Kategorie-Archiv: Stadtschreiber Mainz

Julia Schoch wird neue Mainzer Stadtschreiberin 2024

Julia Schoch © ZDF und Ulrich Burkhardt
Julia Schoch © ZDF und Ulrich Burkhardt

(rap) Der Mainzer Stadtschreiber Literaturpreis des ZDF, 3sat und der Landeshauptstadt Mainz wird zum 39. Mal verliehen. Die in Potsdam lebende Schriftstellerin Julia Schoch erhält die Auszeichnung und wird Mainzer Stadtschreiberin des Jahres 2024. Die Verleihung des Preises ist für März 2024 geplant.

Der von ZDF und 3sat gemeinsam mit der Stadt Mainz vergebene renommierte Literaturpreis ist mit 12.500.- Euro dotiert. Gemeinsam mit dem ZDF wird die Schriftstellerin eine Dokumentation nach freier Themenwahl produzieren und die Stadtschreiberwohnung im Mainzer Gutenberg-Museum beziehen.

Die ZDF-Programmdirektorin, Nadine Bilke, über die neue Mainzer Stadtschreiberin: „Julia Schoch gelingt es, Literaturkritik und Lesepublikum gleichermaßen zu begeistern. Als poetische und emotionale Erinnerungslandschaft erzählt sie Kindheit, Liebe und Familie im besonderen Kontext deutscher Geschichte. Wir freuen uns, diese beeindruckende Autorin für das Stadtschreiberjahr nach Mainz zu holen.“

„Mit Julia Schoch kommt eine von der Kritik hoch gelobte prominente Schriftstellerin der jüngeren Generation nach Mainz, die einen ganz eigenen Ton in die deutschsprachige Literatur bringt.“ so die Jury. „Julia Schochs Romane verweben berührend die persönlichen Erfahrungen ihrer Frauenfiguren mit historischen Umbrüchen. Ihre Perspektive – geprägt vom Erlebnis der Wende als Teenager in Potsdam – entfaltet klar, zart, und scheinbar ganz leicht, tiefe Sehnsüchte unserer Zeit nach Zugehörigkeit.“

Auch die Mainzer Kulturdezernentin Marianne Grosse begrüßt die Wahl von Julia Schoch: „Wir gewinnen im Mainzer Stadtschreiberamt eine filigrane Beobachterin zwischenmenschlicher Untiefen, in denen sich verändernde Blickwinkel neue und stets erstaunliche Perspektiven aufwerfen. Julia Schoch ist vielfach prämiert, tritt zudem als Übersetzerin für namhafte Autorinnen wie etwa Fred Vargas auf und hat bereits mehrfach für Erstaunen in der deutschen Literaturszene gesorgt.“

Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren, studierte Germanistik und Romanistik an der Universität Potsdam. Gleich ihr erstes Buch, der Kurzgeschichtenband „Der Körper des Salamanders“ (2001), wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Friedrich-Hölderlin-Preis und dem Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis. 2004 veröffentlichte sie den Roman „Verabredungen mit Mattok“ und begann, regelmäßig Literatur aus dem Französischen zu übersetzen. Es folgten die Romane „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ (2009), „Selbstporträt mit Bonaparte“ (2012) und der Generationenroman „Schöne Seelen und Komplizen“ (2018) sowie weitere Kurzprosa und Essays. Im Frühling 2023 wurde ihr Roman „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ zum Bestseller. Zu den vielen Auszeichnungen für ihr Werk gehörten zuletzt die „Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung für das schriftstellerische Gesamtwerk“ (2022) und der Schubart-Literaturpreis der Stadt Aachen (2023).

Der Mainzer Stadtschreiber Literaturpreis wird jährlich seit 1985 vergeben. Der Preisträger 2023 ist der österreichische Schriftsteller Alois Hotschnig.

Zur Jury gehören: Josef Haslinger, Katia Lange-Müller, Dr. Tilman Spengler und Ilija Trojanow, die ZDF-Programmdirektorin Dr. Nadine Bilke, die ZDF-Kulturchefin Anne Reidt, die 3sat-Koordinatorin Natalie Müller-Elmau, der 3sat-Literaturkritiker Dr. Michael Schmitt, die ZDF-Kulturredakteurin Dr. Susanne Becker (Jury-Vorsitzende) und der aktuelle Preisträger Alois Hotschnig sowie die Mainzer Kulturdezernentin Marianne Grosse.

Einführung von Alois Hotschnig in das Amt des Mainzer Stadtschreibers 2023

"Amtseinführung Mainzer Stadtschreiber 24.03.2023": Johannes Gutenberg, Nino Haase, Marianne Grosse, Alois Hotschnig, Dr. Norbert Himmler. Von links: Johannes Gutenberg, Nino Haase, Marianne Grosse, Alois Hotschnig, Dr. Norbert Himmler. © ZDF und Maximilian von Lachner.
„Amtseinführung Mainzer Stadtschreiber 24.03.2023″: Johannes Gutenberg, Nino Haase, Marianne Grosse, Alois Hotschnig, Dr. Norbert Himmler. Von links: Johannes Gutenberg, Nino Haase, Marianne Grosse, Alois Hotschnig, Dr. Norbert Himmler. © ZDF und Maximilian von Lachner.

Der Mainzer Stadtschreiber Literaturpreis von ZDF, 3sat und der Landeshauptstadt Mainz wurde am Freitag, 24. März 2023, um 15.30 Uhr im Mainzer Schloss an den Schriftsteller Alois Hotschnig verliehen. Damit hat er das Amt als Mainzer Stadtschreiber 2023 angetreten. Dr. Norbert Himmler, Intendant des ZDF, und der Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Mainz, Nino Haase, begrüßten ihn gemeinsam.

Der renommierte Literaturpreis wird seit 1985 jährlich vergeben und ist mit 12.500 Euro dotiert. In der Jurybegründung zur Wahl des diesjährigen Stadtschreibers heißt es: „Alois Hotschnig erzählt in seinem vielfältigen Werk immer wieder von Schicksalen, wie sie Krieg und Diktatur hervorbringen – er bricht das Schweigen über die Geschichte heutiger Generationen in Europa und spiegelt dabei die Konflikte und Sehnsüchte auch unserer Zeit. Dabei setzt er in der deutschsprachigen Literatur einen eigenen empathischen Ton und wirkt mit entschiedener Beharrlichkeit dem Verschweigen sowie Hassreden und Ausgrenzung entgegen.“

Norbert Himmler sagte in seiner Ansprache: „Mit empathischem Ton zieht Alois Hotschnig uns hinein in die Welten seiner Figuren, in Welten, die oft von Gewalt und Krieg geprägt sind. Dabei zeigt er klar, wie bitter Gewalterfahrungen über Generationen nachwirken und auch Zeiten des Friedens weiter beeinflussen.“

Der Literaturpreis umfasst auch die Herstellung einer Dokumentation gemeinsam mit dem ZDF und 3sat, dem Gemeinschaftsprogramm von ZDF, ORF, SRG und ARD. Das jeweilige Thema kann der Stadtschreiber oder die Stadtschreiberin frei wählen. Zudem erhält Alois Hotschnig als neuer Mainzer Stadtschreiber ein Wohnrecht im historischen Teil des Gutenberg-Museums.

Nino Haase, Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Mainz, über das Werk des neuen Mainzer Stadtschreibers: „Hotschnigs Protagonisten sind vom Schicksal zerrissene Figuren mit einem vollgepackten Lebensrucksack, die ohne Halt und inneren Kompass nach Linderung suchen. Figuren, die rückblickend begreifen wollen, was kaum zu begreifen ist: Krieg, Flucht, Verrat, Gewalt an Leib und Seele, Heimatlosigkeit. Es sind jene Themen, die uns mit Blick auf das schreckliche Geschehen in der Ukraine aktueller denn je zuvor erscheinen.“

Alois Hotschnig, 1959 in Kärnten geboren, kam zum Studium nach Innsbruck, widmete sich aber bald ganz seiner schriftstellerischen Tätigkeit. 1989 erschien seine erste Erzählung „Aus“. Hotschnigs Romane und Erzählungen wurden von der Kritik hochgeschätzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Anna-Seghers-Preis der Berliner Akademie der Bildenden Künste, der Erich-Fried-Preis und der Gert-Jonke-Preis. Der jüngste Roman, „Der Silberfuchs meiner Mutter“, erschien 2021.

