Kategorie-Archiv: Frankfurter Museen

„Looking for Medusa“ Raum-Klang-Installation der Künstlerinnen Linda Weiß und Nina M.W. Queissner vom 2. Juni 2023 bis 15. Januar 2024 im Senckenberg Naturmuseum

Salzkristalle wachsen auf einer korallenartigen Keramik – einem „tentakulären Wesen“ der Installation „Looking for Medusa“. Foto: Linda Weiß
Salzkristalle wachsen auf einer korallenartigen Keramik – einem „tentakulären Wesen“ der Installation „Looking for Medusa“. Foto: Linda Weiß

Frankfurt am Main, 01.06.2023. Korallen und Riffe sehen, hören und fühlen, also multisensorisch erfahren – dazu lädt die Installation „Looking for Medusa“ ab dem 2. Juni 2023 ein. Inspirationsquelle der Künstlerinnen Linda Weiß und Nina M.W. Queissner sind Ovids „Metamorphosen“, in denen der Dichter die mythische Geburt der Koralle aus dem Blut der Medusa erzählt. In einem hypothetischen und experimentell angelegten Lebensraum verschmelzen Skulptur und Klang miteinander. Die Fragilität und die Faszination der Riffe, ihre Gefährdung und ihre Geheimnisse sind der Resonanzboden für das Projekt. Die Installation ist Teil der Ausstellungsreihe „Triff das Riff!“, die das komplexe System Korallenriffe nacheinander aus den drei Perspektiven „Gesellschaft“, „Kunst“ und „Forschung“ beleuchtet. Mit diesem Format erprobt Senckenberg innovative und flexible Ausstellungsformen, um das Museum als Ort des Dialogs und Diskurses zu öffnen sowie aktuelle Entwicklungen und unterschiedliche Sichtweisen in Dauerausstellungen einzubringen.

Auf einer mit Seegras gepolsterten Liegefläche können Besucher*innen dokumentarischen und imaginären Unterwasserklängen lauschen, die Gerüche der getrockneten Wasserpflanzen wahrnehmen und fühlen, wie sich der Klang per Körperschallwandler auf dem Untergrund und dem eigenen Körper ausbreitet. Über ihren Köpfen schweben auf zwei transparenten Platten Keramiken, deren Formen Wasserlebewesen nachempfunden sind. Die Objekte bilden teils farbige Salzkristalle auf der Oberfläche aus, sodass bizarre Muster und Strukturen auf dem Glas entstehen. Umgeben ist dieser Ort in der Korallenriff-Inszenierung des Museums von großen Wandbehängen – besetzt mit phantastischen, organisch anmutenden Strukturen aus Gips, Textil und Leder. Hier und da wirkt es, als ob der Kopf einer Medusa aus dem fleischfarbenen Untergrund hervorbricht. Aus verborgenen Lautsprechern sind Wasserklänge zu hören.

„Für sich genommen ist das Korallenriff eine visuell sehr ausdrucksstarke Skulptur, eine hyperrealistische Konstruktion des Ökosystems Riff in verschiedenen Zuständen. Queissner und Weiß stellen sich der ungewöhnlichen Situation, nicht in einem unbesetzten Ausstellungsraum ein Projekt zu inszenieren. Stattdessen bauen sie neue Lesarten und ‚Kulturen der Natur‘ in den Raum ein. Sie bieten mit „Looking for Medusa“ verschiedene Zugänge zum Verständnis von Korallenriffen an“, sagt Museumsdirektorin Dr. Brigitte Franzen und fährt fort: „Plötzlich ist man umgeben von besonderen Klängen. Wandbehänge bilden einen Raum im Raum, in dem sich phantastische, mit Salz bewachsene Korallenwesen aufhalten. Die Installation hat eine außergewöhnliche Wirkung und ich freue mich darauf zu erleben, wie Besucher*innen den Raum für sich nutzen und den Anstoß aufnehmen, sich mit der Natur der Riffe und deren Interpretationen auseinanderzusetzen.“

