Die eigenen vier Wände sind für die meisten Menschen der Mittelpunkt des Lebens. Wie unterschiedlich dieses Zuhause jedoch individuell gelebt und erlebt werden kann, beleuchtet die wunderbare Ausstellung mit dem ironischen Titel „Home Sweet Home – Zuhause sein von 1900 bis heute“ im Rahmen der Internationalen Tage Ingelheim vom 21. April bis 30. Juni 2024 im Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus (François-Lachenal-Platz 1,55218 Ingelheim am Rhein).
Dr. Katharina Henkel, neue Leiterin der Ingelheimer Tage und Kuratorin, gelang es bestens rund um die „eigenen vier Wände“ eine komplexe hintergründige und schöne Ausstellung zu konzipieren, „die einen hohen Identifikationsfaktor schafft, also ein Thema in den Fokus rückt, bei dem auch jeder mitreden kann.“ Das „Thema „Zuhause sei sehr naheliegend gewesen“, so die Kuratorin. Henkel hat dabei unser alltägliches Tun, Erleben und Erfahren im Zuhause in den Mittelpunkt gerückt und in fünf Themen schwerpunktmäßig untergliedert. Alltagsroutinen, aber auch wie innere Krisen und äußere Ereignisse in unsere Privatsphären hineinwirken können, werden in „Home Sweet Home“ aus der Perspektive von 80 bekannten Künstlern auf ganz unterschiedliche Weise erzählt und lassen uns dabei auch unser eigenes Zuhause neu entdecken.
Es gab natürlich schon einige Ausstellungen zum Thema Interieur, so Dr. Henkel, ebenso auch thematische Ausstellungen, „die den einen oder anderen Fokus in den Mittelpunkt gerückt haben. In meiner Ausstellung habe ich tatsächlich den Schwerpunkt auf das gelegt, was man zuhause tut.“ Und das sei natürlich vielfältig, wobei es bestimmte Dinge gibt, die wir alle zuhause machen, etwa „Körperpflege“, oder „das in Familie sein“, „an geborgenen beschützten Ort zu sein“, „Freizeit verbringen“, „sich erholen“, „Treffen mit Familie und Freunden“ Man spielt, man musiziert usw., das seien klassische kunsthistorische Themen, die auch vertreten seien in der Schau, so die Kuratorin.
117 Exponate – Papierarbeiten, Gemälde, Fotografien, Videos und Skulpturen – zeigen Erwachsene und Kinder, allein oder in der Gemeinschaft, bei ganz verschiedenen Beschäftigungen oder in Alltagssituationen bis hin zum Home-Office in Zeiten von Corona. Den privaten Rückzugsort positiv erleben zu können, hat in allen Lebensphasen eine herausragende Relevanz: Hier ist man aufgewachsen, hier verrichtet man seine Arbeit im Haushalt, am Schreibtisch oder im Atelier, verbringt seine Freizeit, erfährt Glück, Liebe, Schutz und Geborgenheit. Hier kann man genesen und im Idealfall sterben. An dem eigentlich geschützten Ort müssen nicht wenige Menschen aber auch Not erleben oder Bedrohung und Gewalt erfahren. Anhand ausgewählter Werke zeigt die Ausstellung der Internationalen Tage Ingelheim neben der positiv besetzten Seite des Zuhauses auch deren negative Umkehrung. So stellt Dr. Henkel beispielsweise dem Themenraum „Das Zuhause als Ort der Familie und Geborgenheit“ als Gegenpol den Themenraum „Das Zuhause als Ort der Bedrohung“ gegenüber, dem Thema „Das Zuhause als Ort der Freizeit und des Müßiggangs“ als Kontrapunkt das Schwerpunktthema: „Das Zuhause als Ort der Arbeit“
Die fünf Themenräume im Überblick:
Part 1: Das Zuhause als Ort der Privatsphäre
In diesem ersten Themenraum im Untergeschoss, werden Liebespaare, Frauen und Männer bei der Körperpflege, beim Ankleiden, sich Zurechtmachen sowie bei der Selbstinszenierung vor dem Spiegel präsentiert. Diese Motive stehen direkt und symbolisch für die Welt der Privatsphäre. In seinem privaten Bereich kann sich jeder Mensch frei und unbeobachtet entfalten und auch verhalten. Werkbeispiele von Edgar Degas, Pierre Bonnard oder den Künstlern der Brücke wie auch Künstler:innen der Gegenwart zeigen das Zuhause als den Ort, an dem man sich nackt und ungeniert bewegt und sich ganz um sich selbst kümmert.
Part 2: Das Zuhause als Ort der Familie und Geborgenheit
Dieser Raum widmet sich der Familie als Keimzelle unserer Identität: Nichts prägt alle so intensiv wie die eigene Familie, kein anderes soziales Umfeld hat solch einen nachhaltigen Einfluss auf die eigene Persönlichkeit und auf das Verhalten anderen Menschen gegenüber: Hier lernt man den Umgang miteinander, das Einstehen füreinander und die Sorge umeinander. Im Zuhause in der Familie erfahren die meisten Menschen von klein auf die Liebe, Nähe, Zuwendung und Fürsorge, die sie schließlich selbst weitergeben. Werkbeispiele von Paula Modersohn-Becker, Conrad Felixmüller, Nathalie Djurberg & Hans Berg, Edvard Munch oder Beate Höing zeigen Facetten der Geborgenheit.
Part 3: Das Zuhause als Ort der Bedrohung
Zwar sollten an kaum einem anderen Ort alle so geschützt sein wie in ihrem Zuhause.
Doch mitunter wird dieses Zuhause auch zum Ort von Bedrohung, Werkbeispiele von Max Beckmann, Pablo Picasso, Käthe Kollwitz, Herlinde Koelbl, Patricia Waller, Eleanor Macnair oder Csaba Nemes zeigen in diesem Themenraum wie das Zuhause von innen heraus zu einem Ort werden, an dem es sich wegen ökonomischer Faktoren oder durch ausgeübte Gewalt nur unter erschwerten Bedingungen oder gar nicht leben lässt.
Ebenso können Einwirkungen von außen wie Krieg und Zerstörung massive Bedrohungen darstellen, die dazu zwingen, das Zuhause zu verlassen.