„Der aktuelle Roman von Alois Hotschnig ‚Der Silberfuchs meiner Mutterʹ hat mich persönlich sehr beeindruckt“, so Dr. Nadine Bilke, die Programmdirektorin des ZDF. „Es ist die Geschichte einer Mutter im Zweiten Weltkrieg, die aus der interessanten Perspektive ihres Sohnes rekonstruiert wird. Dabei entsteht das Bild eines Frauenschicksals zwischen Gewalt, Verrat und Verantwortung für ein Kind. Diese bislang wenig gehörten Geschichten von Frauen im Krieg, von weiblichen Schicksalen in gewalttätigen Zeiten, erzählt Alois Hotschnig mit besonderer stilistischer Eleganz.“

In seiner Laudatio auf den neuen Mainzer Stadtschreiber sagte der Autor und Verleger Ilija Trojanow: „Alois Hotschnig gelingt es nicht nur, uns zu zeigen, wie zerbrechlich Sprache sein kann, sondern sie so zu behandeln, dass wir die Brüchigkeit des Lebens einerseits spüren und andererseits uns zugleich aufgehoben fühlen in der fragilen Zuverlässigkeit seines Erzählens.“

Stadtschreiber-Literaturpreis des ZDF, 3sat und der Landeshauptstadt Mainz an den Schriftsteller Alois Hotschnig

Der österreichische Schriftsteller Alois Hotschnig ist Mainzer Stadtschreiber des Jahres 2023. © Foto Heike von Goddenthow
Der österreichische Schriftsteller Alois Hotschnig ist Mainzer Stadtschreiber des Jahres 2023. © Foto Heike von Goddenthow

Der in Kärnten gebürtige österreichische Schriftsteller Alois Hotschnig ist Mainzer Stadtschreiber des Jahres 2023. Er ist der 38. Träger des von ZDF, 3sat und der Stadt Mainz vergebenen renommierten Literaturpreises. Gemeinsam mit dem ZDF wird der Schriftsteller eine Dokumentation nach freier Themenwahl produzieren und zeitweilig die Stadtschreiberwohnung im Mainzer Gutenberg-Museum beziehen. Die Verleihung des mit 12 500 Euro dotierten Preises findet am 24. März 2023 statt.

„Alois Hotschnig spricht zu unserer Zeit, in der Krieg und Hassreden die Menschen verunsichern,“ so Anne Reidt, Leiterin der Hauptredaktion Kultur beim ZDF, zur Wahl von Alois Hotschnig. „Seine Geschichten, die er so einfühlsam erzählt, drücken auch Hoffnungen aus, die heute wieder viele bewegen. Wir freuen uns auf das Stadtschreiberjahr mit Alois Hotschnig.“

Alois Hotschnig wurde 1992 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt mit dem Preis des Landes Kärnten ausgezeichnet, im selben Jahr erschien sein Roman Leonardos Hände, für den er den Anna-Seghers-Preis erhielt. 2000 erschien sein zweiter Roman Ludwigs Zimmer. 2002 wurde ihm der Italo-Svevo-Preis verliehen. Neben seinen Romanen verfasste er mehrere Erzählbände, zuletzt Im Sitzen läuft es sich besser davon (2009). Für Die Kinder beruhigte das nicht wurde er mit dem Erich-Fried-Preis ausgezeichnet, für sein erzählerisches Werk mit dem Gert-Jonke-Preis. 2022 erhielt er den Christine-Lavant-Preis. Die Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Sein neuester Roman Der Silberfuchs meiner Mutter erschien im September 2021. Es ist ein großer Roman über Fremdsein und Selbstbehauptung und die lebensrettende Kraft des Erzählens. Ilija Trojanow, Mainzer Stadtschreiber aus dem Jahr 2007 beschreibt es wie folgt: „Hotschnig hat die Biographie eines Schauspielers, die in die Nazizeit zurückreicht, anvertraut bekommen, und er umkreist dieses Leben behutsam, mit mikrochirurgischer Präzision. Es ist, als würde man dem Autor beim Kochen über die Schulter schauen und immer wieder kosten dürfen. Obwohl es jedes Mal ausgewogen schmeckt, kocht er weiter, immerzu, bis das Gericht mehrere mögliche Fassungen hat, eine jede bittersüß.“

Die Jury: „Alois Hotschnig erzählt in seinem vielfältigen Werk immer wieder von Schicksalen, wie sie Krieg und Diktatur hervorbringen – er bricht das Schweigen über die Geschichte heutiger Generationen in Europa und spiegelt dabei die Konflikte und Sehnsüchte auch unserer Zeit. Dabei setzt er in der deutschsprachigen Literatur einen eigenen empathischen Ton und wirkt mit entschiedener Beharrlichkeit dem Verschweigen, sowie Hassreden und Ausgrenzung entgegen.“

Die Mainzer Kulturdezernentin Marianne Grosse begrüßt die Wahl des österreichischen Autors: „Hotschnig ist der leise Erzähler, der Existenzielles thematisiert und mit einem enormen Sprachwitz aufwartet. Er skizziert das menschliche Dasein in seinen vielfältigen, teils absurden Verstrickungen in sehr eigener sprachlicher Komposition – und weckt damit die Neugier, ihm als Leserin und Leser wiederholt zu begegnen. Ich freue mich sehr auf dieses spannende neue Kapitel der Stadtschreiber-Erzählung, das wir in Mainz mit Alois Hotschnig aufschlagen.“

Irritation ist immer der Ausgangspunkt meiner Geschichten sagt Alois Hotschnig über das Schreiben:

Herr Hotschnig, wie entwickeln sich Ihre Geschichten?

Eine Art, wie es anfangen kann, ist, dass ich meinen Schreibraum betrete, den Computer anmache, eine Datei anklicke, auf eine Seite gehe. So, als ob ich ein Lokal besuchen würde, in dem schon jemand sitzt, der mir zuwinkt, wie ein alter Bekannter. Es ist aber kein Mensch, sondern eben ein Satz, den ich vor Jahren oder erst vorgestern geschrieben habe, der mir in diesem Moment aus diesem Text heraus zuwinkt, mich anspricht. Wenn mir dieser Satz etwas zu sagen hat, komme ich mit ihm ins Gespräch. Ich setze etwas dazu, und mit dieser Notiz und mache eine kleine Wanderung in die Umgebung von Innsbruck. Spazierend kommt es vielleicht zu weiteren Begegnungen, mit realen Menschen diesmal, oder mit Ideen, die mir am Schreibtisch wahrscheinlich nicht in den Sinn gekommen wären. Aus der Kombination einer Begegnung, einer Realität, die ich erlebe, mit einem fiktiven Satz, kommt es zur Fusion eines ersten Satzes, und mit dem zweiten Satz ist die Geschichte schon da.

Begegnungen mit Menschen und die Themen, die Sie damit verbinden, sind immer Ausgangspunkt für Ihre Kurzgeschichten und Romane

Es kam schon vor, dass ein Thema, mit dem ich mich über viele Jahre immer wieder einmal beschäftigt habe, wie der Lebensborn, zu einem Roman wurde, weil ein Mensch, der mit wenigen Sätzen so plastisch und fast gemütlich über seine dramatische Geschichte im Fernsehen erzählte und mir dabei in die Augen schaute, mich perplex machte und irritierte. Und Irritation ist immer der Ausgangspunkt meiner Geschichten. Es ist etwas in mir oder um mich herum, mit dem ich nicht umgehen kann. Der Text, mit dem ich dann darauf antworte, ist der Roman oder die Kurzgeschichte. Mit diesem Mann aus dem Fernsehen habe ich Kontakt aufgenommen und ihn gefragt, ob er seine Geschichte mit mir teilen möchte. Das hat er getan, und wir haben ein Gespräch geführt, das schließlich über fünf Jahre gedauert hat und aus dem ein Roman entstanden ist (Der Silberfuchs meiner Mutter, Anm. d. Red.).

Wie entwickeln sich Ihre Geschichten im Laufe eines Schreibprozesses?

Der Schreib-Prozess, das ist für sich schon ein krankes Wort. Diesen Prozess kann man nur verlieren, aber man muss doch immer von ihm ausgehen. Einige Autorinnen und Autoren haben bewiesen, dass er eben doch und sehr wohl zu gewinnen ist. Vielleicht nicht für einen selbst, aber für all die anderen, die den Nutzen haben, weil sie ihn eben lesen können, diesen Prozess. Das mögliche Scheitern ist dabei für mich ein ganz wichtiges Motiv. In Sackgassen zu laufen, darauf lasse ich mich jeden Tag wieder aufs Neue ein. Aus etwas scheinbar Disparatem eine Geschichte zu machen, etwas in Beziehung zu setzen, dessen Zusammenhang sich zunächst als ganz unwahrscheinlich darstellt, und zu überprüfen, ob es diesen Zusammenhang eben vielleicht doch geben kann, das hat mich seit jeher interessiert. Und der Aspekt, vermeintlichen Sicherheiten zwischen Ursache und Wirkung nachzugehen.

Waren die Neugier und das Interesse an Menschen schon immer die Triebfeder Ihres Schreibens?

Begonnen hat das Schreiben mit dem Lesen zwischen den Zeilen. Ich habe begonnen, Menschen zu lesen, die sich mir entgegengeschrieben haben. Auf meine Art habe ich Autorinnen oder Autoren mit Texten geantwortet, mit ihnen auf diese Weise korrespondiert. Zum Beispiel mit Kurzgeschichten, wenn ich Wolfgang Borchert gelesen oder mit Gedichten, wenn ich mich mit Ernst Jandl beschäftigt habe. Irgendwann sind alle meine Vorbilder nicht mehr so wichtig gewesen, und das Eigene ist aus meinen Zeilen herausgewachsen. Das hat auch viel mit der Stadt Innsbruck zu tun, in der ich seit vierzig Jahren lebe, und mit den Menschen hier, die mich immer wieder zu Geschichten angeregt haben. Auslöser für meinen Roman Leonardos Hände war beispielsweise ein Erlebnis als Rettungsfahrer in Innsbruck. Morgens fuhr ich bei sonnigem Wetter, die Welt war schön in diesem Moment, mit dem Fahrrad an der Stelle vorbei, an der eine halbe Stunde später das Leben eines Menschen nicht gerettet werden konnte. Abends auf dem Heimweg fand dort ein großes Stadtfest statt. Diese Gleichzeitigkeit in meinem Kopf war der Auslöser für den Roman, der ein Jahr später entstanden ist.