In seinen „Metamorphosen“ beschreibt Ovid, wie Perseus der Medusa, dem Wesen mit dem versteinernden Blick und dem Schlangenhaar, den Kopf abschlägt. Als er das Haupt neben sich ablegt, berührt das Medusenblut die dort wachsenden Meerespflanzen und eine Metamorphose beginnt: Die Pflanzen verhärten sich zu Korallenstöcken, die Nymphen im Meer verstreuen. Die zentrale Klangkomposition ist inspiriert von der Geschichte der monströsen Transformation der Medusa zur Koralle. „Auf der Liegefläche kann man in diese Erzählung eintauchen“, sagt Queissner und erläutert weiter: „Die verwendeten Sounds sind eine Mischung aus Originalaufnahmen aus der Natur und im Studio produzierten Klängen. Wir haben uns stark mit den Reaktionen des Korallenriffs in Abhängigkeit von der stofflichen Zusammensetzung des Wassers beschäftigt. Deshalb beziehen sich die Klänge auch auf das Wasser in verschiedenen Bewegungs- und Aggregatzuständen. Die Zuhörer*innen werden eingeladen, in die verschiedenen Klangwelten unter Wasser einzutauchen.“

Um Transformation geht es auch bei den schwebenden Salzkristallexperimenten. Die kleinen Keramiken erinnern an Korallententakel; Weiß hat sie in Petrischalen verschiedenen Salzlösungen ausgesetzt. Die getrockneten Salzkristalle bilden eigene Strukturen auf den „tentakulären Wesen“, wie die Künstlerin sie nennt, und unterscheiden sich in Form und Farbe, je nachdem wie sich das Salz zusammensetzt. „Es ist faszinierend zu sehen, wie das Salzwasser die Körper durchdringt. Sie durchlaufen sozusagen einen Stresstest, und wir können beobachten, wie sie sich dabei transformieren.“ Eine weitere Skulptur ist so platziert, dass einige der salzbewachsenen Körper aus der Nähe erfahrbar werden.

Die Wandobjekte greifen visuelle und inhaltliche Aspekte des Riffs und der Figur der Medusa in ihren Formen und Farben auf. „Wie ausschnitthafte Fundstücke vom Meeresboden dokumentieren sie die Verwandlung der Medusa in steinerne Strukturen, sie oszillieren zwischen dem Marinen und dem Mythologischen,“ erörtert Weiß und sagt weiter: „Die Klänge, die Nina mit Hilfe der integrierten Lautsprecher hinzufügt, erwecken die Szenerie zum Leben.“ Queissner ergänzt: „Die marinen Klanglandschaften verleihen der Fauna und Flora eine Stimme. Ich habe sie mit Hydrophonen in Korallenriffen des südlichen Roten Meeres aufgenommen. Sie spielen mit den qualitativen Eigenschaften des Hörens über und unter Wasser. Die Differenzen dieser Sinneswahrnehmungen sind je nach Medium – Luft oder Wasser – frappierend und produzieren völlig unterschiedliche Klangfarben und -spektren.“

Auf der flexiblen Displayarchitektur des Künstlers Markus Zimmermann, dem „Transformer“, wird der Rechercheprozess zur Entstehung der künstlerischen Arbeit erläutert. Hier finden auch Zitate Raum, die zum Nachdenken über Transformation und Metamorphose anregen. Das multifunktionale Display-Modul ist ein zentrales Element der Ausstellungsreihe „Triff das Riff!“, das schnell und einfach mit neuen Inhalten bespielt werden kann und nahezu vollständig aus recycelten Materialien besteht. So ist es möglich, auf aktuelle Fragestellungen oder Anregungen von Besuchenden zu reagieren und Inhalte anzupassen.

Über die Ausstellungsreihe

„Triff das Riff!“ findet im Rahmen des BMBF-Forschungsprojektes „Temporäre Permanenz (TemPe) – Innovative und flexible Vermittlung aktueller gesellschaftlich relevanter Themen in Dauerausstellungen“ statt. Das Projekt wird stetig weiterentwickelt und vom Deutschen Institut für Erwachsenenbildung – Leibniz-Zentrum für Lebenslanges Lernen (DIE) in Bonn in Wirkung und Funktionalität erforscht. Das DIE untersucht, wie sich das komplexe Verhältnis von Inhalten und Form einer Ausstellung auf das Erleben im Museum und auf mögliche Lernprozesse auswirkt. Hierfür ist besonders interessant, den Einfluss der unterschiedlichen visuellen und multisensorischen Elemente der drei verschiedenen Perspektiven von „Triff das Riff!“ zu untersuchen.