Part 4: Das Zuhause als Ort der Freizeit und des Müßiggangs
Lange war der Begriff Müßiggang negativ besetzt, wurde er doch als Inbegriff der Faulheit verstanden. Doch aus dem Müßiggang können wegweisende Ideen, Erkenntnisse oder kreative Schübe entstehen. Mit ihm gehen aber auch Freizeitaktivitäten wie Geselligkeit, Ertüchtigung oder Weiterbildung einher. Arbeiten von James McNeill Whistler, Paul Kayser, August Macke, Walter Gramatté oder Ulrike Theusner richten den Blick auf den Zeitvertreib, wie er zuhause gerne praktiziert wird: musizieren, spielen, lesen, zusammen sein oder dösen.
Part 5: Das Zuhause als Ort der Arbeit
Die Arbeit zuhause ist im Wandel: Im Haushalt strukturiert sie – zwischen Last und beruhigender Routine – zwar schon immer den Alltag, nun zieht jedoch die Büroarbeit im Homeoffice zusätzlich ein. Beruf und Privatleben lassen sich für die meisten zuhause gut trennen. Das Kunstschaffen speist sich hingegen aus dem Leben, weshalb bei Künstler:innen die Grenze zwischen Arbeits- und Lebensraum fließend, und häufig untrennbar ist. Corinna Schnitt oder Erich Hartmann, Thomas Wrede oder Johannes Hüppi, Maurice Denis, Fritz Nölken oder André Villers geben mit ihren Werken Einblick in die Arbeit im Haushalt oder am Schreibtisch sowie ins Atelier.
Die Ausstellung HOME SWEET HOME. Zuhause sein von 1900 bis heute (21. April bis 30. Juni 2024) beleuchtet das alltägliche Tun, Erleben und Erfahren im Zuhause.
Die eigenen vier Wände sind für die meisten Menschen der Mittelpunkt des Lebens. Über hundert Exponate – Papierarbeiten, Gemälde, Fotografien, Videos und Skulpturen – zeigen Erwachsene und Kinder bei verschiedenen Beschäftigungen oder in Alltagssituationen. Den privaten Rückzugsort positiv erleben zu können, hat in allen Lebensphasen eine herausragende Relevanz: Hier ist man aufgewachsen, hier verrichtet man seine Arbeit im Haushalt, am Schreibtisch oder im Atelier, verbringt seine Freizeit, erfährt Glück, Liebe, Schutz und Geborgenheit. Hier kann man genesen und im Idealfall sterben.
An dem eigentlich geschützten Ort müssen nicht wenige Menschen aber auch Not erleben oder Bedrohung und Gewalt erfahren. Anhand ausgewählter Werke zeigt die Ausstellung der Internationalen Tage Ingelheim neben der positiv besetzten Seite des Zuhauses auch deren negative Umkehrung.
Im Kulturforum Ingelheim – Altes Rathaus werden in fünf Kapiteln über hundert Werke vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart präsentiert, die das Thema Zuhause von 1900 bis heute veranschaulichen.
Die Werkliste umfasst Arbeiten u.a. von Max Beckmann, Paula Modersohn-Becker und den Brücke-Künstlern bis zu Thomas Wrede, Stefan Kürten, Herlinde Koelbl, Anja Niedringhaus, Norbert Tadeusz, Patricia Waller oder Csaba Nemes.
Mit HOME SWEET HOME kuratiert die Kunsthistorikerin Dr. Katharina Henkel als neue Leiterin der Internationalen Tage ihre erste Ausstellung.
Das erstmals im Rahmen der Internationalen Tage ausgestellte Werk von Ernst Ludwig Kirchner ist noch bis zum 9. Juli 2023 im Kunstforum Ingelheim zu sehen.
Bislang zählte die Schau der Internationalen Tage Ingelheim über 15.000 Gäste. Damit ist die von Ulrich Luckhardt und Dagmar Lott kuratierte Ausstellung die bestbesuchteste Präsentation der Internationalen Tage seit dem Umbau des Alten Rathauses 2018 zu einem modernen Ausstellungsgebäude, dem Kunstforum Ingelheim.
Mit 90 Werken – Zeichnungen, Aquarellen, Druckgrafik und einigen beispielhaften Gemälden – werden Einblicke in die fünf wichtigsten Stationen eines der einflussreichsten Künstler in Deutschland gewährt.
Mit dieser Ausstellung „Ernst Ludwig Kirchner. Stationen“ verabschiedet sich Dr. Ulrich Luckhardt nach 11 Jahren als Leiter von den Internationalen Tagen in den Ruhestand. Seine Nachfolge übernimmt nun ab Juli 2023 Dr. Katharina Henkel, die für das kommende Jahr eine Ausstellung mit dem Thema Zuhause kuratiert: rund 100 Werke beleuchten in einem zeitlichen Bogen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute das alltägliche Tun und rücken positiv wie negativ besetzte Tätigkeiten, Beschäftigungen oder Situationen im Zuhause in den Fokus und veranschaulichen die verschiedenen Bedeutungsebenen, die der private Ort hat, aber nicht haben muss (28.4. – 7.7.2024).
Vom 30. April bis 9. Juli 2023 zeigt das Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus im Rahmen der Internationalen Tage Ingelheim die Sonderausstellung „Ernst Ludwig Kirchner.Stationen“.
Schon lange habe er Ernst Ludwig Kirchner als „prägende Figur des deutschen Expressionismus“ eine Ausstellung widmen wollen, freut sich der langjährige Leiter der Ingelheimer Tage Dr. Ulrich Luckhardt, dass es nun doch noch geklappt hat. Denn immer sei etwas dazwischen gekommen, zunächst die von ihm begleitete Renovierung und Erweiterung des Alten Rathauses zum „Kunstforum Ingelheim“, und schließlich Corona. Jetzt aber, kurz bevor er in Rente ginge und die Leitung der Ingelheimer Tage im Sommer 2023 an seine Nachfolgerin Dr. Katharina Henkel übergebe, sei sein Herzenswunsch doch noch in Erfüllung gegangen: Gemeinsam mit der Kuratorin Dagmar Lott ist ihm erstmals gelungen, das künstlerische Schaffen von Ernst Ludwig Kirchner (1880 – 1938) in einer monografischen Ausstellung im Rahmen der Internationalen Tage in Ingelheim zu präsentieren. Mit über 90 Werken – Zeichnungen, Aquarellen, Druckgrafik und einigen beispielhaften Gemälden sowie einer Medienstation mit rund 11 000 abrufbaren Skizzen – werden Einblicke in die wichtigsten Stationen eines der einflussreichsten Künstler in Deutschland gewährt. Die Präsentation ist für die Räumlichkeiten im Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus konzipiert und zeigt in fünf Ausstellungsräumen, die sich über drei Etagen verteilen, fünf für Kirchner und seine Kunst einschneidende Stationen. Das gesteckte Ziel, mit der Ingelheimer Ausstellung „Ernst Ludwig Kirchner. Stationen“ Kirchners künstlerisches Werk und Leben mit prägnanten Beispielen von höchster Qualität sichtbar zu machen, ist bestens gelungen. Ausgewählt wurden Motivgruppen, denen sich Kirchner in der jeweiligen Entstehungszeit besonders intensiv widmete und die seine thematische wie stilistische Entwicklung exemplarisch verdeutlichen.
