Mainzer Stadtschreiber 2020 Eugen Ruge publiziert nach Corona-Absage seiner öffentlichen Antritts-Lesung weniger „ansteckend“ per PDF

Aufgrund der Corona-Pandemie und der dadurch bedingten Einschränkungen konnte der Festakt zur Amtseinführung des Mainzer Stadtschreibers 2020, Eugen Ruge, am 13. März nur in verkleinerter Form und nicht-öffentlich stattfinden.

Auch die traditionelle Antrittslesung, die für den 19. März vorgesehen war, musste abgesagt werden. In Absprache mit Eugen Ruge wird die Antrittslesung in den kommenden Monaten nachgeholt. Dennoch war es Eugen Ruge ein persönliches Anliegen, sich als neuer Stadtschreiber an die Mainzerinnen und Mainzer zu wenden.

Eugen Ruge statt einer öffentlichen Antrittsrede

„Normalerweise hält man als Mainzer Stadtschreiber bei der Verleihung der Ehrenurkunde eine Rede. Leider ist die Verleihung ausgefallen, genauer gesagt, sie wurde kurzfristig auf eine gemütliche Runde geschrumpft. Die Rede, die ich eigentlich halten wollte, schien auf einmal unpassend. Eigentlich wollte ich über die Gleichstellung der Mainzelweibchen sprechen, ein wichtiges Thema, das uns bis kurzem noch alle heftig bewegt hat, nun aber mit einem Schlag durch ein anderes ausgelöscht worden ist. Da nun eine „normale“ Preisverleihung nicht in Sicht scheint, habe ich mich entschlossen, mich mal schriftlich zu melden, das ist weniger ansteckend. Und natürlich möchte ich reden über – Corona.

Lieber Mainzer und Innen, Corona ist eine ernste Sache. Ich hoffe, Sie kennen den neuesten Witz dazu. Es gab ihn im französischen Youtube: Ein niesender und schnupfender Italiener, der einen Pizzateig walkt und walkt, und heraus kommt – die PIZZA CORONA! Angeblich sollen die Italiener für diese französische Gemeinheit den Botschafter einbestellt haben. Bricht der Völkerhass wieder aus? Bringt Corona den Europäischen Glauben
ins Wanken? Steht etwa die Globalisierung zur Debatte? Die ganz Mutigen haben dagegen schon ihre Stimme erhoben. Habe ich im Fernsehen gesehen. Globalisierung ist toll! Globalisierung ist gut für Deutschland! Das finde ich auch. Allerdings nicht für alle Deutschen. Also ungefähr für die Hälfte.
Nein, ich habe jetzt keine Lust, Zahlen aus den Statistiken der Bundesministerien rauszusuchen. Zahlen überzeugen sowie niemanden. Was bedeutet das schon: Jeder vierte Arbeitnehmer im reichen Deutschland arbeitet im Niedriglohnbereich. Was sagen Begriffe wie Scheinselbstständigkeit oder Outsourcing. Aber Corona macht auf einmal einiges sichtbar. Mit Corona sieht man besser. Wenn man genau hinschaut. Und hinhört.

Gestern hörte ich beispielsweise im Deutschlandfunk den freundlichen Vorschlag, dass vielleicht dieser oder jener Vermieter
einem Scheinselbstständigen, Outgesourcten oder sonstwie Angeschmierten, die es in unserer Gesellschaft seit Corona auf einmal massenhaft gibt, und die auf einmal ihre Miete nicht mehr bezahlen können, mal für eine Weile die Miete erlassen könnte. Das ist doch nett! Eine gute Idee gegen Mietwucher. Oder
Scheinselbstständigkeit. Oder Outsourcing. Oder Niedriglohn. Und was machen eigentlich diejenigen, oft Osteuropäer oder Migranten, denen wir ja vielleicht durch unseren Hühnerfleischexport die Lebensgrundlage in ihrer Heimat genommen haben, und die nun in halblegalen Verhältnissen auf Baustellen oder Feldern schuften? Und die keine 5000 Euro Überbrückungsgeld kriegen werden? Oder ist das in Mainz alles ganz anders? Anders als in Berlin? Ich war, offen gestanden, vor dem Preis erst ein einziges Mal in Mainz. Das war knapp vor der Wende, ich war abgehauen und konnte es nicht fassen, dass es so viele Kneipen auf einem Haufen gibt. Damals war ich echt voll für den Kapitalismus. Aber ehrlich gesagt, damals war der Kapitalismus auch anders. Irgendwie netter. Und die Züge waren damals auch pünktlich. Hab ich gestaunt! Und die Leute haben allen Ernstes schon von der 35-Stunden-Woche mit vollem Lohnausgleich phantasiert. Das ist ja nun wohl vom Tisch, heute arbeitet jeder soviel er will, und irgendwie wollen alle. Hat das vielleicht mit Globalisierung zu tun?