Vom 2. Dezember 2022 bis 21. Mai 2023 war die Perspektive Gesellschaft zu sehen. Auf die künstlerische Perspektive von Nina M.W. Queissner und Linda Weiß, die ab 2. Juni 2023 gezeigt wird, folgt die Perspektive der aktuellen Forschung Anfang 2024.

Über die Künstlerinnen

Nina M. W. Queissner (geb. 1990, Darmstadt) hat in Frankreich und Belgien Bildende Kunst, elektroakustische Musik und Klangkunst studiert. Zu ihren künstlerischen Arbeiten gehören Installationen, Videos und Performances sowie Komposition für Kinoton und Radiosendungen. Mithilfe von Aufnahmetechnologien und Komposition von Klanglandschaften entwickelt Queissner eine praxisorientierte Forschung, die die ästhetische Erfahrungsdimension des Klangs in seiner Beziehung zu Landschaft und Umwelt untersucht.

Linda Weiß (geb. 1987, Hanau) studierte Freie Kunst an der Hochschule für Gestaltung Offenbach am Main und schloss 2022 als Meisterschülerin ihr Studium an der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart ab. In ihren Mixed Media-Installationen verschränkt sich Alltägliches mit sozio-ökologischen Metabolismen. Inspiriert ist ihr Materialumgang von taktilen Praktiken (Fermentieren, Kompostieren, Teig kneten, Recycling) und Methoden der Geistes- sowie Naturwissenschaften.

Das Kuratorinnen- und Projektteam

Die Entstehung der multisensorische Installation „Looking for Medusa“ wurde von der freien Autorin und Kuratorin Dr. Ellen Wagner betreut. Lisa Voigt ist Kuratorin der Ausstellungsreihe „Triff das Riff!“ vom Senckenberg Naturmuseum Frankfurt. Sie betreute und gestaltetet gemeinsam mit Senckenberg-Kollegin Christina Höfling auch die Perspektive Gesellschaft. Die Koordination des Gesamtprojekts liegt bei Katarina Haage, ebenfalls vom Senckenberg Naturmuseum Frankfurt.

Rahmenprogramm:

Interessant sind zudem die weiteren Veranstaltungstermine rund um die Ausstellung „Triff das Riff!“. Eine aktuelle Übersicht und alle weiteren Informationen zu Themen, Terminen und zur Anmeldung finden Sie dann unter: https://museumfrankfurt.senckenberg.de/de/kalender/

Ort:
Senckenberg Naturmuseum Frankfurt
Senckenberganlage 25
60325 Frankfurt
Telefon: +49 69 7542 0
Fax: +49 69 7542 1437
E-Mail: info@senckenberg.de

Als Bilder dreidimensional wurden: „HERAUSRAGEND! DAS RELIEF VON RODIN BIS PICASSO“ vom 24.05. bis 17.09.2023 im Frankfurter Städel

Rodin, Matisse, Gauguin, Picasso, Hans Arp oder Yves Klein – sie alle schufen im wahrsten Sinne des Wortes herausragende Kunst: Reliefs. Das Städel Museum präsentiert diesen Sommer eine große Ausstellung über das Relief von 1800 bis in die 1960er-Jahre. Ist es Malerei oder Skulptur, Fläche oder Raum? Kaum ein anderes künstlerisches Medium fordert unser Sehen so heraus wie das Relief: Das macht es für die berühmtesten Künstlerinnen und Künstler seit jeher so reizvoll. Die Ausstellung zeigt vom 24. Mai bis 17. September 2023 bedeutende Kunstwerke aus rund 160 Jahren  Namenszug (Hoch-Relief) © Foto Diether von Goddenthow
Rodin, Matisse, Gauguin, Picasso, Hans Arp oder Yves Klein – sie alle schufen im wahrsten Sinne des Wortes herausragende Kunst: Reliefs. Das Städel Museum präsentiert diesen Sommer eine große Ausstellung über das Relief von 1800 bis in die 1960er-Jahre. Ist es Malerei oder Skulptur, Fläche oder Raum? Kaum ein anderes künstlerisches Medium fordert unser Sehen so heraus wie das Relief: Das macht es für die berühmtesten Künstlerinnen und Künstler seit jeher so reizvoll. Die Ausstellung zeigt vom 24. Mai bis 17. September 2023 bedeutende Kunstwerke aus rund 160 Jahren
Namenszug (Hoch-Relief) © Foto Diether von Goddenthow