Irritieren Sie mehr die politischen oder die unpolitischen Menschen?

Ich bin davon überzeugt, dass es keinen unpolitischen Menschen gibt. Zumindest von der Wirkung her ist der unpolitische Mensch das Furchterregendste, das ich mir vorstellen kann. Und doch ist er das Wichtigste, was man als Ausgangspunkt für eine Geschichte, die es zu schreiben gilt, finden kann. Denn das scheinbar Unpolitische wirkt sich, wie wir alle wissen, politisch so grauenhaft aus. Das Motiv hinter dem Schweigen oder dem Reden zu finden, ihm eine Sprache zu geben, es offenzulegen, ist für mich die Aufgabe von Literatur schlechthin.

(ZDF-Interview).

Alois Hotschnig wird neuer Mainzer Stadtschreiber

Alois Hotschnig © ZDF/Rupert Larl
Alois Hotschnig © ZDF/Rupert Larl

Der österreichische Schriftsteller Alois Hotschnig wird Mainzer Stadtschreiber des Jahres 2023. Er ist der 38. Träger des von ZDF, 3sat und der Stadt Mainz vergebenen renommierten Literaturpreises. Gemeinsam mit dem ZDF wird der Schriftsteller eine Dokumentation nach freier Themenwahl produzieren und zeitweilig die Stadtschreiberwohnung im Mainzer Gutenberg-Museum beziehen. Die Verleihung des mit 12 500 Euro dotierten Preises ist für März 2023 geplant.

„Alois Hotschnig spricht zu unserer Zeit, in der Krieg und Hassreden die Menschen verunsichern,“ so Anne Reidt, Leiterin der Hauptredaktion Kultur beim ZDF, zur Wahl von Alois Hotschnig. „Seine Geschichten, die er so einfühl#0sam erzählt, drücken auch Hoffnungen aus, die heute wieder viele bewegen. Wir freuen uns auf das Stadtschreiberjahr mit Alois Hotschnig.“

Die Jury: „Alois Hotschnig erzählt in seinem vielfältigen Werk immer wieder von Schicksalen, wie sie Krieg und Diktatur hervorbringen – er bricht das Schweigen über die Geschichte heutiger Generationen in Europa und spiegelt dabei die Konflikte und Sehnsüchte auch unserer Zeit. Dabei setzt er in der deutschsprachigen Literatur einen eigenen empathischen Ton und wirkt mit entschiedener Beharrlichkeit dem Verschweigen, sowie Hassreden und Ausgrenzung entgegen.“

Die Mainzer Kulturdezernentin Marianne Grosse begrüßt die Wahl des österreichischen Autors: „Hotschnig ist der leise Erzähler, der Existenzielles thematisiert und mit einem enormen Sprachwitz aufwartet. Er skizziert das menschliche Dasein in seinen vielfältigen, teils absurden Verstrickungen in sehr eigener sprachlicher Komposition – und weckt damit die Neugier, ihm als Leser:in wiederholt zu begegnen. Ich freue mich sehr auf dieses spannende neue Kapitel der ,Stadtschreiber-Erzählung‘, das wir in Mainz mit Alois Hotschnig aufschlagen!“

Alois Hotschnig,1959 in Kärnten geboren, war mit seinen frühen Erzählungen und seinem Debutroman „Leonardos Hände“ (1992) Shootingstar der österreichischen Literaturszene. Sein Studium der Germanistik und Anglistik an der Universität Innsbruck hatte er abgebrochen, um zu schreiben. Sein Werk umfasst seither erzählende Prosa, Gedichte, Theaterstücke und Hörspiele. Der Roman „Ludwigs Zimmer“ (2000) und die Erzählbände „Die Kinder beruhigte das nicht“ (2006) und „Im Sitzen läuft es sich besser davon“ (2009) waren von der Kritik hochgeschätzt. Zu den zahlreichen Auszeichnungen gehören der Anna-Seghers-Preis der Berliner Akademie der Künste (1993), der Erich-Fried Preis (2008) und gerade der Christine Lavant Preis 2022. In seinem aktuellen Roman, „Der Silberfuchs meiner Mutter“, erzählt er ein Frauenschicksal des 20. Jahrhunderts aus Sicht des Sohnes, eine bittere und berührende Überlebensgeschichte der Nachkriegszeit, und verwebt dabei poetisch Biografie und Fiktion.

Mainzer Stadtschreiberin Dörte Hansen liest auf der 21. Mainzer Büchermesse

logo-mainzer-buechermesseWenn die 21. Mainzer Büchermesse am Samstag/Sonntag, 05./06. November 2022 nach zweijähriger Corona-Pause in der Akademie der Wissenschaften und der Literatur (Geschwister Scholl-Straße 2, 55131 Mainz) erneut ihre Pforten öffnet, stellt die Lesung der Mainzer Stadtschreiberin Dörte Hansen einen der Höhepunkte des Programms dar. Hansen liest am Samstag, 05.11.2021 um 15.00 Uhr aus ihrem neuen Werk „Zur See“.

Zu Gast auf der 21. Mainzer Büchermesse sind insgesamt 29 regionale Verlage und ausstellende Institutionen, die neben der Mainzer Verlagslandschaft regionale Buch-, Druck- und Medienarbeit präsentieren. Als “special guest“ ist zudem das Atelier des Karikaturisten Klaus Wilinski vor Ort vertreten, der unter anderem die Entstehung einer Karikatur („Live Sketching“). anschaulich – und gewohnt wortstark – erläutern wird.

Dörte Hansen, Lesung auf der Frankfurter Buchmesse, am Stadt des Zeit-Verlags am 19.10.2022  © Foto: Diether von Goddenthow
Dörte Hansen, Lesung auf der Frankfurter Buchmesse, am Stadt des Zeit-Verlags am 19.10.2022 © Foto: Diether von Goddenthow

Neben den Verlagsständen werden auch zahlreiche Autorinnen und Autoren der Verlage anwesend sein und aus ihren Werken vortragen. Rosemarie Schmitt (Literaturwerk) liest aus dem Buch „Ruhet sanft, gefälligst! Von Aubertin bis Zweig: Anekdoten aus den Werken der Literatur“, einer Sammlung erstaunlicher Geschichten. Erwin Kreim (Nünnerich-Asmus Verlag) stellt mit „Johannnes Gutenberg – Unternehmer des zweiten Jahrtausends“ die unternehmerischen Leistungen des „Man of the Millennium“ mit Blick auf Innovation und Unternehmensnachfolge in seinem Werk vor.

Der Leiter des Instituts für Buchwissenschaften an der JGU, Professor Dr. Gerhard Lauer, schaut auf das Phänomen Buch und dessen Rezeption in der Zukunft: „Am Ende das Lesen? Zur Gegenwart und Zukunft des Lesens, wenn alles anders wird“. Internet, TV, Computer – Lauer gibt einen Ausblick auf den weiterhin vorhandenen Lesewillen, der sich aber in der Form verändert hat.

Spannend für Kinder wird es an beiden Tagen – etwa wenn am Samstag (15.00 Uhr) und Sonntag (11.00 Uhr) „Tranquilla Trampeltreu“ – ersonnen aus der Feder von Michael Ende („Momo“) – durch TheaterRaumMainz zum Leben erweckt wird und sich auf die Reise macht. Oder wenn die Gutenberg-Stiftung (Sonntag/15.00 Uhr) Martin und Klara in die Arbeitswelt Gensfleischs führt: „Johannes Gutenberg und die verschwundenen Lettern – ein historischer Kinderkrimi.“

Die Mainzer Büchermesse ist eine Veranstaltung des Kulturdezernates der Landeshauptstadt Mainz in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft Mainzer Verlage. Sie bietet eine wichtige Plattform und lädt die Besucherinnen und Besucher kostenfrei dazu ein, die Arbeit und Angebote der Verlage kennenzulernen und ins persönliche Gespräch zu kommen.
Für die nötigen Erfrischungen sorgt ein Catering an beiden Tagen.

