„Überall Fremde“- 60. Biennale Venedig eröffnet – Neben Kriegsszenarien viele farbenfrohe textile Arbeiten – von Dorothee Baer-Bogenschütz

Hauptpavillon der 60. Biennale in Venedig © Foto Dorothee Baer-Bogenschütz
Hauptpavillon der 60. Biennale in Venedig © Foto Dorothee Baer-Bogenschütz

Seit 20. April 2024 hat die 60. Kunstbiennale Venedig ihre Pforten geöffnet. Sie wird nun wieder sieben Monate lang, bis zum 24. November 2024, Kunstinteressierte aus aller Welt  anlocken. Als künstlerischer Leiter der 60. Esposizione Internazionale d’Arte und Kurator der Zentralausstellung konnte der 1965 in Rio de Janeiro geborene Ausstellungsmacher Adriano Pedrosa gewonnen werden. Er stellte die weltgrößte und hochpolitische Kunst-Ausstellung unter das „Motto“ „Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere“,  übersetzt: „Überall Fremde“.
Die 60. Biennale Venedig präsentiert allein in der Hauptschau  332 Künstler und Kollektive aus 30 Ländern und Regionen der Welt. Dazu kommen rund 90 Nationalpavillons.  Unsere Gastautorin und Kunstexpertin Dorothee Baer-Bogenschütz, unter anderem bekannt als langjährige Redakteurin der  KUNSTZEITUNG und des Informationsdienst KUNST, hat sich  in Venedig umgeschaut und ein paar starke Eindrücke mitgebracht.

Was setzt sich in der Kunst durch, der „Schimmer von Möglichkeiten zur Gesundung“ oder „Alltäglicher Krieg“?
Die 60. Kunstbiennale Venedig widmet sich großenteils Unterdrückten und Geknechteten, zeigt neben Kriegsszenarien viele farbenfrohe textile Arbeiten, die nicht minder nachdenklich stimmen.
60. Biennale IX- Vor dem USA-Pavillon, der den israelischen flankiert, wird bei der Biennalevorbesichtigung mit Palästinensertuch gegen Israels "Genozid"-Pavillon demonstriert. © Foto: Dorothee Baer-Bogenschütz
Vor dem USA-Pavillon, der den israelischen flankiert, wird bei der Biennalevorbesichtigung mit Palästinensertuch gegen Israels „Genozid“-Pavillon demonstriert. © Foto: Dorothee Baer-Bogenschütz

Von Dorothee Baer-Bogenschütz – 26.April 2024

Unter dem Titel „Alltäglicher Krieg“ versammelt Yuan Goang-Ming Installationen und Videobeiträge zu Kriegsvorkehrungen und -sorgen in Taipei im sogenannten Kollateralprogramm der Biennale. Ausgerechnet im Palazzo delle Prigioni, dem Gefängnispalast, platziert der Vertreter Taiwans, das nicht zu den rund 90 Nationen mit offiziellem Pavillon gehört, die Werke: mit die aufwühlendsten der 60. Weltkunstschau. Der 1965 geborene Taiwaner studierte an der Karlsruher HfG.

Derweil war es Ewald Schrade, Galerist und Gründungsdirektor der Art Karlsruhe, der früh das Talent Tesfaye Urgessas erkannte und förderte. Jetzt ist der figurative Maler Repräsentant seiner Heimat im Nationalpavillon Äthiopiens, das erstmals an der Biennale teilnimmt, mit einer eindringlich expressiven Soloschau zu Schicksalen im globalen Süden. Zum ersten Mal nimmt unter anderem auch Benin teil. Unter dem berührenden Titel „Alles Kostbare ist zerbrechlich“ geht es um Themen, die ein Organisationskomitee vorgab: Landesgeschichte, Sklavenhandel und Spiritualität, der Mutter gewidmete Gelede-Rituale, die Vodun Religion. Viel zu viel für einen Pavillon, zumal darin vier Künstler ausstellen – unter ihnen der ehemalige documenta-Vertreter Romuald Hazoumé, der in Kassel 2007mit einem Flüchtlingsboot aus zerschnittenen Plastikkanistern auffiel. Sehenswert aber allemal. Anlässlich seiner Venedig-Premiere lässt Benin wissen, sein Engagement für Kunst und Kultur ausbauen respektive künftig verstärkt promoten zu wollen.