Die Ausstellung sei in vieler Hinsicht sehr, sehr bedeutsam, einmal, dass man gar nicht mehr gedacht hätte, „dass wir das noch jemals erleben werden, die erste große internationale Städel-Ausstellung, die wir seit knapp drei Jahren ohne pandemische Restriktionen durchführen können“, freut sich Städel Direktor Philipp Demandt beim Pressegespräch über den Neustart des Städel Museums nach dem endgültigen Auslaufen der Pandemie mit dieser großen Sonderausstellung „Herausragend. Das Relief von Rodin bis Picasso“ vom 24. Mai bis 17.September 2023. Und wollte man die Ausstellung in einem Satz zusammenfassen, „dann wäre es wahrscheinlich: ‚Aus Zwei mach Drei‘.“ Aus „Zwei mach Drei“ bedeute, wie die Zweidimensionalität in die Dreidimensionalität in 150 Jahren Kunstgeschichte fortgeschrieben worden ist. Ausgangsfragestellung dieser Ausstellung sei die Frage gewesen, „was das Relief in der Zeit von 1800 bis in die 1960er Jahre, bis in die Nachkriegskunst, eigentlich in der europäischen Kunstgeschichte ausgemacht hat.

Und dazu habe das Städel-Museum keine Kosten und Mühen gescheut, „von den schönsten und wichtigsten Museen Europas die entsprechenden Beispiele hier nach Frankfurt zu holen, mit großen Namen: von Rodin, Matisse, Degas, Gauguin über Ciacometti, Hepworth, Dubuffet, Bontecous, Rosso, Richter, Mailolol, Klee, Brancusi, Matisse, Nevelson bis zu Moore, Schwitters, Kollwitz, Kirchner, Uecker, Schlemmer Picasso, Hans Arp und Yves Klein. All diese Künstler und Künstlerinnen habe das Städel für die Ausstellung „Herausragend“ nach Frankfurt geholt. „Das ist das erste Mal, dass ein großes Museum, in diesem Fall in Kooperation mit der Hamburger Kunsthalle, sich diesem Thema gewidmet hat. Kuratiert haben die Ausstellung Dr. Alexander Eiling (Sammlungsleiter Kunst der Moderne) und Dr. Eva Mongi-Vollmer (Kuratorin für Sonderprojekte). Die Projektleitung liegt bei Dr. Friederike Schütt.

Wie dieses „Who is Who“ der internationalen Künstler-Elite zeige, dass sich eigentlich kaum ein großer Künstler im 19. und 20. Jahrhundert nicht mit dem Relief, mit dieser merkwürdigen Mischform zwischen Malerei und Skulptur, auseinander gesetzt habe. „Deswegen darf ich Ihnen auf alle Fälle versprechen: Bei aller Bekanntheit der großen und größten Namen des 19. und 20. Jahrhunderts, die wir im Städel-Museum versammeln, sind die Werke, die Sie sehen, in jeder Hinsicht überraschend“, macht Demandt neugierig, und das mit Recht. Die Ausstellung ist eine grandiose Überblicks-Show und zudem didaktisch gut aufbereitet. Am besten sollte man viel Zeit mitbringen oder mehrmals kommen.

