Das erstmals im Rahmen der Internationalen Tage ausgestellte Werk von Ernst Ludwig Kirchner ist noch bis zum 9. Juli 2023 im Kunstforum Ingelheim zu sehen.
Bislang zählte die Schau der Internationalen Tage Ingelheim über 15.000 Gäste. Damit ist die von Ulrich Luckhardt und Dagmar Lott kuratierte Ausstellung die bestbesuchteste Präsentation der Internationalen Tage seit dem Umbau des Alten Rathauses 2018 zu einem modernen Ausstellungsgebäude, dem Kunstforum Ingelheim.
Mit 90 Werken – Zeichnungen, Aquarellen, Druckgrafik und einigen beispielhaften Gemälden – werden Einblicke in die fünf wichtigsten Stationen eines der einflussreichsten Künstler in Deutschland gewährt.
Mit dieser Ausstellung „Ernst Ludwig Kirchner. Stationen“ verabschiedet sich Dr. Ulrich Luckhardt nach 11 Jahren als Leiter von den Internationalen Tagen in den Ruhestand. Seine Nachfolge übernimmt nun ab Juli 2023 Dr. Katharina Henkel, die für das kommende Jahr eine Ausstellung mit dem Thema Zuhause kuratiert: rund 100 Werke beleuchten in einem zeitlichen Bogen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute das alltägliche Tun und rücken positiv wie negativ besetzte Tätigkeiten, Beschäftigungen oder Situationen im Zuhause in den Fokus und veranschaulichen die verschiedenen Bedeutungsebenen, die der private Ort hat, aber nicht haben muss (28.4. – 7.7.2024).
Vom 30. April bis 9. Juli 2023 zeigt das Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus im Rahmen der Internationalen Tage Ingelheim die Sonderausstellung „Ernst Ludwig Kirchner.Stationen“.
Schon lange habe er Ernst Ludwig Kirchner als „prägende Figur des deutschen Expressionismus“ eine Ausstellung widmen wollen, freut sich der langjährige Leiter der Ingelheimer Tage Dr. Ulrich Luckhardt, dass es nun doch noch geklappt hat. Denn immer sei etwas dazwischen gekommen, zunächst die von ihm begleitete Renovierung und Erweiterung des Alten Rathauses zum „Kunstforum Ingelheim“, und schließlich Corona. Jetzt aber, kurz bevor er in Rente ginge und die Leitung der Ingelheimer Tage im Sommer 2023 an seine Nachfolgerin Dr. Katharina Henkel übergebe, sei sein Herzenswunsch doch noch in Erfüllung gegangen: Gemeinsam mit der Kuratorin Dagmar Lott ist ihm erstmals gelungen, das künstlerische Schaffen von Ernst Ludwig Kirchner (1880 – 1938) in einer monografischen Ausstellung im Rahmen der Internationalen Tage in Ingelheim zu präsentieren. Mit über 90 Werken – Zeichnungen, Aquarellen, Druckgrafik und einigen beispielhaften Gemälden sowie einer Medienstation mit rund 11 000 abrufbaren Skizzen – werden Einblicke in die wichtigsten Stationen eines der einflussreichsten Künstler in Deutschland gewährt. Die Präsentation ist für die Räumlichkeiten im Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus konzipiert und zeigt in fünf Ausstellungsräumen, die sich über drei Etagen verteilen, fünf für Kirchner und seine Kunst einschneidende Stationen. Das gesteckte Ziel, mit der Ingelheimer Ausstellung „Ernst Ludwig Kirchner. Stationen“ Kirchners künstlerisches Werk und Leben mit prägnanten Beispielen von höchster Qualität sichtbar zu machen, ist bestens gelungen. Ausgewählt wurden Motivgruppen, denen sich Kirchner in der jeweiligen Entstehungszeit besonders intensiv widmete und die seine thematische wie stilistische Entwicklung exemplarisch verdeutlichen.
Ausstellungsrundgang:
Die Ausstellung erschließt sich am besten chronologisch, beginnend mit Station 1 im Untergeschoss, endend mit Station 5 im zweiten Obergeschoss (ein Aufzug sorgt für Barrierefreiheit). Im Foyer des 2. Obergeschosses befindet sich zudem die Medienstation mit annähernd 11 000 eingescannten Skizzen aus Kirchners Skizzenbüchern, die per Touch-Screen abgerufen werden können.