Ausstellungsrundgang:
Die Ausstellung erschließt sich am besten chronologisch, beginnend mit Station 1 im Untergeschoss, endend mit Station 5 im zweiten Obergeschoss (ein Aufzug sorgt für Barrierefreiheit). Im Foyer des 2. Obergeschosses befindet sich zudem die Medienstation mit annähernd 11 000 eingescannten Skizzen aus Kirchners Skizzenbüchern, die per Touch-Screen abgerufen werden können.
1.Das Atelier als Ort der Freiheit
Die erste Station heißt Dresden: Das Atelier als Ort der Freiheit. Kirchner ist Architekturstudent, in Wohngemeinschaft mit seinen Kommilitonen Fritz Bleyl und Erich Heckel. Später stößt Karl Schmidt Rottluff dazu. „Die haben“, so Kuratorin Dagmar Lott, „einen wundervollen Lehrer Fritz Schuhmacher“, der ihnen an der reformorientierten Hochschule Dresden das Freihandzeichnen lehrt und ihnen Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ und „die Gedanken von Freiheit und auch von Reduktion“ vermittelt, „sozusagen als junger Mensch aus der wilhelminischen Gesellschaft auszubrechen“.
Ganz im Geiste der „Jugend- und Lebensreformbewegung“, ihre tatsächlichen schöpferischen Gestaltungskräfte zu befreien, verlassen die jungen Leute ihr Architekturstudium, um Künstler zu werden, freie Künstler. Kirchner hat bereits sein Architektur-Vor-Diplom zum Thema Friedhofsgestaltung in der Tasche. Aber ihr Freiheitsdrang, zur eigentlichen Bestimmung des Menschen vorzudringen, ist stärker. „Das lässt sich in der damaligen Gesellschaft natürlich eigentlich nur in intimen Raum des Ateliers ausleben, und so entstehen diese Ateliersszenen, wie sie in diesem großen Raum 1 zu sehen sind, in denen diese jungen Menschen nackt, ganz frei , sich undressiert von akademischen Vorgaben bewegen und zeichnen“, erklärt die Kuratorin bei der Presseführung.
Besonders in den großformatigen Blättern sehe man Kirchners talentierten Schwung im Gestus, der auch frei sei von akademischen Vorgaben, so Lott. Kirchners „Figuren werden mit großer Bewegung auf das Blatt gelegt, womit eine Natürlichkeit erzeugt werde, die eben zum krassen Gegensatz zu den damaligen Akademievorgaben stünde und eben diesen Freigeist-Willen der jungen Menschen zum Ausdruck bringe“, so Lott.
Um sich und ihrer neuen „befreiten“ Kunst mehr Gewicht zu verleihen, proklamierten die jungen Rebellen ihren Freiheits- und Führungsanspruch sowie ihre Opposition gegenüber der akademischen Kunst durch die Gründung der „Künstlergruppe Brücke“ am 7. Juni 1905 in Dresden. „Name und Signet sollen ihren Weg zu neuen Ufern symbolisieren und zudem auf einen Satz Nietzsches zurückgehen: ‘Was groß ist am Menschen, das ist, daß er eine Brücke und kein Zweck ist‘“ (zit.n.:Dagmar Lott in Ausstellungskatolg: Ernst Ludwig Kirchner. Stationen, München 2023, S.16)
Zum unkonventionellen Arbeiten gehört auch, dass man keine professionellen Modelle im Atelier hat, sondern das die Freundinnen und Freunde oder auch man selbst durchaus Modell ist.
Gleich in der 1. Station gibt es ganz wichtige Werke aus dieser frühen Schaffensphase Kirchners. „Und wir haben eine Inkunabel der Kunstgeschichte, nicht nur abgebildet auf dem Katalog zur Ausstellung, sondern auch hier aus einer Privatsammlung“. Dabei handelt es sich um die Lithografie: „Dodo mit japanischen Schirm‘,“. Dodo steht für Doris Grosse, der Lebensgefährtin Kirchners in Dresdner Zeit. Die Lithographie eine von 6 Exemplaren, die 1909 entstanden, erklärt Dr. Ulrich Luckhardt. Jedes Exemplar sei anders, da Kirchner diese Farbtinktur von einem einzigen Stein (Tuffstein) gemacht habe. Bei diesem Exemplar zeige sich die Farbigkeit besonders schön.
Im Verlauf der Zeit verwischen Atelier- und Privatleben der jungen Künstler zusehends. Es ist ein „Schaffen aus dem Eros heraus“, so Koll, das einigen Künstlern in dieser Zeit wichtig sei, und das eben die Kunst revolutionieren soll aus dem Gefühl heraus, unter Ausschaltung der Ratio und der Ausschaltung der zivilisierten Vernunft zu schaffen. Die Libertinage des reinen Umgangs zwischen Mann und Frau spiele eine große Rolle, und die Freiheit, die man sich im Atelier eben nehme, um frei schaffen zu können. Nicht selten, so behauptete Kirchner, verschmelzen Liebes- und Schaffensakt. (Koll ebenda, S.18).
Es geht um die Unmittelbarkeit des Schaffens, um noch einmal an eine vorzivilisierte Form des Kunstschaffens zurück zu finden. Dieses Zurückgehen zum ursprünglichen Schaffen, zum Ursprünglichen des Menschseins überhaupt, symbolisieren insbesondere auch die archaischen Artefakte mit ethnologischen Vorbildern, mit afrikanischer oder pazifischer Kunst, festgehalten in Druckgrafiken wie: „Sitzender weiblicher Akt auf geschnitzten Sessel, 1910“ und „Sam und Milly im Atelier sitzend“, 1910. Der „geschnitzte Sessel“ ist ein Hocker aus Kamerun.