Ausschnitt aus: Medardo Rosso (1858 - 1928) Das Goldene Zeitalter, 1886. Städel Museum. Madardo beschäftigte sich  über viele Jahre mit der Frage, wie man flüchtig Wahrgenommenes bildhauerisch wiedergeben kann.  Das Motiv (Raum 2) zeigt seine Ehefrau, die den kleinen Kopf ihres neugeborenen Kindes an Mund und Wange drückt. Das Motiv ist nur vor einem bestimmten Blickwinkel aus zu erkennen - wie ein Gemälde. © Foto Diether von Goddenthow
Ausschnitt aus: Medardo Rosso (1858 – 1928) Das Goldene Zeitalter, 1886. Städel Museum. Madardo beschäftigte sich über viele Jahre mit der Frage, wie man flüchtig Wahrgenommenes bildhauerisch wiedergeben kann. Das Motiv (Raum 2) zeigt seine Ehefrau, die den kleinen Kopf ihres neugeborenen Kindes an Mund und Wange drückt. Das Motiv ist nur vor einem bestimmten Blickwinkel aus zu erkennen – wie ein Gemälde. © Foto Diether von Goddenthow

Diese Ausstellung habe man gemeinsam mit der Hamburger Kunsthalle entwickelt, um gemeinsam in die Tresore, in die Schatzkammern, sowohl des Städel-Museums als auch der Hamburger Kunsthalle hineinsteigen zu können. Denn Reliefs, so Demandt, „gehören zu den kostbarsten, aber auch eben am seltensten ausgestellten Werken in den Museen der Welt. Insofern freue ich mich sehr, dass knapp die Hälfte der in der Ausstellung 141 präsentierten Werke aus den Tresoren der Häuser hier in Frankfurt und in Hamburg stammen. Ansonsten gibt es 81 Leihgaben aus Museen, darunter das Musée d’Orsay, das Musée Picasso und das Centre Pompidou in Paris, das Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam, das Kunstmuseum Basel und das Musée des Beaux-Arts de Lyon. Zudem Leihgaben aus den wichtigsten Privatsammlungen Europas. Es werden also Werke präsentiert, „die Sie normalerweise als Besucher /Betrachter im Museum sonst nicht zu sehen bekommen“, so der Museums-Direktor.

Ausstellungsrundgang:

Die Ausstellung „Hervorragend“ bietet einen Rundgang an, der im Erdgeschoss des Ausstellungshauses startet und die enorme Bandbreite des Reliefs von 1800 bis in die 1960er-Jahre präsentiert. 13 Kapitel widmen sich epochenübergreifend den besonderen Möglichkeiten und den Grenzen der Reliefkunst jenseits entwicklungsgeschichtlicher Linien oder Stile. Reliefs finden sich in sehr unterschiedlichen räumlichen und thematischen Zusammenhängen: etwa an und in öffentlichen Gebäuden, an Denkmälern oder Grabanlagen. Sie schildern dort oft historische Ereignisse oder fungieren als allgemeine Sinnbilder. Dabei können sie als Einzelwerk genauso wie als Abfolge mehrerer Segmente in Erscheinung treten, in denen die Künstler eine Bilderzählung entfalten.

1.Plastisch erzählen

Diese beiden Reliefs, von Ludwig Schwanthaler "Schild des Herakles", 1823, u. Günther Uecker, Nagelbild "Organische Struktur, 1962,   trennen über 120 Jahre. Es liegen künstlerische Welten zwischen ihnen, und sie stehen auch symbolisch für die Bandbreite der in dieser Ausstellung "Herausragend" gezeigten "Relief-Varianaten" im Kontext einer atemberaubenden Entwicklung.  © Foto Diether von Goddenthow
Diese beiden Reliefs, von Ludwig Schwanthaler „Schild des Herakles“, 1823, u. Günther Uecker, Nagelbild „Organische Struktur, 1962, trennen über 120 Jahre. Es liegen künstlerische Welten zwischen ihnen, und sie stehen auch symbolisch für die Bandbreite der in dieser Ausstellung „Herausragend“ gezeigten „Relief-Varianten“ im Kontext einer atemberaubenden Entwicklung von erzählerischen Bildrelief bis hin zum abstrakten Narrativ vom Machen . © Foto Diether von Goddenthow