1.Das Atelier als Ort der Freiheit
Die erste Station heißt Dresden: Das Atelier als Ort der Freiheit. Kirchner ist Architekturstudent, in Wohngemeinschaft mit seinen Kommilitonen Fritz Bleyl und Erich Heckel. Später stößt Karl Schmidt Rottluff dazu. „Die haben“, so Kuratorin Dagmar Lott, „einen wundervollen Lehrer Fritz Schuhmacher“, der ihnen an der reformorientierten Hochschule Dresden das Freihandzeichnen lehrt und ihnen Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ und „die Gedanken von Freiheit und auch von Reduktion“ vermittelt, „sozusagen als junger Mensch aus der wilhelminischen Gesellschaft auszubrechen“.
Ganz im Geiste der „Jugend- und Lebensreformbewegung“, ihre tatsächlichen schöpferischen Gestaltungskräfte zu befreien, verlassen die jungen Leute ihr Architekturstudium, um Künstler zu werden, freie Künstler. Kirchner hat bereits sein Architektur-Vor-Diplom zum Thema Friedhofsgestaltung in der Tasche. Aber ihr Freiheitsdrang, zur eigentlichen Bestimmung des Menschen vorzudringen, ist stärker. „Das lässt sich in der damaligen Gesellschaft natürlich eigentlich nur in intimen Raum des Ateliers ausleben, und so entstehen diese Ateliersszenen, wie sie in diesem großen Raum 1 zu sehen sind, in denen diese jungen Menschen nackt, ganz frei , sich undressiert von akademischen Vorgaben bewegen und zeichnen“, erklärt die Kuratorin bei der Presseführung.
Besonders in den großformatigen Blättern sehe man Kirchners talentierten Schwung im Gestus, der auch frei sei von akademischen Vorgaben, so Lott. Kirchners „Figuren werden mit großer Bewegung auf das Blatt gelegt, womit eine Natürlichkeit erzeugt werde, die eben zum krassen Gegensatz zu den damaligen Akademievorgaben stünde und eben diesen Freigeist-Willen der jungen Menschen zum Ausdruck bringe“, so Lott.
Um sich und ihrer neuen „befreiten“ Kunst mehr Gewicht zu verleihen, proklamierten die jungen Rebellen ihren Freiheits- und Führungsanspruch sowie ihre Opposition gegenüber der akademischen Kunst durch die Gründung der „Künstlergruppe Brücke“ am 7. Juni 1905 in Dresden. „Name und Signet sollen ihren Weg zu neuen Ufern symbolisieren und zudem auf einen Satz Nietzsches zurückgehen: ‘Was groß ist am Menschen, das ist, daß er eine Brücke und kein Zweck ist‘“ (zit.n.:Dagmar Lott in Ausstellungskatolg: Ernst Ludwig Kirchner. Stationen, München 2023, S.16)
Zum unkonventionellen Arbeiten gehört auch, dass man keine professionellen Modelle im Atelier hat, sondern das die Freundinnen und Freunde oder auch man selbst durchaus Modell ist.
Gleich in der 1. Station gibt es ganz wichtige Werke aus dieser frühen Schaffensphase Kirchners. „Und wir haben eine Inkunabel der Kunstgeschichte, nicht nur abgebildet auf dem Katalog zur Ausstellung, sondern auch hier aus einer Privatsammlung“. Dabei handelt es sich um die Lithografie: „Dodo mit japanischen Schirm‘,“. Dodo steht für Doris Grosse, der Lebensgefährtin Kirchners in Dresdner Zeit. Die Lithographie eine von 6 Exemplaren, die 1909 entstanden, erklärt Dr. Ulrich Luckhardt. Jedes Exemplar sei anders, da Kirchner diese Farbtinktur von einem einzigen Stein (Tuffstein) gemacht habe. Bei diesem Exemplar zeige sich die Farbigkeit besonders schön.
Im Verlauf der Zeit verwischen Atelier- und Privatleben der jungen Künstler zusehends. Es ist ein „Schaffen aus dem Eros heraus“, so Koll, das einigen Künstlern in dieser Zeit wichtig sei, und das eben die Kunst revolutionieren soll aus dem Gefühl heraus, unter Ausschaltung der Ratio und der Ausschaltung der zivilisierten Vernunft zu schaffen. Die Libertinage des reinen Umgangs zwischen Mann und Frau spiele eine große Rolle, und die Freiheit, die man sich im Atelier eben nehme, um frei schaffen zu können. Nicht selten, so behauptete Kirchner, verschmelzen Liebes- und Schaffensakt. (Koll ebenda, S.18).