21. Mainzer Büchermesse 2022
05./06. November 2022
Samstag, 11.00 – 18.00 Uhr / Sonntag, 10.00 – 17.00 Uhr ,
Akademie der Wissenschaften und der Literatur
Eintritt frei

Das gesamte Programm der Büchermesse finden Sie unter: https://mainz.de/kultur-und-wissenschaft/literatur/buechermesse/mainzer-buechermesse.php

Mainzer Stadtschreiberin Dörte Hansen liest auf der 21. Mainzer Büchermesse

Dörte Hansen Copyright: ZDF/Sven Jaax
Dörte Hansen Copyright: ZDF/Sven Jaax

Wenn die 21. Mainzer Büchermesse am Samstag/Sonntag, 05./06. November 2022 nach zweijähriger Corona-Pause in der Akademie der Wissenschaften und der Literatur (Geschwister Scholl-Straße 2, 55131 Mainz) erneut ihre Pforten öffnet, stellt die Lesung der Mainzer Stadtschreiberin Dörte Hansen einen der Höhepunkte des Programms dar. Hansen liest am Samstag, 05.11.2021 um 15.00 Uhr aus ihrem neuen Werk „Zur See“.

Zu Gast auf der 21. Mainzer Büchermesse sind insgesamt 29 regionale Verlage und ausstellende Institutionen, die neben der Mainzer Verlagslandschaft regionale Buch-, Druck- und Medienarbeit präsentieren. Als “special guest“ ist zudem das Atelier des Karikaturisten Klaus Wilinski vor Ort vertreten, der unter anderem die Entstehung einer Karikatur („Live Sketching“). anschaulich – und gewohnt wortstark – erläutern wird.

Neben den Verlagsständen werden auch zahlreiche Autorinnen und Autoren der Verlage anwesend sein und aus ihren Werken vortragen. Rosemarie Schmitt (Literaturwerk) liest aus dem Buch „Ruhet sanft, gefälligst! Von Aubertin bis Zweig: Anekdoten aus den Werken der Literatur“, einer Sammlung erstaunlicher Geschichten. Erwin Kreim (Nünnerich-Asmus Verlag) stellt mit „Johannnes Gutenberg – Unternehmer des zweiten Jahrtausends“ die unternehmerischen Leistungen des „Man of the Millennium“ mit Blick auf Innovation und Unternehmensnachfolge in seinem Werk vor.

Der Leiter des Instituts für Buchwissenschaften an der JGU, Professor Dr. Gerhard Lauer, schaut auf das Phänomen Buch und dessen Rezeption in der Zukunft: „Am Ende das Lesen? Zur Gegenwart und Zukunft des Lesens, wenn alles anders wird“. Internet, TV, Computer – Lauer gibt einen Ausblick auf den weiterhin vorhandenen Lesewillen, der sich aber in der Form verändert hat.

Spannend für Kinder wird es an beiden Tagen – etwa wenn am Samstag (15.00 Uhr) und Sonntag (11.00 Uhr) „Tranquilla Trampeltreu“ – ersonnen aus der Feder von Michael Ende („Momo“) – durch TheaterRaumMainz zum Leben erweckt wird und sich auf die Reise macht. Oder wenn die Gutenberg-Stiftung (Sonntag/15.00 Uhr) Martin und Klara in die Arbeitswelt Gensfleischs führt: „Johannes Gutenberg und die verschwundenen Lettern – ein historischer Kinderkrimi.“

Die Mainzer Büchermesse ist eine Veranstaltung des Kulturdezernates der Landeshauptstadt Mainz in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft Mainzer Verlage. Sie bietet eine wichtige Plattform und lädt die Besucherinnen und Besucher kostenfrei dazu ein, die Arbeit und Angebote der Verlage kennenzulernen und ins persönliche Gespräch zu kommen.
Für die nötigen Erfrischungen sorgt ein Catering an beiden Tagen.

21. Mainzer Büchermesse 2022
05./06. November 2022
Samstag, 11.00 – 18.00 Uhr / Sonntag, 10.00 – 17.00 Uhr ,
Akademie der Wissenschaften und der Literatur
Eintritt frei

Das gesamte Programm der Büchermesse finden Sie unter: https://mainz.de/kultur-und-wissenschaft/literatur/buechermesse/mainzer-buechermesse.php

„Aussterbende Art“ – Film des Mainzer Stadtschreibers Eugen Ruge in ZDF- Mediathek abrufbar

Bekannte Schriftsteller werden zu Filmemachern: Der renommierte und preisgekrönte Mainzer Stadtschreiber Eugen Ruge produzierte zuletzt mit dem ZDF eine Dokumentation über die Fischer auf Rügen. Nach der bedauerlichen Absage der Filmvorführung des Stadtschreiber-Films, der im Rahmen des Mainzer Literaturpreises mit dem ZDF und 3sat gedreht wurde, ist der Dokumentarfilm „Aussterbende Art“ jederzeit in der ZDF-Mediathek abrufbar (www.zdf.de).

Der Film wurde zusammen mit dem ZDF-Kamerateam auf Rügen gedreht und handelt von den Küstenfischern, die von jeher zur Insel gehören – und deren Leben sich drastisch ändert. Ruge spricht mit ihnen, aber auch mit Politikern und Wissenschaftlern und zeigt eine Welt, die zu verschwinden droht.

Mainzer Stadtschreiber 2020 Eugen Ruge publiziert nach Corona-Absage seiner öffentlichen Antritts-Lesung weniger „ansteckend“ per PDF

Aufgrund der Corona-Pandemie und der dadurch bedingten Einschränkungen konnte der Festakt zur Amtseinführung des Mainzer Stadtschreibers 2020, Eugen Ruge, am 13. März nur in verkleinerter Form und nicht-öffentlich stattfinden.

Auch die traditionelle Antrittslesung, die für den 19. März vorgesehen war, musste abgesagt werden. In Absprache mit Eugen Ruge wird die Antrittslesung in den kommenden Monaten nachgeholt. Dennoch war es Eugen Ruge ein persönliches Anliegen, sich als neuer Stadtschreiber an die Mainzerinnen und Mainzer zu wenden.

Eugen Ruge statt einer öffentlichen Antrittsrede

„Normalerweise hält man als Mainzer Stadtschreiber bei der Verleihung der Ehrenurkunde eine Rede. Leider ist die Verleihung ausgefallen, genauer gesagt, sie wurde kurzfristig auf eine gemütliche Runde geschrumpft. Die Rede, die ich eigentlich halten wollte, schien auf einmal unpassend. Eigentlich wollte ich über die Gleichstellung der Mainzelweibchen sprechen, ein wichtiges Thema, das uns bis kurzem noch alle heftig bewegt hat, nun aber mit einem Schlag durch ein anderes ausgelöscht worden ist. Da nun eine „normale“ Preisverleihung nicht in Sicht scheint, habe ich mich entschlossen, mich mal schriftlich zu melden, das ist weniger ansteckend. Und natürlich möchte ich reden über – Corona.

Lieber Mainzer und Innen, Corona ist eine ernste Sache. Ich hoffe, Sie kennen den neuesten Witz dazu. Es gab ihn im französischen Youtube: Ein niesender und schnupfender Italiener, der einen Pizzateig walkt und walkt, und heraus kommt – die PIZZA CORONA! Angeblich sollen die Italiener für diese französische Gemeinheit den Botschafter einbestellt haben. Bricht der Völkerhass wieder aus? Bringt Corona den Europäischen Glauben
ins Wanken? Steht etwa die Globalisierung zur Debatte? Die ganz Mutigen haben dagegen schon ihre Stimme erhoben. Habe ich im Fernsehen gesehen. Globalisierung ist toll! Globalisierung ist gut für Deutschland! Das finde ich auch. Allerdings nicht für alle Deutschen. Also ungefähr für die Hälfte.
Nein, ich habe jetzt keine Lust, Zahlen aus den Statistiken der Bundesministerien rauszusuchen. Zahlen überzeugen sowie niemanden. Was bedeutet das schon: Jeder vierte Arbeitnehmer im reichen Deutschland arbeitet im Niedriglohnbereich. Was sagen Begriffe wie Scheinselbstständigkeit oder Outsourcing. Aber Corona macht auf einmal einiges sichtbar. Mit Corona sieht man besser. Wenn man genau hinschaut. Und hinhört.

Gestern hörte ich beispielsweise im Deutschlandfunk den freundlichen Vorschlag, dass vielleicht dieser oder jener Vermieter
einem Scheinselbstständigen, Outgesourcten oder sonstwie Angeschmierten, die es in unserer Gesellschaft seit Corona auf einmal massenhaft gibt, und die auf einmal ihre Miete nicht mehr bezahlen können, mal für eine Weile die Miete erlassen könnte. Das ist doch nett! Eine gute Idee gegen Mietwucher. Oder
Scheinselbstständigkeit. Oder Outsourcing. Oder Niedriglohn. Und was machen eigentlich diejenigen, oft Osteuropäer oder Migranten, denen wir ja vielleicht durch unseren Hühnerfleischexport die Lebensgrundlage in ihrer Heimat genommen haben, und die nun in halblegalen Verhältnissen auf Baustellen oder Feldern schuften? Und die keine 5000 Euro Überbrückungsgeld kriegen werden? Oder ist das in Mainz alles ganz anders? Anders als in Berlin? Ich war, offen gestanden, vor dem Preis erst ein einziges Mal in Mainz. Das war knapp vor der Wende, ich war abgehauen und konnte es nicht fassen, dass es so viele Kneipen auf einem Haufen gibt. Damals war ich echt voll für den Kapitalismus. Aber ehrlich gesagt, damals war der Kapitalismus auch anders. Irgendwie netter. Und die Züge waren damals auch pünktlich. Hab ich gestaunt! Und die Leute haben allen Ernstes schon von der 35-Stunden-Woche mit vollem Lohnausgleich phantasiert. Das ist ja nun wohl vom Tisch, heute arbeitet jeder soviel er will, und irgendwie wollen alle. Hat das vielleicht mit Globalisierung zu tun?