Befremdlich nur, dass die Biennaleteilnahme laut Kurator Azu Nwagbogu, „nach Frankreichs Restitution von 26 königlichen Schätze Benins“nun als „zweiter Schritt einer klaren und präzisen politischen Herangehensweise an die Kunst“ verstanden wird.

Die politische Aufladung, Bevormundung und (Aus-)Beuteerwartung wiederum bestimmt gegenwärtig den Kunstbetrieb, der aufpassen muss, dass das Belehrende beziehungsweise entsprechende Vorgaben von welcher interessierten Seite oder Lobby auch immer am Ende das Ästhetische, Phantastische oder Irrationale, das Suchende, Tastende und Spielerische, Humor, Ironie und spontane Irritation nicht komplett vereinnahmen und gar auffressen. Immer öfter sieht es danach aus -, und eine Veranstaltung wie die Biennale schreit es geradezu heraus. Diese Ausgabe stürzt sich unterdessen fast schon fanatisch auf jenen Teil des Globus, der bislang deutlich unterbelichtet war im Kunstgeschäft und nunmehr mit dem Etikett globaler Süden abgestempelt wird.

In den Giardini winkt eine wahre Villa Kunterbunt: Nie leuchtete die Fassade des zentralen Ausstellungsgebäudes derart farbenfroh. Sie badet förmlich in Motiven exotischer Flora und Fauna; Schildkröte und Fische kennzeichnet figürlich naiver Stil. Soll heißen: Das indigene Moment lebe hoch und damit kunsthandwerkliche Traditionen. „Überall Fremde“ lautet das Biennalethema. Dabei liegt im Auge des Betrachters, wer nun eigentlich der Exot ist.

Indigene sind es in den Augen vieler. Prompt erklommen sie das Siegertreppchen. An Australien geht der Goldene Löwe für den besten Länderpavillon: Archie Moores Installation „kith and kin“ (Freunde und Familie) ist eine genealogische Fleißarbeit, die 65 000 Jahre überspannt. Der mit Kreide an Wände und Decke gezeichnete unfassbar verzweigte Stammbaum zwingt jeden in die Knie. Einen „Schimmer von Möglichkeiten zur Gesundung“ attestiert Moore die Jury. In der Rubrik „bester Künstler“ zeichnet sie das Mataaho Collective für „matrilineare Textiltraditionen“ und dessen „gebärmutterähnliche Wiege“ aus: Maori-Frauen überspannen einen Raum mit gewebter Struktur an der Schwelle zur Abstraktion.

Als Schwellenland gibt sich Deutschland: Hinter dem Titel „Thresholds“ verbirgt sich die Intervention von Gastarbeiterenkel Ersan Mondtag, der Erde vor den Pavillon kippen ließ, sodass Besucher den Seiteneingang nehmen müssen, um dann zwei Zeitsprünge zu machen. Einen in die deutsche (Arbeits-)Welt des Großvaters: detailfreudig nachgebaut bis zum Klo, auf dem eine Performerin Platz nimmt, gerahmtem Atatürk-Foto im Schlafzimmer und Strickzeug auf dem Sofa. Die mehrstöckige begehbare Installation erinnert von außen an einen Schiffsbug und dank Wendeltreppe und erzwungenem Herumknäulen in engen Wohnräumen an Gregor Schneiders Beitrag „Totes Haus u r“ im Jahr 2001.

Der zweite Sprung führt in eine utopische Zukunft. Yael Bartana beordert uns ins virtuelle Raumschiff der Erlösung vor dem Hintergrund jüdischer Anstöße der Kabbala. Doch das Aufeinandertreffen von Muslim und Jüdin allein genügt der türkischstämmigen Kuratorin aus Baden-Baden: Çağla Ilk, als Setzung nicht. Bombastische Musik pusht Emotionen im blauschwarzen Dämmer: große Oper. Ilk ist Dramaturgin. Das schimmert durch.

60.Biennale X Raumschiff von Yael Bartana im deutschen Pavillon. © Foto: Dorothee Baer-Bogenschütz
Raumschiff von Yael Bartana im deutschen Pavillon. © Foto: Dorothee Baer-Bogenschütz

Der Pavillon wirkt überfrachtet, eine einzige künstlerische Position hätte genügt. Wieso zwingend zwei? Beide gehen mit derart viel Pathos einher, dass das Publikum überrollt wird und sich schon angesichts der räumlichen Verschachtelung: des Haus-im Haus-Prinzips, entscheiden muss, ob es der Gastarbeiterspur oder der Urzeit-Mystik-Endzeit-Schiene folgen will.