Es geht um die Unmittelbarkeit des Schaffens, um noch einmal an eine vorzivilisierte Form des Kunstschaffens zurück zu finden. Dieses Zurückgehen zum ursprünglichen Schaffen, zum Ursprünglichen des Menschseins überhaupt, symbolisieren insbesondere auch die archaischen Artefakte mit ethnologischen Vorbildern, mit afrikanischer oder pazifischer Kunst, festgehalten in Druckgrafiken wie: „Sitzender weiblicher Akt auf geschnitzten Sessel, 1910“ und „Sam und Milly im Atelier sitzend“, 1910. Der „geschnitzte Sessel“ ist ein Hocker aus Kamerun.
Sam und Milly, beide in Dresden in einer Völkerschau aufgetreten, faszinierten Kirchner in ihrer Ursprünglichkeit unglaublich. Er habe sich „von der Ursprünglichkeit dieser Weiblichkeit persönlich leiten lassen. Er hat die beiden ins Atelier eingeladen. Er hat sie gezeichnet, er hat sie gemalt, und er sie fotografiert, und sie waren über einen gewissen Zeitraum Teil seines Ateliers“, so Luckhardt. Kirchner habe immer wieder beobachtet, wie sie so ungezwungen wie nur irgend möglich, und ungekünstelt sich bewegt und verhalten haben.
2.Station: Berlin. Straßenszenen
1911 zieht es Kirchner nach Berlin. Sein Brücke-Kollege Max Pechstein war ihm schon vorangegangen, Heckel und Schmidt-Rottluff folgen nach. Dort gibt es viele neue Kunstforen, und vor allen Dingen Galeristen, auch Privatsammler, die sich für moderne Kunst interessieren. Es ist die Faszination der Großstadt, in der es Kirchner aus dem Atelier nach draußen zieht, er sich ins Getümmel schmeißt, und das unmittelbare, pulsierende Leben der Straße, die Energie dort aufsaugt.
„In Berlin sind die Straßen und die Modernität, die sich dort abspielt, und die Bewegung, dieser Puls der Großstadt, sein Thema“, so Lott. Kirchner entdeckt die Passanten auf den Straßen, und beobachtet, so Luckardt, dass die Passanten durchaus auf der Straße ihrer Tätigkeit nachgehen, als Kokotte, als Prostituierte, und die Männer, die als potentielle Freier diese Kokotten – wie in „Straßenszene“ (1913) festgehalten – umschwärmen. Kirchner hält seine Eindrücke in rasch dahin geworfenen in Skizzen fest, erklärt der Kurator. Diese fast kaum lesbaren blassen Zeichnungen, insgesamt um die 11 000, seien für Kirchner Ausgangspunkt für weitere Ausarbeitungen, teilweise als Rohrfederzeichnung , teilweise mit dem Pinsel, auch farbig und teilweise als Druck, so Luckhardt.
In Berlin verändert Kirchner merklich seinen Stil, der jetzt kantiger, eckiger und nervöser ist, und „nicht mehr der fließende, runde, liebliche, an Jugendstil erinnernde Strich der Dresdner Zeit“, erzählt Luckhardt. Ein Highlight der Ausstellung, und absoluter Höhepunkt in Kirchners Werk ist der seltene Druck „Fünf Kokotten auf der Straße“ (1913/1914). Kirchner sei es exzellent geglückt, diese Nervosität eins zu eins umzusetzen bei seiner direkten Zeichnung auf Stein. Seine Berliner Straßenszenen (1913/1914) zeigen zudem das Denken, das Kirchners Freund Alfred Döblin später in seinem Roman „Berlin Alexanderplatz“ festhält.