Mit Corona sieht man besser: Die Top-Nachricht über Trump: Dass er CureVac kaufen wollte, um den Impfstoff exklusiv für Amerika zu nutzen. Haben wir gern geglaubt, denn das passt natürlich zum Trumpel. Skandal! Leider eine Fake-News. Aber skandalös ist sie trotzdem: Wir leben in einer Welt, in der das zumindest möglich wäre, denn sonst hätten es der Deutschlandfunk oder die WELT wohl kaum geglaubt. Man kann Gesundheit kaufen! Gesundheit ist
eine Ware. Unser Gesundheitssystem, sieh mal an, ist nach kapitalistischen Grundsätzen organisiert. Mit Corona sieht man besser: Es mangelt an Pflegekräften in Deutschland. Es ist nett, dass Gesundheitsminister ein Dankeschön für die Kämpfer an der Coronafront übrig hat. Aber vielleicht wäre
Corona ja mal ein Anlass, unser Gesundheitssystem zu überdenken? Ein Drittel aller Geburtskliniken in Deutschland wurden in den letzten 30 Jahren geschlossen, weil Geburt sich nicht rechnet. Diabetikern werden Gliedmaßen amputiert, weil der Versuch der Wundpflege zu langwierig ist, um Gewinn zu bringen. Das alles bemerkt man vielleicht nicht, wenn privatversichert ist und zu der Hälfte gehört, die von der Globalisierung profitiert. Genauer gesagt, zu dem Bruchteil der Weltbevölkerung.

Mit Corona sieht man besser: Aus Wuhan, höre ich, kommen täglich 20.000 Container mit Waren und Komponenten nach Deutschland. Nein, ich habe die Zahl nicht geprüft, es reicht, zu hören, dass in Deutschland Betriebe stillstehen, weil Zulieferteile aus aller Welt fehlen. Oder dass Felder nicht abgeerntet werden können, weil rumänische Arbeiter nicht die Grenze passieren dürfen. Beruht unser Wohlergehen in Deutschland vielleicht auch darauf, dass eine Näherin in Äthiopien 1,50 Dollar am Tag verdient? Dass in Bangladesch die Fabriken zusammenkrachen? Dass in China die Flüsse von Chemikalien verseucht werden? Ist das wirklich die Art Globalisierung, die wir wollen? Wir vergießen Krokodilstränen über das Klima, während wir zugleich täglich Millionen Tonnen Waren durch die Welt bewegen. Es geht nicht anders, höre ich von Experten. Die Lieferketten, der Freihandel. Das ist nun einmal da, das kann man nicht rückgängig machen. Zu schweigen von den Milliarden Geschäftsreisenden. Zu schweigen vom Massentourismus, dessen einziger Effekt es ist, auch den letzten schönen Ort dieser Welt dadurch unerträglich zu machen; dass buchstäblich jeder ohne die geringste Anstrengung an fast jedes beliebige Ziel gelangt. (Ich mache mich gerade unbeliebt, ich weiß).

Seit Jahrzehnten ist klar, dass die Ressourcen der Erde endlich sind, dass ewiges Wachstum eine Illusion ist. Wachstum heißt: Jedes Jahr mehr mehr produzieren als im vorherigen Jahr. Wachstum ist exponentiell. Und was exponentiell heißt, kann man gerade bei Corona lernen. Corona strebt etwas schneller empor, allerdings strebt sie auch bald einer Sättigung entgegen. Corona wird voraussichtlich 0,3% der Infizierten töten, drei von Tausend, und gewiss ist jeder einzelne Verlust ist schlimm. Aber der Zwang zum Wachstum tötet schon jetzt und wird vielleicht schon bald die Lebensgrundlagen der Menschheit zerstören – falls wir nicht, und danach sieht es nicht aus, ziemlich sofort und weltweit grünen Strom tanken und unsere Solarzellen aus umweltfreundlicher Baumrinde herstellen. Und wozu das alles?

Mit Corona sieht man besser. Der wirtschaftliche Shut-Down ist nicht lange durchhaltbar. Und ich will auch nicht behaupten, dass es erstrebenswert sei, nichts zu tun, selbst wenn man dafür bezahlt wird. Aber mal anhalten, durchatmen, mal zur Ruhe kommen, sich, wie man so schön sagt, besinnen – und mal darüber nachdenken, was uns eigentlich gut tut; was die tägliche Hetzjagd eigentlich mit uns macht. Verlangsamung ist lebensrettend, sagen die Virologen.
Das sage ich auch.

Bleiben Sie gesund. Lesen Sie was Schönes. Und räumen Sie
endlich mal auf! Ich freue mich auf meine Antrittslesung in Mainz,
wenn das alles vorbei ist. Vorbei und vergessen? Hoffentlich nicht.“

Neuer Mainzer Stadtschreiber – Eugen Ruge ist der 36. Träger des Literaturpreises von ZDF, 3sat und der Stadt Mainz

© ZDF
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(rap) Eugen Ruge wird der Mainzer Stadtschreiber des Jahres 2020. Der prominente Autor, 1954 in Soswa (Ural) geboren und in der DDR aufgewachsen, ist der 36. Träger des von ZDF, 3sat und der Stadt Mainz vergebenen renommierten Literaturpreises. Gemeinsam mit dem ZDF wird der Schriftsteller, wie seine Vorgängerin Eva Menasse, eine Dokumentation nach freier Themenwahl produzieren und zeitweilig die Stadtschreiberwohnung im Mainzer Gutenberg-Museum beziehen. Die Verleihung des mit 12.500 Euro dotierten Preises ist für Anfang März 2020 geplant.

Die Jury: „Bei Eugen Ruge wird aus Biografie große Literatur. Mit Empathie für seine oft widersprüchlichen Figuren, die der Zeitgeschichte ausgesetzt sind, erzählt Ruge von Loyalität und Verrat in Zeiten der Diktatur. Er ist er ein Meister im Schildern von Familienbeziehungen und Lebensentwürfen, geschrieben in einer klaren Sprache mit souveränem Gespür für Dialoge, Tempo und Pointe.“

Eugen Ruge wurde in der Sowjetunion geboren und wuchs in Ost-Berlin als Sohn des bekannten DDR-Historikers Wolfgang Ruge auf. Der diplomierte Mathematiker, der zunächst als Wissenschaftler in der Erdbebenforschung arbeitete und 1988 in die Bundesrepublik ausreiste, begann seine schriftstellerische Laufbahn mit Theaterstücken und Hörspielen. Für seinen Debütroman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“, den die Kritikerin Iris Radisch als „DDR-Buddenbrook-Roman“ lobte, wurde er 2011 mit dem aspekte-Literaturpreis und dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.
2017 wurde der Roman, der zum Bestsellererfolg wurde, mit Bruno Ganz in seiner letzten Rolle verfilmt. Zuletzt erschienen die Bände „Theaterstücke“ und „Annäherung“ sowie die Romane „Cabo de Gata“ und „Follower“. 2019 veröffentlichte Ruge seinen Roman „Metropol“, mit dem er erneut die Geschichte seiner Familie aufgreift, dieses Mal im kommunistischen Moskauer Exil der 1930er Jahre.

Kulturdezernentin Marianne Grosse ist begeistert von der Auswahl des Buchpreisträgers 2011: „Eugen Ruge hat erst spät im Alter von 57 Jahren mit dem Schreiben von Romanen begonnen – welch ein Glücksfall! Die Leserschaft ist dankbar über diesen Entschluss, denn Ruges Art des Erzählens hat eine ganz eigene, feine und fesselnde Handschrift. Seine Erzählungen fließen in einem ruhigen Ton – und fassen den Lesenden mit ihren kleinen Nebensträngen und Betrachtungen immer wieder an. Ich bin sehr glücklich, dass die Stadt Mainz mit Eugen Ruge einen wahrlich herausragenden Literaten mit dem Stadtschreiber-Preis ehren darf.“

Ruge, der sich auch mit Bühnenstücken, Hörspielen und als Übersetzer von Anton Tschechows Dramen einen Namen machte, lebt in Berlin und auf Rügen. Neben dem aspekte-Literaturpreis und dem Deutschen Buchpreis (beide 2011) erhielt er u.a. 2009 den Alfred-Döblin-Preis.