Sam und Milly, beide in Dresden in einer Völkerschau aufgetreten, faszinierten Kirchner in ihrer Ursprünglichkeit unglaublich. Er habe sich „von der Ursprünglichkeit dieser Weiblichkeit persönlich leiten lassen. Er hat die beiden ins Atelier eingeladen. Er hat sie gezeichnet, er hat sie gemalt, und er sie fotografiert, und sie waren über einen gewissen Zeitraum Teil seines Ateliers“, so Luckhardt. Kirchner habe immer wieder beobachtet, wie sie so ungezwungen wie nur irgend möglich, und ungekünstelt sich bewegt und verhalten haben.
2.Station: Berlin. Straßenszenen
1911 zieht es Kirchner nach Berlin. Sein Brücke-Kollege Max Pechstein war ihm schon vorangegangen, Heckel und Schmidt-Rottluff folgen nach. Dort gibt es viele neue Kunstforen, und vor allen Dingen Galeristen, auch Privatsammler, die sich für moderne Kunst interessieren. Es ist die Faszination der Großstadt, in der es Kirchner aus dem Atelier nach draußen zieht, er sich ins Getümmel schmeißt, und das unmittelbare, pulsierende Leben der Straße, die Energie dort aufsaugt.
„In Berlin sind die Straßen und die Modernität, die sich dort abspielt, und die Bewegung, dieser Puls der Großstadt, sein Thema“, so Lott. Kirchner entdeckt die Passanten auf den Straßen, und beobachtet, so Luckardt, dass die Passanten durchaus auf der Straße ihrer Tätigkeit nachgehen, als Kokotte, als Prostituierte, und die Männer, die als potentielle Freier diese Kokotten – wie in „Straßenszene“ (1913) festgehalten – umschwärmen. Kirchner hält seine Eindrücke in rasch dahin geworfenen in Skizzen fest, erklärt der Kurator. Diese fast kaum lesbaren blassen Zeichnungen, insgesamt um die 11 000, seien für Kirchner Ausgangspunkt für weitere Ausarbeitungen, teilweise als Rohrfederzeichnung , teilweise mit dem Pinsel, auch farbig und teilweise als Druck, so Luckhardt.
In Berlin verändert Kirchner merklich seinen Stil, der jetzt kantiger, eckiger und nervöser ist, und „nicht mehr der fließende, runde, liebliche, an Jugendstil erinnernde Strich der Dresdner Zeit“, erzählt Luckhardt. Ein Highlight der Ausstellung, und absoluter Höhepunkt in Kirchners Werk ist der seltene Druck „Fünf Kokotten auf der Straße“ (1913/1914). Kirchner sei es exzellent geglückt, diese Nervosität eins zu eins umzusetzen bei seiner direkten Zeichnung auf Stein. Seine Berliner Straßenszenen (1913/1914) zeigen zudem das Denken, das Kirchners Freund Alfred Döblin später in seinem Roman „Berlin Alexanderplatz“ festhält.
Station: Fehmarn. Einheit von Mensch und Natur
Parallel zum pulsierenden Berliner Leben entflieht Kirchner immer wieder mit Lebensgefährtin Erna dieser Großstadt jeweils für mehrere Wochen im Sommer auf die Insel Fehmarn. Es ist eine Flucht aus diesem Getümmel der Zivilisation, und ein sich erden, das hier wieder stattfindet. Beide Pole bedient Kirchner in dieser Zeit. Fehmarn sei so etwas wie Kirchners Südsee gewesen, erzählt Luckhardt. Während seine Brücke-Kollegen Max Pechstein, Paul Gauguin oder Emil Nolde in die Südsee reisen, reicht ihm der Südosten Fehmarns, um Formen von Ursprünglichkeit wieder zu erleben. Auf dem touristisch weitgehend noch unerschlossenen Inselteil eröffnen sich ihm immer wieder Momente der ersehnten Einheit von Mensch und Natur, die miteinander verschmelzen. „Kirchner nutzt nahezu jede Gelegenheit, um seine Freundin zu zeichnen oder zu malen, zumeist unbekleidet, am Strand, im Wasser, allein oder mit anderen. (…) Es sind die Tage der Fehmarn-Aufenthalte, die zu einer Veränderung der Beziehung zu Erna, aber offensichtlich auch in seiner künstlerischen Einstellung führten.“ (Koll ebenda, S.21/22) Auf Fehmarn „nähert Kirschner sich der Landschaft, der Vegetation, den Alleen, den Bäumen, die er ebenso, ja fast mit ekstatischen Strichen zu Kompositionen zeichnet, die er dann auch ähnlich ekstatisch in Holzschnitt umsetzt“, erklärt Luckhardt. Das raue Wetter und das Treiben der Badenden inspirieren Kirchner zu einer großen Anzahl von Zeichnungen und Druckgrafiken, die zum wichtigsten Teil seines gesamten Schaffens zählen, und beispielhaft in der Ausstellung gezeigt werden.. Kirchner hat auf Fehmarn auch viel fotografiert, einige Aufnahmen sind im Ausstellungs- Katalog abgedruckt.
Station: Krise
Mit Ausbruch des Ersten Welt-Krieges 1914 endet abrupt Kirchners Ostsee-Idylle, da Fehmarn zur Militärzone erklärt wird, so dass das Künstlerpaar die Insel verlassen muss. Hierdurch gerät er in eine schwere psychisches Krise. Der Einfluss der Krise auf Kirchners Schaffen ist Thema von Station 4. Kirchner, zunächst eher überrascht vom Kriegsausbruch, entwickelt zunehmend extreme Ängste, als Soldat eingezogen und im Krieg getötet zu werden. Er meldet sich jedoch freiwillig zum Kriegsdienst, weil er hofft, damit die Waffengattung selbst auswählen zu können, vielleicht Sanitäter oder Kriegsmaler oder irgend so etwas werden zu können, um vom direkten Fronteinsatz verschont zu bleiben. Stattdessen aber landet Kirchner bei der berittenen Kavallerie. Die kurze Militärzeit wird für ihn ein Martyrium, welches er mit Morphium ähnlichen Schlafmitteln (Veronal) und Alkohol (Absinth) zu betäuben versucht. Infolge dessen entwickelt er eine Psychose. Für den Militärdienst inzwischen völlig unbrauchbar, wird er vom Dienst befreit und nacheinander in verschiedene Sanatorien eingeliefert. Diese bieten ihm erst mal einen Schutzraum.