Station: Fehmarn. Einheit von Mensch und Natur
Parallel zum pulsierenden Berliner Leben entflieht Kirchner immer wieder mit Lebensgefährtin Erna dieser Großstadt jeweils für mehrere Wochen im Sommer auf die Insel Fehmarn. Es ist eine Flucht aus diesem Getümmel der Zivilisation, und ein sich erden, das hier wieder stattfindet. Beide Pole bedient Kirchner in dieser Zeit. Fehmarn sei so etwas wie Kirchners Südsee gewesen, erzählt Luckhardt. Während seine Brücke-Kollegen Max Pechstein, Paul Gauguin oder Emil Nolde in die Südsee reisen, reicht ihm der Südosten Fehmarns, um Formen von Ursprünglichkeit wieder zu erleben. Auf dem touristisch weitgehend noch unerschlossenen Inselteil eröffnen sich ihm immer wieder Momente der ersehnten Einheit von Mensch und Natur, die miteinander verschmelzen. „Kirchner nutzt nahezu jede Gelegenheit, um seine Freundin zu zeichnen oder zu malen, zumeist unbekleidet, am Strand, im Wasser, allein oder mit anderen. (…) Es sind die Tage der Fehmarn-Aufenthalte, die zu einer Veränderung der Beziehung zu Erna, aber offensichtlich auch in seiner künstlerischen Einstellung führten.“ (Koll ebenda, S.21/22) Auf Fehmarn „nähert Kirschner sich der Landschaft, der Vegetation, den Alleen, den Bäumen, die er ebenso, ja fast mit ekstatischen Strichen zu Kompositionen zeichnet, die er dann auch ähnlich ekstatisch in Holzschnitt umsetzt“, erklärt Luckhardt. Das raue Wetter und das Treiben der Badenden inspirieren Kirchner zu einer großen Anzahl von Zeichnungen und Druckgrafiken, die zum wichtigsten Teil seines gesamten Schaffens zählen, und beispielhaft in der Ausstellung gezeigt werden.. Kirchner hat auf Fehmarn auch viel fotografiert, einige Aufnahmen sind im Ausstellungs- Katalog abgedruckt.
Station: Krise
Mit Ausbruch des Ersten Welt-Krieges 1914 endet abrupt Kirchners Ostsee-Idylle, da Fehmarn zur Militärzone erklärt wird, so dass das Künstlerpaar die Insel verlassen muss. Hierdurch gerät er in eine schwere psychisches Krise. Der Einfluss der Krise auf Kirchners Schaffen ist Thema von Station 4. Kirchner, zunächst eher überrascht vom Kriegsausbruch, entwickelt zunehmend extreme Ängste, als Soldat eingezogen und im Krieg getötet zu werden. Er meldet sich jedoch freiwillig zum Kriegsdienst, weil er hofft, damit die Waffengattung selbst auswählen zu können, vielleicht Sanitäter oder Kriegsmaler oder irgend so etwas werden zu können, um vom direkten Fronteinsatz verschont zu bleiben. Stattdessen aber landet Kirchner bei der berittenen Kavallerie. Die kurze Militärzeit wird für ihn ein Martyrium, welches er mit Morphium ähnlichen Schlafmitteln (Veronal) und Alkohol (Absinth) zu betäuben versucht. Infolge dessen entwickelt er eine Psychose. Für den Militärdienst inzwischen völlig unbrauchbar, wird er vom Dienst befreit und nacheinander in verschiedene Sanatorien eingeliefert. Diese bieten ihm erst mal einen Schutzraum.
Innerhalb seines künstlerischen Schaffens stellt diese Phase der Krise eine Zäsur dar. Als Patient von Sanatorien in Königstein im Taunus, in Berlin Charlottenburg und zuletzt in Kreuzlingen am Bodensee, dokumentiert der Künstler mit eindringlichen Selbstbildnissen seine desolate innere Verfassung. Im Holzschnitt „Kopf des Kranken. Selbstbildnis als Kranker“ (1917) wird sein „Ausnahmezustand“ dargestellt durch anatomisch verdrehte, tiefkerbige und als Holzringe gezeichnete Gesichtszüge. Seine verkrampften Hände deuten auf Lähmungen hin, unter denen er litt.
Was Kirchner aber auszeichne, sei, so Luckhardt, seine Klarheit im Kopf. Kirchner habe in dieser Zeit sogar einen farbigen Holzschnitt-Zyklus zu »Peter Schlemihls wundersame Geschichte« des romantischen Dichters Adelbert von Chamisso gefertigt. Kirchner gab Peter Schlemihl, mit dem er sich identifiziert, sein Gesicht. Die Geschichte: Schlemihl verkauft an graue Männchen seinen Schatten, entledigt sich hierdurch seiner Persönlichkeit, wird zu einem Niemand, ungeliebt und einsam.
All diese Stationen „Der Verkauf des Schattens“, „Die Geliebte“, „Kämpfe“ (Qual der Liebe)“, „Schlemihl mit der Einsamkeit des Zimmers“ usw. illustriert Kirchner mittels farbiger Drucke. Nur die letzte Episode, die positive Wendung in Peter Schlemihls Leben, als dieser seinen Schatten und damit sein Leben wieder zurück erhält, lässt er aus. Kirchner interpretiert die Geschichte aus seinem schlimmen Zustand heraus, in dem eine gute Fügung nicht vorkommt. Für Kirchner gibt es also keine Erlösung wie für Schlemihl.