 

Zu den Problempavillons: Polen widmet sich eindringlich der Kriegsbetrachtung und dem Sound des Infernos, nämlich den Geschossen, die auch Zivilisten um die Ohren fliegen, und den Detonationen. Eingeladen wurde das ukrainische Kollektiv „Open Group“ mit seinen Betrachtungen des Grauens. Im Ukraine-Pavillon wiederum überrascht (Galgen-) Humor. Man habe, so Künstlerin Lia Dostlieva, viel Spaß gehabt beim Dreh mit Deutschen, die für Videoarbeiten den ukrainischen „Opfertyp“ oder das „Sexobjekt“ mimen, wie sie in Medien oder Werbung tatsächlich zum Einsatz kommen.

Die Arbeit „M(otherland)“ im Israel-Pavillon, den drei Soldaten bewachen, lässt sich durch die Glasfront ansatzweise erahnen. Während gerade bekannt geworden war, dass Ruth Patir ihn aus Solidarität mit den Hamas-Opfern nicht aufsperrt, skandierte eine erregte Menge vor dem benachbarten, vom indigenen Künstler Jeffrey Gibson bespielten US-Pavillon „From the river to the sea“. Wie Patir verweigert beim Start überraschend auch der Iran die Pavillonöffnung: ohne Begründung.

Die Kunst? Soll heute Therapeutin und Heilerin sein, aufklären und anklagen, investigativ und ein Korrektiv sein und dabei Investment bleiben. Sie fragt – früher verpönt – immerzu nach der Herkunft, verlangt, Minderheiten eine Stimme zu geben. Kurz: Sie arbeitet Kriterienkataloge ab. Das spiegelt die Biennale, die mit Adriano Pedrosa erstmals ein Lateinamerikaner leitet, deutlich.

60.Biennale VI - "we want to be free" lautet eine Botschaft im USA-Pavillon von Jeffrey Gibson. © Foto: Dorothee Baer-Bogenschütz
„we want to be free“ lautet eine Botschaft im USA-Pavillon von Jeffrey Gibson. © Foto: Dorothee Baer-Bogenschütz

Sie verhandelt die Ismen der Jetztzeit, vorneweg Rassismus und Kolonialismus. Während im Dogenpalast eine Schau Marco Polos Reisen nachspürt, fesselt Kanada mit Vorhängen aus sieben Millionen Glasperlen: jener Währung, mit der einst Indigene betört wurden. Kaum je zuvor präsentierte eine Biennale so dichtmaschig Stickereien, Patchwork, Perlen und bunte Bänder. Die saudische Aktivistin Manal AlDowayan liefert einen ästhetisch wie inhaltlich stimmigen Beitrag zum Empowerment der Saudi-Arabierin. Ein „Petticoat Government“ installiert Belgien mit Riesenpuppen, die bei Umzügen den Frühling einläuten. Dazu erklingt Musik, es wird getanzt. Hier blitzt kurz Lebensfreude auf jenseits kritischer Theorien, woker Selbstverpflichtungen und Manifeste. Ein Fest der Völker und freudvolle Begegnung sollte die Biennale ja auch sein dürfen, gefällt sich aber besser als gestrenge Moralpredigerin. Michael Ballack zieht es gleich zum Altstar: Willem de Kooning in der Gemäldegalerie Accademia.

Die Biennale hat derweil, obwohl sie seit einigen Jahren im regenreichen April startet und damit mehrere Wochen früher aufsperrt als in der Vergangenheit, wo sie eine Sommersensation war, die Eine-Million-Besucher-Schwelle bislang noch immer nicht geknackt. Das ist verwunderlich, bedenkt man, dass die erste Ausgabe bereits 224 000 Leute anzog. Das war im Jahr 1895. Zu diesem Zeitpunkt wusste die Menschheit noch nicht von Weltkriegen. Vielmehr beschnupperte(n) sich die Welt(en) bevorzugt auf Weltausstellungen.

Informationen zur 60.Biennale Venedig