Die neue Mainzer „Stadtschreiber-Hofnärrin“ ins Amt eingeführt – Wider digitaler Herrscherlein und moralischen Maulkörben von rechts bis links

Eva Menasse ist am Donnerstag, 7. März 2019, als neue Mainzer Stadtschreiberin feierlich in ihr Amt eingeführt worden. V.l. Oberbürgermeister Michael Ebling, Schriftstellerin Eva Menasse und Kulturdezernentin und Jurorin Marianne Grosse, die  die Festgäste der Feierstunde begrüßte.© Foto: Diether v. Goddenthow
Eva Menasse ist am Donnerstag, 7. März 2019, als neue Mainzer Stadtschreiberin feierlich in ihr Amt eingeführt worden. V.l. Oberbürgermeister Michael Ebling, Schriftstellerin Eva Menasse und Kulturdezernentin und Jurorin Marianne Grosse, die die Festgäste der Feierstunde begrüßte.© Foto: Diether v. Goddenthow

Am Tag nach Aschermittwoch, 7. März 2019, wurde Eva Menasse als neue Mainzer Stadtschreiberin feierlich in ihr Amt eingeführt. Die österreichische Schriftstellerin, 1970 in Wien geboren und wohnhaft in Berlin, ist die 35. Trägerin des von ZDF, 3sat und der Stadt Mainz vergebenen Literaturpreises.

Eva Menasse, die große Menschenerzählerin, die mit feiner Empathie und scharfsinnigem Humor über fragile Beziehungen schreibe, sei ein Glücksfall für das Amt der Mainzer Stadtschreiberin 2019, urteilte die Jury (siehe unten). Denn sie mische sich zugleich öffentlich ein, streite wirkungsvoll für Grundrechte im digitalen Zeitalter und wende sich engagiert gegen Diskriminierung und rechte Hetze. Mit ihrem ersten Roman, dem österreichisch-jüdischen Familienepos „Vienna“ (2005), gelang Eva Menasse ein fulminantes Debüt. Der jüngste Erzählband „Tiere für Fortgeschrittene“ (2017) handelt von Lebenslügen und Lebensillusionen des aufgeklärten Bürgertums.

Einführung I von Oberbürgermeister Michael Ebling

Oberbürgermeister Michael Ebling. © Foto: Diether v. Goddenthow
Oberbürgermeister Michael Ebling. © Foto: Diether v. Goddenthow

Michael Ebling, Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Mainz, noch den abklingenden „Rosenmontagszug-Rhythmus“ im Blut, war sich sicher, dass Eva Menasse, wenngleich sie das närrische Treiben knapp verpasst habe, rasch feststellen werde, das Mainz „eine Stadt der guten Laune“ sei, eine Stadt, in welche die Meisterin des Aufspürens von Lebenslügen und Luftschlössern, gut hineinpasse, der „wir mit Sicherheit nichts vormachen können“. Die Mainzer könnten gespannt sein, wie Sie, die einmal ‚Verhaltensforscherin der Spezies Mensch‘ genannt wurde, ihr Amt als neue Mainzer Stadtschreiberin ausfüllen werde, so der Oberbürgermeister.

Humor und Hintersinn, Wiener Schmäh und jüdische Chuzpe und nicht zuletzt dieser wunderbar lässige, immer leicht ironische Erzählton quasi als „Milchschaumhäubchen“ oben drauf – das seien die Zutaten für Eva Menasses Schreiben: eine „Wiener Melange“, die es verstünde, das Süße zu betonen, ohne das Bittere zu verschweigen, so Ebling. „Uns Lesern und Leserinnen beschert das viele köstliche Momente bester Leseunterhaltung. Es beschert uns aber auch den ungeschönten, ja bisweilen harten Blick auf die Selbsttäuschungen der Protagonisten und in die Abgründe des menschlichen Seins“, lobte er Menasses Werk.

„Das Leben bei Eva Menasse ist – ich zitiere hier aus Ihrem 2013 erschienenen Roman ‚Quasikristalle‘ – gleichzeitig festgefahren und fragil, ein Fahrzeug, das in einer steilen Kurve hängen geblieben ist. Nun frage ich Sie, verehrtes Publikum: Wem von uns ist es nicht selbst schon so ergangen? Wer kennt dieses Gefühl des ‚Festgefahrenseins‘ im eigenen Leben nicht? Da ist es ein Trost, dass Eva Menasses sezierender Blick die Helden ihrer Geschichten zwar schonungs-, aber doch nie empathielos trifft. Ihr Schreiben ist immer ein ehrliches, ein lebenskluges Schreiben.“, unterstrich der Oberbürgermeister.

Mit Eva Menasse konnten die Landeshauptstadt Mainz, das ZDF und 3sat – eine Stadtschreiberin gewinnen, die, so Ebbling, „zu den herausragenden Schriftstellerinnen in Deutschland und Österreich gehört und bereits mit hochrangigen Preisen ausgezeichnet wurde: darunter 2017 mit dem Österreichischen Buchpreis für ‚Tiere für Fortgeschrittene‘ und gerade erst mit dem Ludwig-Börne-Preis für hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der Reportage, des Essays und der Kritik. Wir konnten eine Stadtschreiberin gewinnen, die ‚mit Witz und Intelligenz zeitgenössische Charaktere von großer Lebendigkeit erschafft. Ihre Figuren haben alle einen schwachen Punkt, an dem unsere Empathie andocken kann. Nie verfällt sie in die Versuchung, ihnen endgültige Zeugnisse auszustellen. Es ist eine Freude, am Leben zu sein, aber alle Gewissheiten sind im besten Fall anrührende Selbsttäuschungen.‘“, freute sich der Oberbürgermeister.

Einführung  II von ZDF-Programmdirektor Dr. Norbert Himmler,

ZDF-Programmdirektor Dr. Norbert Himmler. © Foto: Diether v. Goddenthow
ZDF-Programmdirektor Dr. Norbert Himmler. © Foto: Diether v. Goddenthow

Der ZDF-Programmdirektor Dr. Norbert Himmler hob zur Verleihung des Mainzer Stadtschreiber-Literaturpreises 2019 an Eva Menasse hervor, dass diese, statt den Niedergang des Lesens zu beklagen oder die Bedeutung der Literatur zu beschwören, eine leidenschaftliche Rede gegen „digitale Gespenster“, gegen die negativen Phänomene des Digitalen Zeitalters hielt. Eva Menasse führe, wie in Berlin 2018 auf Literaturfestival geschehen, so Himmler, dem Zuhörer „ungeschönt die destruktiven Aspekte der digitalen Revolution, die Auswüchse der sozialen Netzwerke vor Augen: die Radikalisierung extremer Meinungen, die Festigung eindimensionalen Denkens, schlicht den Verlust der Freiheit: Die Mitte, das Abgewogene sei wie Eva Menasse sagte, für den Diskurs verloren“.

In den defragmentierten und zugleich maximal radikalisierten Zeiten, in denen wir lebten, benötige die Gesellschaft Autorinnen und Autoren, „die sich öffentlich einmischen: für Bürgerrechte, für Selbstbestimmung auch und gerade im Digitalen. So wie Eva Menasse und ihre Kolleginnen und Kollegen. Die sich beispielsweise für eine Charta der Digitalen Grundrechte in der Europäischen Union engagierten. Die sagen, ich zitiere: „Ein Mensch unter Beobachtung ist niemals frei; und eine Gesellschaft unter ständiger Beobachtung ist keine Demokratie mehr‘“, so der ZDF-Programmdirektor, der mit großer Sorge auf die totalitär-digitalen Entwicklungen in China schaut, „wie ein Staat es schafft, Autoritär und auch mit einer zentralen Parteiführung als Stütze ausgestattet, Daten von Bürgern zu sammeln, um sie dann auch gegen die eigenen Bürger zu nutzen. Vermeintliches Wohlverhalten wird belohnt, vermeintliches Fehlverhalten wird auch bestraft in Reisefreiheit, Freizügigkeit.“ Er habe gerade die Zahl gelesen, dass 15 Millionen Reiseaktivitäten, Flugreisen wie Bahnreisen von der Chinesischen Zentralregierung untersagt wurden, weil Fehlverhalten von Menschen, was zentral festgehalten wurde, damit auch sanktioniert wurde. „Da braucht man keine Mauern mehr, wenn man Digitalisierung entsprechend so versteht“, warnt Himmler.
Es gäbe sie auch heute noch „die großen moralischen Stimmen, die Mahnenden. So wie Eva Menasse, wie Juli Zeh oder unsere ehemaligen Stadtschreiber Ilija Trojanow und Josef Haslinger, die jetzt in unserer Stadtschreiberjury sitzen. Denn – hier zitiere ich abermals Eva Menasse – ‚Was man für richtig hält, was man in Ruhe begründen kann, muss man sagen, egal, wer applaudiert, wer protestiert, egal, ob es einen Shitstorm gibt‘“, so Himmler, der mit den klassischen sieben Todsünden „Trägheit, Gefräßigkeit, Wollust, Zorn, Hochmut, Neid und Habgier“, auch trefflich die niedrigsten Eigenschaften im Internet beschrieben sähe.