Von seiner ausweglos empfundenen Verzweiflung zeugen all seine schrecklichen Selbstporträts, etwa -„Selbstbildnis im Morphiumrausch“ oder „Selbstbildnis im Tanz mit dem Tod“. (1917). „Das sind unglaubliche Zeugnisse einer Selbstwahrnehmung als Kranker und als ein Leidender und als ein Gefährdeter“, so Luckhardt.Übrigens reihte sich Kirchner mit seinen Selbstbildnissen ein in eine Galerie berühmter „Einzelgänger“, die er in den Sanatorien in Königsstein und Kreuzlingen porträtierte. Darunter waren der Architekt Henry van de Velde, der Komponist Otto Klemperer, der Schriftsteller Carl Sternheim und die Psychiater Ludwig Biswanger und Oskar Kohnstamm.
Station: Davos. Die neue Lebenswelt
Erst in der Schweizer Bergwelt, ab 1917 auf der Stafelalp nahe Davos-Frauenkirch, findet Kirchner, zeitweise an Händen und Beinen gelähmt, nach längeren Aufenthalten Ruhe und neue Inspiration. Vorgesehen für einen längeren Aufenthalt mietet er mit seiner Lebensgefährtin Erna Schilling im September 1918 in der Hofgruppe „In den Lärchen“ ein Haus. Zunächst an Armen und Beinen gelähmt, beobachtet er, umgeben von der mächtigen Bergwelt, das einfache Leben seiner Nachbarn. Überwältigt von der Mächtigkeit der Natur, fernab vom Kunstgeschehen, entstehen hier monumentale Gebirgslandschaften und weitere zahlreiche Bilder vom Leben der Menschen und ihrer Tiere. Kirchners Stil beruhigt sich, und er findet zu einer neuen Farbigkeit. 1920 kann seine Lebensgefährtin Anna Schilling sein Atelier in Deutschland auflösen und nach Davos-Frauenkirch umziehen mit Druckpresse, Werkarchiv, exotischen Einrichtungsgegenständen.
Die Heilkraft der Bergwelt – Kirchners neue Schaffensphase
Mit der Übersiedlung in diese völlig andere, ihn jetzt umgebende Hochgebirgs-Umgebung „findet Kirchner zu neuer Schaffenskraft und einer Motivik, die sein Naturerlebnis und die Beziehung zu den Einheimischen ins Zentrum rücken, die das Naturerlebnis und die ihn umgebenden Menschen miteinander verbindet“, so Luckhardt.
In Station 5 der Ausstellung werden wichtige Schlüsselwerke wie „Drei Wege, Stafelalp“ (2017), „Winternacht“ (1919), „Wettertannen“ (1919) u.ä. aus den frühen Jahren Kirchners in Davos gezeigt, „wo er als kranker Mann hinkommt, und dann aber doch noch ein eigenständiges Spätwerk entwickelt. Auch diese Schaffensphase ist geprägt von der Suche nach dem Ursprünglichen, nach dem Einklang von Mensch und Natur. Auchin Davos ist es wieder die Vegetation, aber dieses Mal sind es die Bergwälder, die Bauern, ihre Tiere und die Farbwelten, die er in Zeichnungen, Holzschnitten und Drucken festhält“, so Luckhardt.
„Er beobachtet nicht nur, sondern solche Situationen wie sie hier im Holzschnitt und in der Zeichnung zu sehen sind, zeigt, dass es eine Welt ist, die ihn berührt, die ihn zum Schaffen bringt. Wie es im Atelier der Eros war, ist es jetzt das Naturerlebnis, die Größe, die Erhabenheit der Natur, die ihn zum Schaffen bringt“, ist auch für Dagmar Koll ein Phänomen. Es erscheint fast wie ein Wunder, bedenkt man, dass dieser Mann 2017 zum Teil so gelähmt war, dass er nicht mehr laufen konnte.