Zum Ausstellungsstart im Erdgeschoss an der ersten Wand in Raum 1 befindet sich der „Schild des Herakles“ aus dem Jahre 1832 von Ludwig Schwanthaler (1802 – 1848) neben Günther Ueckers Nagel-Werk „Organische Struktur“ von 1962. Zwischen diesen beiden gleichfalls kreisrunden Kompositionen liegen über 120 Jahre und künstlerische Welten, und sie signalisieren zugleich die gewaltige künstlerische Bandbreite der in dieser Ausstellung „Herausragend“ gezeigten Reliefs im Kontext ihrer 160jährigen Entwicklungen. Steht man davor, wird deutlich, was Erzählen im frühen 19. Jahrhundert heißt: Es geht um die Narration einer Geschichte, dargestellt durch die Figuration und kleinteiligsten Erzählungen auf dem Schild des Herakles. Bei Günther Ücker, 1962, „geht es nicht mehr um die Narration einer Geschichte, sondern da geht es um die Exemplifizierung des künstlerischen Schaffensprozesses. Aus dem Erzählen wird also das Machen. Aus dem „Was“ wird das „Wie“. Und das ist ja eigentlich eine Entwicklung, die wir durch das 19. bis ins 20. Jahrhundert haben, nämlich, dass der künstlerische Schaffensprozess, die eigentliche Erzählung plötzlich wird, und die Geschichte ein Stück weit in den Hintergrund tritt, die erzählt werden soll“, so Dr. Alexander Eiling, Sammlungsleiter Kunst der Moderne im Städel und Co-Kurator mit Dr. Eva Mongi-Vollmer, Kuratorin für Sonderprojekte.

Marmor-Epitaph für Johann-Philipp Bethmann-Hollweg von Bertel Thorvaldsen (1830, Liebieghaus Skulpturensammlung), Beispiel eines Flach-Reliefs. © Foto Diether von Goddenthow
Marmor-Epitaph für Johann-Philipp Bethmann-Hollweg von Bertel Thorvaldsen (1830, Liebieghaus Skulpturensammlung), Beispiel eines Flach-Reliefs. © Foto Diether von Goddenthow

Zudem wirken die im Raum 1 gezeigten Werke, etwa von Bertel Thorvaldsen und Hermann Blumenthal, aufgrund ihrer ebenmäßig flach gehaltenen Reliefhöhe beziehungsweise -tiefe auf den ersten Blick als homogene Einheiten. In den Arbeiten von Jules Dalou und Christian Daniel Rauch hingegen ragen einzelne Figuren weit aus der Fläche hervor. Deren Bedeutung steigert sich mit dem Grad ihrer Modellierung und ihrem Drängen ins Licht. Die gezielte Anordnung der Elemente auf der entsprechenden räumlichen Ebene ist typisch für die Möglichkeiten, im Rahmen eines Reliefs eine Bilderzählung zu gestalten.

Hochrelief gearbeiteten Entwurf für das Denkmal des Rennfahrers Émile Levassor von Jules Dalou (1898–1902, Petit Palais, Musée des Beaux-Arts de la Ville de Paris) © Foto Diether von Goddenthow
Hochrelief gearbeiteten Entwurf für das Denkmal des Rennfahrers Émile Levassor
von Jules Dalou (1898–1902, Petit Palais, Musée des Beaux-Arts de la Ville de Paris) © Foto Diether von Goddenthow

Dies wird besonders deutlich bei der Gegenüberstellungen wie dem flach gestalteten Marmor-Epitaph für Johann-Philipp Bethmann-Hollweg von Bertel Thorvaldsen (1830, Liebieghaus Skulpturensammlung) und dem im Hochrelief gearbeiteten Entwurf für das Denkmal des Rennfahrers Émile Levassor von Jules Dalou (1898–1902, Petit Palais, Musée des Beaux-Arts de la Ville de
Paris).

2 Malerisch-plastische Reliefs

Das Relief nimmt eine Mittlerstellung zwischen Malerei und Skulptur ein. Daher vereint es gestalterische Elemente aus beiden Gattungen. Im Unterschied zu Skulpturen kann durch die Trägerplatte des Reliefs auch der Umraum eines Motivs dargestellt werden. Auf diese Weise können Landschaftsausschnitte oder atmosphärische Effekte wie Wind und Wolken integriert werden, die sonst der Malerei oder Zeichenkunst vorbehalten sind.