Innerhalb seines künstlerischen Schaffens stellt diese Phase der Krise eine Zäsur dar. Als Patient von Sanatorien in Königstein im Taunus, in Berlin Charlottenburg und zuletzt in Kreuzlingen am Bodensee, dokumentiert der Künstler mit eindringlichen Selbstbildnissen seine desolate innere Verfassung. Im Holzschnitt „Kopf des Kranken. Selbstbildnis als Kranker“ (1917) wird sein „Ausnahmezustand“ dargestellt durch anatomisch verdrehte, tiefkerbige und als Holzringe gezeichnete Gesichtszüge. Seine verkrampften Hände deuten auf Lähmungen hin, unter denen er litt.
Was Kirchner aber auszeichne, sei, so Luckhardt, seine Klarheit im Kopf. Kirchner habe in dieser Zeit sogar einen farbigen Holzschnitt-Zyklus zu »Peter Schlemihls wundersame Geschichte« des romantischen Dichters Adelbert von Chamisso gefertigt. Kirchner gab Peter Schlemihl, mit dem er sich identifiziert, sein Gesicht. Die Geschichte: Schlemihl verkauft an graue Männchen seinen Schatten, entledigt sich hierdurch seiner Persönlichkeit, wird zu einem Niemand, ungeliebt und einsam.
All diese Stationen „Der Verkauf des Schattens“, „Die Geliebte“, „Kämpfe“ (Qual der Liebe)“, „Schlemihl mit der Einsamkeit des Zimmers“ usw. illustriert Kirchner mittels farbiger Drucke. Nur die letzte Episode, die positive Wendung in Peter Schlemihls Leben, als dieser seinen Schatten und damit sein Leben wieder zurück erhält, lässt er aus. Kirchner interpretiert die Geschichte aus seinem schlimmen Zustand heraus, in dem eine gute Fügung nicht vorkommt. Für Kirchner gibt es also keine Erlösung wie für Schlemihl.
Von seiner ausweglos empfundenen Verzweiflung zeugen all seine schrecklichen Selbstporträts, etwa -„Selbstbildnis im Morphiumrausch“ oder „Selbstbildnis im Tanz mit dem Tod“. (1917). „Das sind unglaubliche Zeugnisse einer Selbstwahrnehmung als Kranker und als ein Leidender und als ein Gefährdeter“, so Luckhardt.Übrigens reihte sich Kirchner mit seinen Selbstbildnissen ein in eine Galerie berühmter „Einzelgänger“, die er in den Sanatorien in Königsstein und Kreuzlingen porträtierte. Darunter waren der Architekt Henry van de Velde, der Komponist Otto Klemperer, der Schriftsteller Carl Sternheim und die Psychiater Ludwig Biswanger und Oskar Kohnstamm.
Station: Davos. Die neue Lebenswelt
Erst in der Schweizer Bergwelt, ab 1917 auf der Stafelalp nahe Davos-Frauenkirch, findet Kirchner, zeitweise an Händen und Beinen gelähmt, nach längeren Aufenthalten Ruhe und neue Inspiration. Vorgesehen für einen längeren Aufenthalt mietet er mit seiner Lebensgefährtin Erna Schilling im September 1918 in der Hofgruppe „In den Lärchen“ ein Haus. Zunächst an Armen und Beinen gelähmt, beobachtet er, umgeben von der mächtigen Bergwelt, das einfache Leben seiner Nachbarn. Überwältigt von der Mächtigkeit der Natur, fernab vom Kunstgeschehen, entstehen hier monumentale Gebirgslandschaften und weitere zahlreiche Bilder vom Leben der Menschen und ihrer Tiere. Kirchners Stil beruhigt sich, und er findet zu einer neuen Farbigkeit. 1920 kann seine Lebensgefährtin Anna Schilling sein Atelier in Deutschland auflösen und nach Davos-Frauenkirch umziehen mit Druckpresse, Werkarchiv, exotischen Einrichtungsgegenständen.
Die Heilkraft der Bergwelt – Kirchners neue Schaffensphase
Mit der Übersiedlung in diese völlig andere, ihn jetzt umgebende Hochgebirgs-Umgebung „findet Kirchner zu neuer Schaffenskraft und einer Motivik, die sein Naturerlebnis und die Beziehung zu den Einheimischen ins Zentrum rücken, die das Naturerlebnis und die ihn umgebenden Menschen miteinander verbindet“, so Luckhardt.
In Station 5 der Ausstellung werden wichtige Schlüsselwerke wie „Drei Wege, Stafelalp“ (2017), „Winternacht“ (1919), „Wettertannen“ (1919) u.ä. aus den frühen Jahren Kirchners in Davos gezeigt, „wo er als kranker Mann hinkommt, und dann aber doch noch ein eigenständiges Spätwerk entwickelt. Auch diese Schaffensphase ist geprägt von der Suche nach dem Ursprünglichen, nach dem Einklang von Mensch und Natur. Auchin Davos ist es wieder die Vegetation, aber dieses Mal sind es die Bergwälder, die Bauern, ihre Tiere und die Farbwelten, die er in Zeichnungen, Holzschnitten und Drucken festhält“, so Luckhardt.
„Er beobachtet nicht nur, sondern solche Situationen wie sie hier im Holzschnitt und in der Zeichnung zu sehen sind, zeigt, dass es eine Welt ist, die ihn berührt, die ihn zum Schaffen bringt. Wie es im Atelier der Eros war, ist es jetzt das Naturerlebnis, die Größe, die Erhabenheit der Natur, die ihn zum Schaffen bringt“, ist auch für Dagmar Koll ein Phänomen. Es erscheint fast wie ein Wunder, bedenkt man, dass dieser Mann 2017 zum Teil so gelähmt war, dass er nicht mehr laufen konnte.