Mit Corona sieht man besser: Die Top-Nachricht über Trump: Dass er CureVac kaufen wollte, um den Impfstoff exklusiv für Amerika zu nutzen. Haben wir gern geglaubt, denn das passt natürlich zum Trumpel. Skandal! Leider eine Fake-News. Aber skandalös ist sie trotzdem: Wir leben in einer Welt, in der das zumindest möglich wäre, denn sonst hätten es der Deutschlandfunk oder die WELT wohl kaum geglaubt. Man kann Gesundheit kaufen! Gesundheit ist
eine Ware. Unser Gesundheitssystem, sieh mal an, ist nach kapitalistischen Grundsätzen organisiert. Mit Corona sieht man besser: Es mangelt an Pflegekräften in Deutschland. Es ist nett, dass Gesundheitsminister ein Dankeschön für die Kämpfer an der Coronafront übrig hat. Aber vielleicht wäre
Corona ja mal ein Anlass, unser Gesundheitssystem zu überdenken? Ein Drittel aller Geburtskliniken in Deutschland wurden in den letzten 30 Jahren geschlossen, weil Geburt sich nicht rechnet. Diabetikern werden Gliedmaßen amputiert, weil der Versuch der Wundpflege zu langwierig ist, um Gewinn zu bringen. Das alles bemerkt man vielleicht nicht, wenn privatversichert ist und zu der Hälfte gehört, die von der Globalisierung profitiert. Genauer gesagt, zu dem Bruchteil der Weltbevölkerung.

Mit Corona sieht man besser: Aus Wuhan, höre ich, kommen täglich 20.000 Container mit Waren und Komponenten nach Deutschland. Nein, ich habe die Zahl nicht geprüft, es reicht, zu hören, dass in Deutschland Betriebe stillstehen, weil Zulieferteile aus aller Welt fehlen. Oder dass Felder nicht abgeerntet werden können, weil rumänische Arbeiter nicht die Grenze passieren dürfen. Beruht unser Wohlergehen in Deutschland vielleicht auch darauf, dass eine Näherin in Äthiopien 1,50 Dollar am Tag verdient? Dass in Bangladesch die Fabriken zusammenkrachen? Dass in China die Flüsse von Chemikalien verseucht werden? Ist das wirklich die Art Globalisierung, die wir wollen? Wir vergießen Krokodilstränen über das Klima, während wir zugleich täglich Millionen Tonnen Waren durch die Welt bewegen. Es geht nicht anders, höre ich von Experten. Die Lieferketten, der Freihandel. Das ist nun einmal da, das kann man nicht rückgängig machen. Zu schweigen von den Milliarden Geschäftsreisenden. Zu schweigen vom Massentourismus, dessen einziger Effekt es ist, auch den letzten schönen Ort dieser Welt dadurch unerträglich zu machen; dass buchstäblich jeder ohne die geringste Anstrengung an fast jedes beliebige Ziel gelangt. (Ich mache mich gerade unbeliebt, ich weiß).

Seit Jahrzehnten ist klar, dass die Ressourcen der Erde endlich sind, dass ewiges Wachstum eine Illusion ist. Wachstum heißt: Jedes Jahr mehr mehr produzieren als im vorherigen Jahr. Wachstum ist exponentiell. Und was exponentiell heißt, kann man gerade bei Corona lernen. Corona strebt etwas schneller empor, allerdings strebt sie auch bald einer Sättigung entgegen. Corona wird voraussichtlich 0,3% der Infizierten töten, drei von Tausend, und gewiss ist jeder einzelne Verlust ist schlimm. Aber der Zwang zum Wachstum tötet schon jetzt und wird vielleicht schon bald die Lebensgrundlagen der Menschheit zerstören – falls wir nicht, und danach sieht es nicht aus, ziemlich sofort und weltweit grünen Strom tanken und unsere Solarzellen aus umweltfreundlicher Baumrinde herstellen. Und wozu das alles?

Mit Corona sieht man besser. Der wirtschaftliche Shut-Down ist nicht lange durchhaltbar. Und ich will auch nicht behaupten, dass es erstrebenswert sei, nichts zu tun, selbst wenn man dafür bezahlt wird. Aber mal anhalten, durchatmen, mal zur Ruhe kommen, sich, wie man so schön sagt, besinnen – und mal darüber nachdenken, was uns eigentlich gut tut; was die tägliche Hetzjagd eigentlich mit uns macht. Verlangsamung ist lebensrettend, sagen die Virologen.
Das sage ich auch.

Bleiben Sie gesund. Lesen Sie was Schönes. Und räumen Sie
endlich mal auf! Ich freue mich auf meine Antrittslesung in Mainz,
wenn das alles vorbei ist. Vorbei und vergessen? Hoffentlich nicht.“