Auguste Rodins Junge Mutter in der Grotte (1885, Musée Rodin, Paris),  beispielhaft für eine  französischen Reliefkunst des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. © Foto Diether von Goddenthow
Auguste Rodins Junge Mutter in der Grotte (1885, Musée Rodin, Paris), beispielhaft für eine französischen Reliefkunst des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. © Foto Diether von Goddenthow

Das belegen die Beispiele von Auguste Rodin und Constantin Meunier. In diesem Raum sind vor allem Reliefs der französischen Kunst des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts versammelt.
Damals wurde die Durchdringung von malerischen und plastischen Elementen besonders intensiv diskutiert. Allen Werken gemeinsam ist ein offener, ausdrucksstarker Modellierstil, der durch das Verschleifen von Übergängen diffuse Zonen schafft und die Ebenen verunklärt. In einem dynamischen Wechselspiel treten die Motive aus der Reliefplatte hervor und scheinen zugleich wieder mit ihr zu verschmelzen. Die Werke bilden einen Gegenpol zur klassizistischen Reliefvorstellung, nach der Figur und Grund klar voneinander zu trennen sind.
Stattdessen orientierten sich die Künstler vielfach an der lockeren Pinselführung der impressionistischen Malerei und entwickelten auf diese Weise eine moderne Interpretation der klassischen Gattung Relief.

3 Farbige Reliefs

Arnold Böcklin  (1827 - 1901). Schild mit dem Haupt der Medusa, 1887, Kunstmuseum Basel. © Foto Diether von Goddenthow
Arnold Böcklin (1827 – 1901). Schild mit dem Haupt der Medusa, 1887, Kunstmuseum Basel. © Foto Diether von Goddenthow

Eines der Hauptwerke der Ausstellung ist das Relief von Paul Gauguin Seid geheimnisvoll (1890, Musée d’Orsay, Paris), das in das Thema Farbigkeit im Relief einführt. Schon in der Antike wurden Skulpturen und Reliefs bemalt, um ihre plastische Wirkung zu verstärken oder den Illusionsgrad zu erhöhen. Im 19. Jahrhundert richtete sich das Interesse der Archäologen verstärkt auf diese lange in Vergessenheit geratene Praxis. In der Folge begannen auch zeitgenössische Künstler ihre Reliefs farbig zu gestalten. Von der klassischen Bemalung über die Verwendung verschiedenfarbiger Materialien bis hin zum gezielten Einfärben der Werkstoffe hatten Künstler mehrere Möglichkeiten, Reliefs farbig zu gestalten. Etwa die Hälfte der in dieser Sektion gezeigten Reliefs stammen von Malern, darunter  stark kolorierte Arbeiten von Arnold Böcklin, Maurice Denis und Ernst Ludwig Kirchner. Für sie war die intensive Kolorierung ihrer plastischen Arbeiten ein naheliegender Schritt. Daneben sind Werke von Bildhauern wie Adolf von Hildebrand, Artur Volkmann oder Albert Marque zu sehen, die sich eines reduzierten Farbspektrums oder der natürlichen Farbigkeit des gewählten Materials bedienten.

4 Die Parthenonreliefs und ihr Echo
Mehr als 100 im Flachrelief gearbeitete Reiterfiguren fügten sich zu einer 160 Meter langen Prozessionsdarstellung: Sie zierten seit dem 5. Jahrhundert vor Christus alle vier Außenwände des Parthenontempels auf der Athener Akropolis (Abb. 1).

Die bedeutenden Reliefs des Parthenontempels der Athener Akropolis (5. Jh. vor Chr.) dienten zahlreichen Künstler des 19. Jahrhunderts, darunter Johann Gottfried Schadow und Edgar Degas, formal als Vorbild für die Gestaltung eigener Arbeiten. Platte IX des Westfrieses am Parthenon (Gipsabguss) Antikensammlung im Skulpturensaal der Goethe-Universität Frankfurt.  © Foto Diether von Goddenthow
Die bedeutenden Reliefs des Parthenontempels der Athener Akropolis (5. Jh. vor
Chr.) dienten zahlreichen Künstler des 19. Jahrhunderts, darunter Johann Gottfried
Schadow und Edgar Degas, formal als Vorbild für die Gestaltung eigener Arbeiten. Platte IX des Westfrieses am Parthenon (Gipsabguss) Antikensammlung im Skulpturensaal der Goethe-Universität Frankfurt. © Foto Diether von Goddenthow