Gefühle von Ausweglosigkeit treiben Kirchner in den Selbstmord
Aber es nimmt dennoch mit ihm alles ein trauriges, und ein zu frühes Ende. Denn Kirchner beobachtet natürlich seit 1933 die politischen Vorgänge in Deutschland. Er kann es nicht fassen, dass er nun nicht mehr ein wichtiger, sondern ein sogenannter entarteter Künstler ist, dessen Werke aus Museen entfernt und einige davon auf sogenannten Schauen „entarteter Kunst“ präsentiert wurden. Seine Ängste kumulieren , insbesondere als 1938 Gerüchte umgehen, dass die Deutschen nach dem sogenannten Anschluss Österreichs eventuell auch in die Schweiz einmarschieren. Hier wäre es also dann auch nicht mehr sicher. Kirchner gerät in Panik, greift wieder zu Alkohol, wieder zu Morphium-ähnlichen Medikamenten, und er verfällt wieder in eine Art Psychose, die ihn schließlich in den Selbstmord treibt. Seine Ängste sind nachvollziehbar, wenn man weiß, dass das Zentrum einer kleinen nationalsozialistischen Bewegung in der Schweiz ganz in seiner Nähe von Davos war. Aus Sorge, auch sie könne Opfer werden, hatte Kirchner versucht, seine Lebensgefährtin Erna zum Selbstmord als bessere Alternativ zu überreden. Das lehnte diese jedoch ab. Kirchner erschoss sich am 15. Juni 1938 vor seinem Haus und wird auf dem Davoser Waldfriedhof beigesetzt.
„Es ist eine Situation der Ausweglosigkeit, das haben wir versucht, auch im Katalog darzustellen, Kirchner hat deswegen so viele Stationen immer wieder ausprobiert, um sich selbst künstlerisch weiterzuentwickeln, aber natürlich auch mit der Sehnsucht, ein bedeutender deutscher Künstler zu sein. Er ist immer wieder an Orte gegangen, wo er sein Potential entwickeln konnte, und an diesem Punkt 1938 in Davos sah er keinen Ausweg mehr. Also es war kein selbstdestruktiver Akt, sondern es war diese Situation: Keine weitere Station mehr vor sich zu haben.“, analysiert Koll seine Beweggründe. In dieser letzten Phase werden seine Zeichnungen und Drucke wieder düsterer.
Mit der Ausstellung „Ernst Ludwig Kirchner. Stationen“ verabschiedet sich Dr. Ulrich Luckhardt nach über 10 Jahren von den Internationalen Tagen in den Ruhestand. Seine Nachfolge mit der Leitung wird zum 1. Juli 2023 Dr. Katharina Henkel übernehmen, die bereits Anfang dieses Jahres ihre Tätigkeit offiziell aufgenommen hat.
Katalog Diesen Katalog sollte man unbedingt zur Ausstellung dazu nehmen, um weitere Hintergrundinformationen über Ernst Ludwig Kirchners Schaffen und Leben zu erfahren, und in der Ausstellung Gesehenes nochmal nachlesen und vertiefen zu können. Oder: Man liest vorher darin, und geht dann durch die Ausstellung.
Der Katalog kann praktisch wie ein Ausstellungsführer verwendet werden. Mit über 90 zumeist farbigen Zeichnungen, Aquarellen, Druckgrafik und Gemälden von Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) werden Einblicke in die wichtigsten Werkgruppen und Lebensetappen eines der bedeutendsten und einflussreichsten Künstler in Deutschland gewährt. Darunter: Atelierbilder, Straßenszenen, Badende, Selbstporträts und bäuerlich geprägte Bergwelt.
Gut verständliche Texte in komprimierter Form gehen dabei Fragen nach, wie sich Kirchners Lebensstationen, geographische Veränderungen und neue Motivgruppen in seinem Werk niederschlagen? Der reich bebilderte Band veranschaulicht den engen Zusammenhang von Orts- und Themenwechsel in seinem Oeuvre: Dresden als Impuls der Freiheit für die künstlerische Entwicklung des jungen Kirchner und Berlin als Inspiration für seine berühmten Straßenszenen, Fehmarn als Idylle einer Sehnsucht nach Einheit von Mensch und Natur, der erste Weltkrieg als Phase von Krise und Sanatoriumsaufenthalten und schließlich Davos als neue Lebenswelt.
Ernst Ludwig Kirchner. Stationen. Hg. Ulrich Luckhardt mit Beiträgen von M. Hoffmann, D. Lott, U. Luckhardt, K. Müller, T. Röske, A. Soika
176 Seiten, 100 Abbildungen in Farbe 21 x 27 cm, gebunden erschienen im Hirmer-Verlag München, 34,90 Euro ISBN: 978-3-7774-4198-6
Erstmals wird das künstlerische Schaffen von Ernst Ludwig Kirchner (1880 – 1938) im Rahmen einer monografischen Ausstellung im Rahmen der Internationalen Tage in Ingelheim präsentiert. Mit über 90 Werken – Zeichnungen, Aquarellen, Druckgrafik und einigen beispielhaften Gemälden – werden Einblicke in die wichtigsten Stationen eines der bedeutendsten und einflussreichsten Künstler in Deutschland gewährt.
Angepasst an die Ausstellungsfläche des Kunstforums Ingelheim –Altes Rathaus – sieht das Konzept der Kuratoren Dr. Ulrich Luckhardt und Dagmar Lott M.A. eine auf fünf Räume präzise zugeschnittene Auswahl an Werken vor, die einen Einblick in das Schaffen Kirchners ermöglicht. Jeder der Ausstellungsräume veranschaulicht eine »Station« im Leben und im künstlerischen Wirken des Künstlers. Ausgewählt wurden Motivgruppen, denen sich Kirchner in der jeweiligen Entstehungszeit besonders intensiv widmete und die seine thematische wie stilistische Entwicklung exemplarisch verdeutlichen.
1. Station: Dresden. Das Atelier als Ort der Freiheit
Für den jungen Künstler, der in Dresden Architektur studierte, ist es zunächst das Atelier, das ihm als Ort der Freiheit Raum für ein ungezwungenes Leben und künstlerisches Schaffen bot. Weibliche und männliche Modelle, die sich freizügig im Atelier Kirchners bewegen und zeichnen lassen, stehen im Zentrum der Jahre 1908 bis 1910. Eine wichtige Rolle zwischen den kleinen, intimen Darstellungen und den Gemälden spielen dabei großformatige Zeichnungen und Holzschnitte, mit denen Kirchner bildmäßige Kompositionen schafft.
2. Station: Berlin. Straßenszenen
Bereits vor seinem Umzug nach Berlin 1913 verändert sich Kirchners Stil, weg von der fließenden Linie hin zu einer kantigeren Bildsprache. Diese kommt ihm bei den Berliner Straßenszenen entgegen, in denen er auf ungewöhnliche Weise die Beziehungen zwischen Kokotten und ihren Freiern beobachtet.