Die sieben Todsünden haben „seit jeher Autorinnen und Autoren zu großer Literatur inspiriert, auch Eva Menasse hat sie in ihrem Band ‚Lässliche Todsünden‘ zum Thema gemacht.“ Es sei ein Titel. der paradox klinge, in dem Menschen zumeist Paare, vielfach Familien mit unguten Konstellationen, Fremdgänger, Verliebte und Betrogene, kleine oder größere Sünder seien, ohne dass Eva Menasse dies moralisch werte, so Himmler. Eine Zeit-Rezension von Michael Neumann anführend, liege vielleicht ein literarisches Erfolgsgeheimnis im „Glück der Lektüre über das Unglück anderer Leute.“ Zum Glück des Lesens gehöre, „dass Eva Menasse jedoch nie billige Schadenfreude aufkommen lässt. Sie erhebt sich nicht über ihre angeschlagenen Heldinnen und Helden. Daher kommen uns die Figuren wie Rument, Cajou, Fiona, Martine und der träge Fritz erstaunlich nahe, ganz getreu ihrer ersten Maxime: ‚Liebe jede einzelne deiner Figuren‘“. Mit Eleganz, Humor und Ironie nehme sie die Welt des Wiener Kulturmilieus bis in die kleinste Gefühlsregung auseinander und setze sie kunstvoll wieder zusammen, so der ZDF-Programmchef, der berichtete, dass Eva Menasse einmal auf die Frage, „wie sie schreibe“ geantwortet habe: „Mein größtes Problem ist, dass ich nicht aufhören kann. […] Wenn es gut läuft, ist es fast schlimmer, wie in dem Märchen mit dem süßen Brei. Man kann schon nicht mehr, will der quellenden Masse aber Herr werden, den Reichtum an sich raffen, bis zuletzt.“

Laudatio von FAZ Mitherausgeber Jürgen Kaube

FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube. © Foto: Diether v. Goddenthow
FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube. © Foto: Diether v. Goddenthow

Jürgen Kaube hatte bereits Eva Menasse hochgelobt, bevor sie vielfach, inklusive dem Börne-Preis Ende Mai, mit 10 großen Literatur-Preisen geehrt und bundesweit hierdurch bekannt und erfolgreich wurde. Kaube analysierte Eva Menasses erzählerisches Werk mit einem Hang „für krisenhafte Situationen, menschliche Schwächen, für das Vermischte“, praktische für alles:: parallelisierte Tiere, Gerichtsprozesse, Krankheiten, Urlaube, Kinder, Verbrechen, Piefkes und Österreicher, und beide im Unterschied zu Wienern.“ Eva Menasse Worte seien nicht nur „sprachlich ergonomische ‘Stich‘-‘Proben‘“. Die Autorin schwimme auch, so sein Eindruck, „gegen den Storm der Zeit. Sie will der Vergangenheit nah bleiben.“. Ihre Figuren feierten Feste in blauen Salons, historischen Gebäuden und ähnlichem. Aber, wie sie bereits in ihrem deutschen Debüt-Erfolg der Großfamilien-Chronik „Vienna“ dem Versuch der touristischen Verklärung des Zeitlichen und Räumlichen widerstanden habe, schmelze sie gerade nicht die Vergangenheit um, auch nicht, in dem sie Figuren aus der Vergangenheit (er-)schaffe. Vielmehr führe sie häufig Menschen an ihren Figuren vor, die „die Realität verwechseln, Klugheit mit Bildung, Bequemlichkeit mit Güte, Normalität mit Moral.“, so Kaube. „Oft haben sie gar kein Verhältnis zu der Tatsache, dass die Zeit vergeht, und der Tod kommt.“ Und lebten so dahin, hätten kein Verhältnis zu unwiederbringlichen Verlusten, oder, vorsichtiger ausgedrückt, seien ohne „Unterstützung dabei, ein solches Verhältnis zu entwickeln“.

v.l.n.r.: Jury-Vorsitzender Werner von Bergen, ZDF-Hauptredaktion.  Geschichte und Wissenschaft, ZDF-Programmdirektor Dr. Norbert Himmler, Preisträgerin und Schriftstellerin Eva Menasse; Oberbürgermeister Michael Ebling, Gutenberg Wolfgang Neumann. © Foto: Diether v. Goddenthow
v.l.n.r.: Jury-Vorsitzender Werner von Bergen, ZDF-Hauptredaktion. Geschichte und Wissenschaft, ZDF-Programmdirektor Dr. Norbert Himmler, Preisträgerin und Schriftstellerin Eva Menasse; Oberbürgermeister Michael Ebling, Gutenberg Wolfgang Neumann. © Foto: Diether v. Goddenthow

Danksagung der  Mainzer Stadtschreiberin 2019 Eva Menasse

In ihrer „eulenspiegelhaften“ Dankesrede, in der Eva Menasse in einem anfänglichen Exkurs auf den Wert und die Bedeutung eines „heutigen Stadtschreibers“ einging, drängte sich ihr synonym „ein anderes Wort“ auf, „nämlich: Hofnarr“. Daniel Kehlmann habe in seinem Roman Tyll gezeigt, was einen guten Hofnarren ausmache, dass er „ nämlich kein Spaßmacher oder Unterhalter ist, sondern ein Wahrsager im Wortsinn, Quälgeist und Provokateur, einer der seinem König alle Illusionsblasen so vor der Nase zersticht, dass ihm die Fetzen ins Gesicht fliegen. Ein Hofnarr ist für seinen Herrscher die fleischgewordene Herausforderung.“ Zwar sei nicht jeder Künstler ein geborener Störer oder Dissident, „aber durch unsere unabhängige und fragile Stellung in der Gesellschaft“ sei die sprichwörtliche Narrenfreiheit auch ein starker Auftrag und Antrieb. Diese Freiheit sei nicht jeden Tag gleich: „Sie kann so schnell verschwinden, wenn sich der jeweilige Fürst quer über die Kehle streicht“, was kein neues, sondern ein alltäglich begleitendes Phänomen geworden sei, nämlich in Form von vielen „kleinen Herrscherlein“, die „heute stattdessen mit der Mouse klicken“.
Zurzeit sei es wieder besonders spürbar: „Die Künstler sollen sich gefälligst benehmen. Für sie gelten dieselben Regeln wie für alle anderen auch. Das ist so ein Satz, der immer gut klingt, obwohl er aus der Kleinkindererziehung stammt. Da die Kunst ihrer Natur gemäß auf öffentlichem Terrain spielt, lässt sich die Gereiztheit einer Gesellschaft sehr gut an ihrer Neigung zum Kulturkampf ablesen.

Preisträgerin und Schriftstellerin Eva Menasse. © Foto: Diether v. Goddenthow
Preisträgerin und Schriftstellerin Eva Menasse. © Foto: Diether v. Goddenthow

Der Unterschied heute zu früher sei, dass „die Attacken heute von ganz rechts bis ganz links kommen, wobei es mir inzwischen widerstrebt, die Produzenten von Maulkörben überhaupt noch nach Lagern oder Richtungen zu unterscheiden.“ Aktivisten störten brachial Theateraufführungen und Podiumsdiskussionen, auf der Buchmesse werde sich geprügelt, wobei es für die schützenswerte Sache, nämlich die Kunst und Meinungsfreiheit aber keinen Unterschied mache, ob Rechte das Gorki Theater stürmten oder ob besorgte Bürger, die Angst vor einem Rechtsruck haben, Lesungen von Thilo Sarrazin oder Martin Walser zu verhindern suchten. „Alles schon mal vorgekommen“, so Eva Menasse.
Auch jenseits von Handgreiflichkeiten greife ein neuer Rigorismus um sich, „der verbal aggressiv und von hochwirksamen Diskreditierungen ist“. Sehr Vieles werde plötzlich als untragbar empfunden, wobei man über manches lachen könne, handele es sich um Einzelfälle. „Aber die Einzelfälle, die absurden Einzelfälle verdichten sich zum Zeitgeist.“, mahnt die neue Mainzer Stadtschreiberin vor einer bis zum maximal Absurden getriebenen Political correctness, in dessen Geist beispielsweise Tugendwächterinnen im US-Schlager „Baby, it´s cold outside“ den „Beginn einer Vergewaltigung“ witterten.
Kunst müsse frei sein und bleiben. Denn Künstler zu sein bedeute, ohne garantierten Auftraggeber oder Abnehmer und ohne viele Kompromisse „ein Leben lang nur die eigene Sturheit und Unvollkommenheit als Gegenüber zu haben“, an der man sich eben abarbeite. Für diese Freiheit verzichteten Künstler auf Vieles: „Auf Planbarkeit, Sicherheit, auf stabile Einkünfte. Wir verzichten gern darauf. Theoretisch verzichten wir überhaupt auf alles, auf Rang, Ehre und Machtinsignien, also auf alles, womit man in der Gesellschaft aufsteigen kann.“ Künstler verzichteten auf alles, „um im Gegenzug alles zu dürfen mit unserer Kunst. Denn nur diese entsetzliche, schwindelerregende und beglückende Freiheit macht möglich, dass ab und zu Sätze geschrieben, ab und zu Kunstwerke geschaffen werden, die bleiben.“, so Eva Menasse.