Gefühle von Ausweglosigkeit treiben Kirchner in den Selbstmord
Aber es nimmt dennoch mit ihm alles ein trauriges, und ein zu frühes Ende. Denn Kirchner beobachtet natürlich seit 1933 die politischen Vorgänge in Deutschland. Er kann es nicht fassen, dass er nun nicht mehr ein wichtiger, sondern ein sogenannter entarteter Künstler ist, dessen Werke aus Museen entfernt und einige davon auf sogenannten Schauen „entarteter Kunst“ präsentiert wurden. Seine Ängste kumulieren , insbesondere als 1938 Gerüchte umgehen, dass die Deutschen nach dem sogenannten Anschluss Österreichs eventuell auch in die Schweiz einmarschieren. Hier wäre es also dann auch nicht mehr sicher. Kirchner gerät in Panik, greift wieder zu Alkohol, wieder zu Morphium-ähnlichen Medikamenten, und er verfällt wieder in eine Art Psychose, die ihn schließlich in den Selbstmord treibt. Seine Ängste sind nachvollziehbar, wenn man weiß, dass das Zentrum einer kleinen nationalsozialistischen Bewegung in der Schweiz ganz in seiner Nähe von Davos war. Aus Sorge, auch sie könne Opfer werden, hatte Kirchner versucht, seine Lebensgefährtin Erna zum Selbstmord als bessere Alternativ zu überreden. Das lehnte diese jedoch ab. Kirchner erschoss sich am 15. Juni 1938 vor seinem Haus und wird auf dem Davoser Waldfriedhof beigesetzt.
„Es ist eine Situation der Ausweglosigkeit, das haben wir versucht, auch im Katalog darzustellen, Kirchner hat deswegen so viele Stationen immer wieder ausprobiert, um sich selbst künstlerisch weiterzuentwickeln, aber natürlich auch mit der Sehnsucht, ein bedeutender deutscher Künstler zu sein. Er ist immer wieder an Orte gegangen, wo er sein Potential entwickeln konnte, und an diesem Punkt 1938 in Davos sah er keinen Ausweg mehr. Also es war kein selbstdestruktiver Akt, sondern es war diese Situation: Keine weitere Station mehr vor sich zu haben.“, analysiert Koll seine Beweggründe. In dieser letzten Phase werden seine Zeichnungen und Drucke wieder düsterer.
Mit der Ausstellung „Ernst Ludwig Kirchner. Stationen“ verabschiedet sich Dr. Ulrich Luckhardt nach über 10 Jahren von den Internationalen Tagen in den Ruhestand. Seine Nachfolge mit der Leitung wird zum 1. Juli 2023 Dr. Katharina Henkel übernehmen, die bereits Anfang dieses Jahres ihre Tätigkeit offiziell aufgenommen hat.
Katalog Diesen Katalog sollte man unbedingt zur Ausstellung dazu nehmen, um weitere Hintergrundinformationen über Ernst Ludwig Kirchners Schaffen und Leben zu erfahren, und in der Ausstellung Gesehenes nochmal nachlesen und vertiefen zu können. Oder: Man liest vorher darin, und geht dann durch die Ausstellung.
Der Katalog kann praktisch wie ein Ausstellungsführer verwendet werden. Mit über 90 zumeist farbigen Zeichnungen, Aquarellen, Druckgrafik und Gemälden von Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) werden Einblicke in die wichtigsten Werkgruppen und Lebensetappen eines der bedeutendsten und einflussreichsten Künstler in Deutschland gewährt. Darunter: Atelierbilder, Straßenszenen, Badende, Selbstporträts und bäuerlich geprägte Bergwelt.
Gut verständliche Texte in komprimierter Form gehen dabei Fragen nach, wie sich Kirchners Lebensstationen, geographische Veränderungen und neue Motivgruppen in seinem Werk niederschlagen? Der reich bebilderte Band veranschaulicht den engen Zusammenhang von Orts- und Themenwechsel in seinem Oeuvre: Dresden als Impuls der Freiheit für die künstlerische Entwicklung des jungen Kirchner und Berlin als Inspiration für seine berühmten Straßenszenen, Fehmarn als Idylle einer Sehnsucht nach Einheit von Mensch und Natur, der erste Weltkrieg als Phase von Krise und Sanatoriumsaufenthalten und schließlich Davos als neue Lebenswelt.
Ernst Ludwig Kirchner. Stationen. Hg. Ulrich Luckhardt mit Beiträgen von M. Hoffmann, D. Lott, U. Luckhardt, K. Müller, T. Röske, A. Soika
176 Seiten, 100 Abbildungen in Farbe 21 x 27 cm, gebunden erschienen im Hirmer-Verlag München, 34,90 Euro ISBN: 978-3-7774-4198-6