3. Station: Fehmarn. Einheit von Mensch und Natur
Der Großstadt entfliehend, findet Kirchner seit 1912 eine quasi exotische Idylle auf der Ostseeinsel Fehmarn, wo er seine Vorstellungen von der Einheit von Mensch und Natur verwirklicht sieht. Das manchmal raue Wetter und das Treiben der Badenden inspirieren Kirchner zu einer großen Anzahl von Zeichnungen und Druckgrafiken, die zum wichtigsten Teil seines gesamten Schaffens zählen.
4. Station: Krise
Eingezogen als Soldat im Ersten Weltkrieg stürzt Kirchner in eine schwere psychische Krise, die eine Zäsur in seiner Kunst darstellt. Als Patient der Sanatorien in Königstein und Kreuzlingen dokumentiert der Künstler mit eindringlichen Selbstbildnissen seine desolate innere Verfassung. Symbolhaft dafür ist auch die Folge der farbigen Holzschnitte zu Adalbert von Chamissos „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ zu sehen.
5. Station: Davos. Die neue Lebenswelt
Mit dem ersten Aufenthalt im schweizerischen Davos im Sommer 1917 verändert sich Kirchners Situation grundlegend. Zur Erholung verbringt er einige Wochen auf der hochgelegenen Stafelalp, umgeben von der monumentalen Bergwelt und den Bauern, die sich als Nachbarn um den Künstler kümmern. Mit der endgültigen Übersiedlung in die Umgebung von Davos im folgenden Jahr findet Kirchner zu neuer Schaffenskraft und einer Motivik, die sein Naturerlebnis und die Beziehung zu den Einheimischen ins Zentrum rückt.
Das Ziel der Ingelheimer Ausstellung „Ernst Ludwig Kirchner. Stationen“ ist es, die fünf wichtigen Abschnitte in Kirchners künstlerischem Werk und Leben mit prägnanten Beispielen von höchster Qualität zu präsentieren. Die Schau umfasst über 90 Werke, die aus öffentlichen wie privaten Sammlungen in Deutschland und der Schweiz als Leihgaben zur Verfügung gestellt werden.
Im Frühjahr 2023 erscheint im HIRMER Verlag ein umfangreicher Katalog, in dem alle ausgestellten Werke farbig reproduziert sind.
Ernst Ludwig Kirchner. Stationen
30. April bis 9. Juli 2023
Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus
François-Lachenal-Platz 1, 55218 Ingelheim am Rhein
Die Ausstellung der Internationalen Tage widmet sich 2022 dem norwegischen Künstler Edvard Munch. Der 1863 geborene Künstler entwickelt sich schnell zu einem der bedeutendsten und einflussreichsten Maler und Grafiker der frühen Moderne in Europa.
Nach einem kurzen Kunststudium in Christiania (heute Oslo) zieht es Edvard Munch 1889 erstmals nach Paris, wo er sich mit dem Symbolismus des ausgehenden Jahrhunderts auseinandersetzt. Persönliche Schicksalsschläge wie der frühe Tod der Mutter und einer Schwester, aber auch unglückliche Beziehungen zu Frauen, prägen schon früh Munchs künstlerisches Werk. So ist die Beziehung der Geschlechter mit den Facetten von Glück und Angst, Erwartung und Sehnsucht Grundthema seiner Kunst, die sich nach der Wende zum 20. Jahrhundert mehr und mehr vom Symbolismus löst. Munch entwickelt nun eine eigene psychologische Bildsprache zwischen tief empfundener Melancholie, Einsamkeit und Todesangst. Als diese Werke erstmals 1892 in Deutschland im Verein Berliner Künstler in Berlin ausgestellt werden, lösen sie einen Skandal aus, der zur Schließung dieser Ausstellung führt.
Gefeiert von der jungen Generation von Künstlern, Literaten und Intellektuellen begründet sich so Munchs großer Einfluss nicht nur auf die bildende Kunst in Deutschland.
Neben der Malerei entsteht seit 1894 weitgehend autodidaktisch ein sehr umfangreiches druckgrafisches Werk, das die Themen der Gemälde aufnimmt. In ihrer technischen Perfektion und den einzigartigen Experimenten, unterschiedliche Druckverfahren miteinander zu kombinieren, wird Munchs druckgrafisches Werk zu einem künstlerischen Höhepunkt in diesem Genre.
Anhand von ca. 90 oftmals farbigen Werken – Radierungen, Lithografien, Holzschnitte und Hektografien – zeigt die Ausstellung einen Überblick über das Werk von Edvard Munch. Auf die Räumlichkeiten im Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus zugeschnitten, entstehen fünf motivisch bzw. thematisch ausgerichtete Räume.
Beginnend mit dem Geschlechterverhältnis von Mann und Frau, von Männerfantasien über die Annäherung und die innige Liebe bis hin zu Trennung und dem gemeinsamen Tod, wird hier ein Bogen des Lebens visualisiert. Zusammen mit den Selbstporträts zeugen die Bildnisse der Literaten wie Henrik Ibsen und August Strindberg oder des Komponisten Frederick Delius Munchs enge Verbindungen in andere künstlerische Bereiche. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Melancholie und Einsamkeit von Menschen, sowohl in Innenräumen wie vor der offenen Meereslandschaft, wobei diese zum tiefgründigen Ausdruck der menschlichen Seele werden. Das Seelenleben ist auch zentrales Thema in den Werken, die sich mit Angst, Krankheit und Tod auseinandersetzen, wobei das Motiv des kranken Kindes im Mittelpunkt steht. Am Ende werden Darstellungen von Frauen gezeigt, die Munch zu begehrten Madonnen stilisiert, oder die als „Vampyr“ und „Harpye“ auch eine Todesgefahr für ihn veranschaulichen.
Die diesjährige Ausstellung zeigt Werke, die von einer Reihe von Museen und aus Privatsammlungen zur Verfügung gestellt werden.
Edvard Munch. Meisterblätter 1. Mai bis 10. Juli 2022 Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus François-Lachenal-Platz 1,
55218 Ingelheim am Rhein
Empfehlenswerter Begleit-Katalog : Edvard Munch. Meisterblätter
21 x 27 cm, 100 Abbildungen in Farbe. herausgegeben von Ulrich Luckhardt und Texte von Uwe M. Schneede. Hirmer Verlag GmbH, 160 Seiten, 29,90 Euro. ISBN: 3777439843
EAN: 9783777439846
Die exzellenten Abbildungen erläutert ein fundierter Text von Uwe M. Schneede. Sein umfangreiches druckgrafisches Werk bildet in technischer Perfektion und der einzigartigen Kombination unterschiedlicher Druckverfahren einen künstlerischen Höhepunkt dieser Gattung. Der Band stellt beliebte Themen seines Schaffens anhand herausragender Arbeiten vor. Die exzellenten Abbildungen erläutert ein fundierter Text von Uwe M. Schneede.