Und in diesem Sinne, möchte Eva Menasse den Mainzern „als ihre neue Stadtschreiber-Hofnärrin die Wahrheit sagen: Denn diese Wahrheit scheint mir gerade nötig. Sie verdienen gewiss unsere Dankbarkeit, aber weil es für Sie leichter ist, zu verdienen, dient das, was Sie uns geben, uns nur dazu, nicht käuflich zu werden. In diesem Sinne dürfen Sie von uns keine Dankbarkeit erwarten Wir werden Ihre Wünsche nicht erfüllen. Wir werden nicht tun, was Sie für richtig und für passend und für künstlerisch wertvoll halten. Wir werden Sie im Gegenteil oft ärgern, verstören, befremden. Wir machen das nicht absichtlich, das geschieht, wie von selbst. Mit Ihrem großzügigen Preis werde ich ein verrücktes, möglicherweise größenwahnsinniges Projekt weiterverfolgen, das ich mir vor einiger Zeit in den Kopf gesetzt habe, nichts anderes. Ich hätte das auch ohne ihren Preis getan, aber nun wird es leichter sein.“, dankte die neue Stadtschreiberin ein wenig schelmisch in der Hoffnung, dass dabei Geschichten entstehen, die „Ihnen irgendwann später einmal Freude machen, Sie unterhalten, Sie vielleicht sogar auf neue Gedanken bringen. „.

Diether v. Goddenthow/ Rhein-Main.Eurokunst

Eva Menasse, die am Freitagabend im Rathaus Mainz bei einer Lesung ihr Werk vorstellte, signierte bereits nach ihrer Amtseinführung. © Foto: Diether v. Goddenthow
Eva Menasse, die am Freitagabend im Rathaus Mainz bei einer Lesung ihr Werk vorstellte, signierte bereits nach ihrer Amtseinführung. © Foto: Diether v. Goddenthow

Die Mainzer Stadtschreiberin 2019: Eva Menasse
Biografie und Bibliografie

Eva Menasse wurde 1970 in Wien geboren. Nach dem Schulabschluss 1988 studierte Menasse Germanistik und Geschichte an der Universität Wien. Noch während ihres Studiums begann sie ihre journalistische Karriere, die sie vom Wiener Wochenmagazin Profil bis zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung führte. Mit ihrem ersten Roman, dem österreichisch-jüdischen Familienepos „Vienna“ (2005) gelang Eva Menasse ein fulminantes Debüt. Mit ihrem zweiten Roman „Lässliche Todsünden“ (2009), der sich aus locker miteinander verbundenen Erzählungen über das lasterhafte Leben der Wiener Intellektuellenszene zusammensetzt, konnte sie ihren Erfolg bei Publikum und Kritik fortsetzen. Preisgekrönt ist ihr Roman „Quasikristalle“ (2013), in dem Menasse das Lebensmosaik einer Frau aus verschiedensten Perspektiven schildert. Der jüngste Erzählband „Tiere für Fortgeschrittene“ (2017) handelt von Lebenslügen und Lebensillusionen des aufgeklärten Bürgertums.
Eva Menasse engagiert sich vielfach öffentlich, u.a. für die SPD oder gemeinsam mit Autorinnen und Autoren wie Juli Zeh und Ilija Trojanow für einen europäischen Datenschutz gegen die digitale Massenüberwachung unserer Gesellschaft.
Menasse, die seit 2003 in Berlin lebt, wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, unter anderem mit dem Corine-Preis (2005), dem Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln (2013), dem Stipendium der Villa Massimo in Rom (2015), dem Friedrich-Hölderlin-Preis (2017), dem Österreichischen Buchpreis (2017) und dem Ludwig Börne-Preis (2019).
Bibliografie-Auswahl

  • Vienna. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005
  • Lässliche Todsünden. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009
  • Quasikristalle. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013
  • Lieber aufgeklärt als abgeklärt. Essays. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015
  • Tiere für Fortgeschrittene. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017

Die Jury

Der Jury des Mainzer Stadtschreiber-Literaturpreises 2019 gehörten an:
Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller:
Prof. Dr. Josef Haslinger
Katja Lange-Müller
Dr. Tilman Spengler
Ilija Trojanow
und als amtierende Stadtschreiberin Anna Katharina Hahn

Für die Landeshauptstadt Mainz:
Kulturdezernentin Marianne Grosse

Für das ZDF:
Programmdirektor Dr. Norbert Himmler
Leiterin der Hauptredaktion Kultur, Anne Reidt
Jury-Vorsitzender Werner von Bergen, Hauptredaktion Geschichte und Wissenschaft
Koordinatorin 3sat, Natalie Müller-Elmau
Literaturredakteur 3sat, Dr. Michael Schmitt

Die Mainzer Stadtschreiber und ihre TV-Dokumentationen

1985 Gabriele Wohmann (verstorben am 22. Juni 2015)
„Unterwegs“
(Sendung: 17. November 1985)
1986 H. C. Artmann (verstorben am 4. Dezember 2000)
„Den Horizont überschreiten“
(Sendung: 7. Dezember 1986)
1987 Ludwig Harig (verstorgen am 5. Mai 2018)
„Zu ergründen die eigene Heimkehr“
(Sendung: 6. Dezember 1987)
1988 Sarah Kirsch (verstorben am 5. Mai 2013)
„Briefe an eine Freundin“
(Sendung: 4. Dezember 1988)
1989 Horst Bienek (verstorben am 7. Dezember 1990)
„Die verrinnende Zeit“
(Sendung: 31. Dezember 1989)
1990 Günter Kunert
„Artus – ein König wird gesucht“
(Sendung: 9. Dezember 1990)
1991 Helga Schütz
„Hinterm Vorhang sieht man einen Schatten“
(Sendung: 26. April 1992)
1992 Katja Behrens
„Jerusalem – Berlin. Eine Begegnung“
Mit Asher Reich und Hans Joachim Schädlich
(Sendung: 7. März 1993)
1993 Dieter Kühn (verstorben am 25. Juli 2015)
„Eine Reise nach Surinam“
(Sendung: 19. Dezember 1993)
1994 Libuse Monîková (verstorben am 12. Januar 1998)
„Grönland-Tagebuch: Wer nicht liest, kennt die Welt nicht“
(Sendung: 13. Dezember 1994)
1995 Peter Härtling (verstorben am 10. Juli 2017)
„Schumann in Finnland“
(Sendung: 21. Dezember 1995)
1996 Peter Bichsel
„Wir hätten in Spiez umsteigen sollen“
(Sendung: 12. Dezember 1996)
1997 F.C. Delius
„Wie weit ist es von einem Mann zu einer Frau?
24 Stunden mit Tucholsky in Gripsholm“
(Sendung: 23. November 1997)
1998 Erich Loest (verstorben am 12. September 2013)
„Karl May reist zu den lieben Haddedihn“
(Sendung: 6. September 1998)
1999 Tilman Spengler
„Bitterer Balkan. Der Krieg ist eine Zerrüttung der Seelen“
(Sendung: 5. Dezember 1999)
2000 Hanns-Josef Ortheil
„Schauplätze meiner Fantasien – Rom, Venedig und Prag“
(Sendung: 22. Oktober 2000)
2001 Es wurde keine Dokumentation produziert.
2002 Katja Lange-Müller
„Mein erster Amerikaner. Der Maler Kedron Barrett“
(Sendung: 17. November 2002)
2003 Urs Widmer (verstorben am 2. April 2014)
„Die Forschungsreise“
(Sendung: 14. Dezember 2003)
2004 Raoul Schrott
„Deutschland – Himmel und Hölle“
(Sendung: 3. August 2005)
2005 Sten Nadolny
Es wurde keine Dokumentation produziert
2006 Patrick Roth
„In My Life – 12 Places I Remember.“
(Sendung: 26. November 2006)
2007 Ilija Trojanow
„Vorwärts und nie vergessen! Ballade über bulgarische Helden“
(Sendung: 16. Dezember 2007)
2008 Michael Kleeberg
„Europas Heimkehr. Eine Reise in den Libanon“
(Sendung: 4. Januar 2009)
2009 Monika Maron
„Rückkehr nach Bitterfeld“
(Sendung: 30. Oktober 2009)
2010 Josef Haslinger
„Nachtasyl – Die Heimat der Heimatlosen“
(Sendung: 16. Dezember 2010)
2011 Ingo Schulze
„Rettung aus dem Regenwald? Die Wiederentdeckung der Terra Preta“
(Sendung: 11. November 2011)
2012 Kathrin Röggla
„Die bewegliche Zukunft – Eine Reise ins Risikomanage¬ment“
(Sendung: 18. November 2012)
2013 Peter Stamm
„Fordlandia – Das verlorene Paradies?“
(Sendung: 1. Juni 2014)
2014 Judith Schalansky
Es wurde keine Dokumentation produziert.
2015 Feridun Zaimoglu
„Istanbul von vorne. Eine Recherche“
(Sendung: 25. Oktober 2015)
2016 Clemens Meyer
„Nicht jedes Los gewinnt – Erzählungen vom Rummelplatz“
(Sendung: 9. Dezember 2016)
2017 Abbas Khider
Es wurde keine Dokumentation produziert.
2018 Anna Katharina Hahn
Tauben in Städten
(Sendung: 21. Oktober 2018)