farbholzschnitte und Masken der Südsee, Antiken aus Pergamon und Werke Picassos, das Wiener Biedermeier oder den Geist der 50er Jahre in Paris kennenzulernen, bedarf es keineswegs einer Fahrt zu den großen Museen der Welt. Seit über fünf Jahrzehnten eröffnen die Internationalen Tage gleichermaßen Einblicke in die Kunst und Kultur unserer Welt, wenn das Alte Rathaus in Ingelheim am Rhein alljährlich zum Schauplatz thematischer oder monografischer Ausstellungen wird.

Am Anfang stand die Idee, im Umfeld eines international tätigen Unternehmens Ausblicke auf Leben und Kultur anderer Nationen und Völker zu stiften: Der Leitgedanke kultureller Offenheit und Fortbildung veranlasste 1959 Dr. Ernst Boehringer als Mitinhaber des Familienunternehmens Boehringer Ingelheim, ein Kulturfestival auszurichten. Die Riege der Internationalen Tage wurde nahezu über drei Jahrzehnte hinweg von dem Schweizer Dr. François Lachenal (1918–1997) angeführt. Die ersten Internationalen Tage waren dem Nachbarn Frankreich gewidmet und umfassten eine kleine Ausstellung sowie ein buntes Programm von Vorträgen bis hin zu kulinarischen Spezialitäten. Der Grundriss für die Zukunft war gezeichnet, und die Internationalen Tage sollten sich mit eigener Dynamik entwickeln. Die Ausstellungen wurden alsbald zum Kernpunkt der nun mehrwöchigen Veranstaltung, und im Jahr 1966 konnte mit Goya erstmals ein einzelner Künstler präsentiert werden.

Das vervielfachte Informationsangebot unserer Zeit erfordert und ermöglicht heute die Ausrichtung sorgfältig und wissenschaftlich begründeter Kunstpräsentationen, die lange schon auch in internationalen Fachkreisen Beachtung finden. Von 1988 bis 2012 wurden die Internationalen Tage Ingelheim von Dr. Patricia Rochard geleitet, die in monografischen wie thematischen Ausstellungen neue Akzente setzte, die sowohl Gegenwartskunst (Warhol, Tinguely) als auch das Medium Fotografie ins Zentrum rückten. 2013 übernahm Dr. Ulrich Luckhardt die Leitung der Internationalen Tage Ingelheim. Ein Rahmenprogramm sowie die feste Einbindung in das Netz einer regionalen Kultur garantieren gleichermaßen breite öffentliche Resonanz und den besonderen Stellenwert der Internationalen Tage für die gesamte Rhein-Main-Region.
Ort der Ausstellungen ist seit 1984 das ehemalige Rathaus der Stadt Ingelheim im historischen Stadtteil Nieder-Ingelheim. Im beschaulich gebliebenen Umfeld, gerade einen Steinwurf von den Resten der karolingischen Kaiserpfalz und deren Ausgrabungen entfernt, grüßt das zweistöckige, durch markante Rundfenster gegliederte Gebäude von 1860 mit stündlichem Glockenschlag.

Wegen Sanierung und Erweiterung ist das Alte Rathaus seit Sommer 2015 geschlossen. Aus diesem Grund findet 2017 die Ausstellung „Emil Nolde. Die Grotesken“ in Kooperation mit dem Museum Wiesbaden und der Nolde Stiftung Seebüll in Wiesbaden statt.

Nach dem Abschluss der Sanierungen und des Erweiterungsbaus durch das renommierte Architekturbüro Scheffler & Partner, Frankfurt am Main, erhalten die Internationalen Tage ab dem 6. Mai 2018 wieder ihren angestammten Ort – das Alte Rathaus in Nieder-Ingelheim –
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