Im Werk von Paul Klee (1879 – 1940) spielt die Darstellung von Tieren eine besondere Rolle. Mit großer Freude an der Zeichnung und mit hintergründigem Humor erforscht der Künstler die Grenzen zwischen der Vermenschlichung der Tiere und der „Vertierung“ des Menschen. Klees Tierdarstellungen bewegen sich zwischen der Erkundung der Natur und der Erschaffung neuer geheimnisvoller Kreaturen. Mit humorvollen Kommentaren zum vielschichtigen Verhältnis von Mensch und Tier lässt sich Klee durch die unerschöpfliche Formenvielfalt der Natur anregen und interpretiert spielerisch ihre typischen Rollen, Eigenschaften und Verhaltensweisen.
Die Internationalen Tage Ingelheim zeigen dieses tierische Universum Klees erstmals in Deutschland. Dabei werden viele Facetten der Beziehungen zwischen Mensch und Tier, bzw. auch umgekehrt, aufgezeigt. Sie verdeutlichen, mit welcher Intensität und spielerischer Hintergründigkeit der in der Schweiz geborene Bauhauskünstler Paul Klee (1879 – 1940) in seinem gesamten künstlerischen Schaffen das Tierische im Menschen und das Menschliche im Tier hervorhebt. Die Ausstellung präsentiert sich in den thematischen Werkgruppen „Mensch und Tier“, „Mischwesen“, „Katzen“ (dem Lieblingstier von Klee), „Vögel“ und dem „URCHS“, einer vom Künstler erfundenen Tierart.
Mit seinen zutiefst menschlichen Tieren und vertierten Menschen hinterfragt Paul Klee unser Verständnis zueinander und schafft eine irritierende, bisweilen ironische Distanz, deren Betrachtung oft schmunzeln lässt.
Zur Ausstellung erscheint im August 2020 ein wunderbarer Begleitband: Ulrich Luckhardt, Nina Zimmer (Hrsg.), Text von Myriam Dössegger: Paul Klees Bestiarium – fantasievolles Spiel mit dem Wesen von Tier und Mensch. Hirmer Verlag, München 2020, 144 Seiten, 120 Abbildungen in Farbe
22 x 26 cm, gebunden, 24,90 €, ISBN: 978-3-7774-3526-8
Die Renovierung und zeitgenössische Erweiterung des Alten Rathauses am FrancoisLachenal-Platz in Nieder-Ingelheim sind nach zwei Jahren intensiver Bautätigkeit abgeschlossen. Das Ensemble wird ab dem 12. August 2018 unter dem neuen Namen „Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus“ wiedereröffnet. Das frisch sanierte und mit einem Anbau ergänzte und modernisierte Gebäude, das 1982 zuletzt umgebaut und zum Ort für Ausstellungen eingerichtet wurde, bietet in diesem Jahr nun Gelegenheit, historische Architektur und Kunst in einer neuen Symbiose zu erleben.
Die Ausstellung „Mensch! Skulptur“ vereint 12 unterschiedliche bildhauerische Positionen, in denen jeweils die künstlerische Auseinandersetzung mit dem menschlichen Körper im Mittelpunkt steht. Ausgehend von einer realistischen Darstellung werden unterschiedliche Wege aufgezeigt, die die Entwicklung der dreidimensionalen Körperlichkeit hin zur Abstraktion dokumentieren.
Anhand von Motivgruppen wie stehenden, sitzenden oder liegenden menschlichen Körpern und Figuren in tänzerischer Bewegung oder einzelnen Gliedmaßen wie dem Kopf und den Händen wird eine facettenreiche Auswahl gezeigt, die Museen und Privatsammler aus Deutschland, Großbritannien und der Schweiz nach Ingelheim ausleihen.
Die Öffnungen der Rundbogenfenster des Alten Rathauses werden einsichtig sein, so dass der Außenraum der rheinhessischen Landschaft, die Architektur des Alten Rathauses und die Wirkung der Skulpturen im wechselnden Licht in besonders intensiver Weise erlebbar werden. Das einfallende Tageslicht verändert sowohl die Ausstellungsräume als auch die Objekte mit ihren unterschiedlichen Oberflächen. Im Streiflicht – eine ideale Voraussetzung, um Skulpturen zu sehen – wird die dritte Dimension, die Plastizität, und der umgebende Raum zu einer Einheit. Die Objekte entfalten so ihre volle Wirkung und werden den Betrachter in ihren Bann ziehen. Insgesamt werden rund 60 Skulpturen aus Marmor, Bronze oder Terrakotta zu sehen sein.
Die Konzentration auf Skulpturen, die den menschlichen Körper darstellen, hat der Kurator und Leiter der Internationalen Tage Dr. Ulrich Luckhardt mit Bedacht gewählt. Anhand einzelner Motiv- und Themengruppen werden die Entwicklungen und Veränderungen anschaulich, die sich in der Skulptur von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis ca. 1960 ergeben. Es ist der Weg von der realistischen Auffassung des menschlichen Körpers als Einheit hin zur Reduktion abstrakter Flächen oder organischer Formen. Den Besuchern wird durch vergleichendes Sehen die Möglichkeit gegeben, diese Schritte nachzuvollziehen.
Die Auswahl der zwölf Künstler – Alexander Archipenko, Max Beckmann, Rudolf Belling, Edgar Degas, Alberto Giacometti, Georg Kolbe, Henri Laurens, Wilhelm Lehmbruck, Aristide Maillol, Henry Moore, Pablo Picasso, Auguste Rodin – führt den Formenreichtum der Skulptur der letzten hundert Jahre vor Augen.
„Mensch! Skulptur“ stellt nach der Schau „Figuren Afrikas“ (2002) ein weiteres Mal bei den Internationalen Tagen dreidimensionale Kunstwerke in das Zentrum einer Ausstellung.
Der Katalog, in dem die Inszenierung der Werke in den neuen Räumen dokumentiert wird, erscheint Anfang September 2018.