Wesentliche Teile dieses Skulpturenschmucks gelangten zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf bis heute umstrittenem Wege nach London – seit 1816 befinden sie sich im British Museum. Der Parthenon als Ganzes war ab diesem Moment das Sinnbild für die antike griechische Zivilisation und Kultur schlechthin. Für Künstler wiederum diente er vor allem auch aufgrund seiner charakteristischen formalen Eigenschaften als Vorbild. Die außerordentlich geringe Tiefe der Reliefs, die raffinierte Staffelung der Körper, der Verzicht auf Raumillusion, stattdessen die strenge Orientierung an der Grundlinie – wie ein Echo des Parthenon hallten diese besonderen Merkmale durch die Zeit. Das künstlerische Studium der Reliefs erfolgte je nach individuellen Möglichkeiten vor den Originalen, häufig aber auch anhand von Gipsabgüssen, Reproduktionen und Fotografien. Dabei unterschied sich die Art und Weise der Auseinandersetzung immens – vom getreuen Kopieren über das leicht variierende Anverwandeln bis hin zum freien Zitieren reicht die Spanne, wie die hier vorgestellten Werke von Johann Gottfried Schadow, Edgar Degas oder Hermann Blumenthal schlaglichtartig veranschaulichen.

5 Annäherungen an die Natur

Paul Klee (1879 - 1940) Blick in das Fruchtland 1932. Städel Museum, Frankfurt am Main. © Foto Diether von Goddenthow
Paul Klee (1879 – 1940) Blick in das Fruchtland 1932. Städel Museum, Frankfurt am Main. © Foto Diether von Goddenthow

Das Relief mit seinen Erhebungen und Vertiefungen erinnert  an die  Erdoberfläche und die Höhen und Tiefen ihrer Landschaften und hat viele Künstler entsprechend inspiriert.  Die  in diesem Raum der Ausstellung versammelten Künstler nähern sich dem Thema der Landschaft durch intensive Strukturierung der Oberflächen, den Einsatz von Naturmaterialien wie Sand und Schwämmen oder das Einbeziehen steiler Perspektiven.    So verwundert es kaum, dass das Relief immer wieder zur Anwendung kommt, um in unterschiedlichster Weise Eindrücke der unmittelbaren Umgebung einzufangen und daraus artifizielle Naturbilder zu erschaffen. Künstler wie Yves Klein mit seinem Relief éponge bleu (Kleine Nachtmusik) (1960, Städel Museum), Max Ernst, Paul Klee oder William Turnbull näherten sich in ihren Arbeiten durch intensive Strukturierung der Oberflächen, den Einsatz von Naturmaterialien wie Sand und Schwämmen oder das Einbeziehen ungewöhnlicher Perspektiven dem Thema der Landschaft. Das Relief wird dabei zu einem Medium für die künstlerische Neuschöpfung von Naturräumen, die zum Eintauchen in verschiedenste Welten – vom Wald bis zum Meeresgrund – einladen.

6 Augentäuschung im Relief

Eine künstlerische Illusion von Arthur Segal (1875 - 1944) "Stillleben mit Teekanne. (1926). Arthur Segal reizte das optische Experiment, die "Erweiterung des Gemäldes zum Relief", wie er selbst sagte. In seinem Stillleben arrangierte er das Teegeschirr wie auf einem Gemälde. © Foto Diether von Goddenthow
Eine künstlerische Illusion von Arthur Segal (1875 – 1944) „Stillleben mit Teekanne. (1926). Arthur Segal reizte das optische Experiment, die „Erweiterung des Gemäldes zum Relief“, wie er selbst sagte. In seinem Stillleben arrangierte er das Teegeschirr wie auf einem Gemälde. © Foto Diether von Goddenthow

Schon plastisch oder noch flächig, schon Relief oder noch Malerei? Am Übergang von der zweiten zur dritten Dimension vermögen Reliefdarstellungen bisweilen unsere Wahrnehmung auf die Probe zu stellen. Bereits in der Frühen Neuzeit konkurrierten Maler und Bildhauer im Wettstreit der Künste, dem sogenannten Paragone, um die gelungenere Naturnachahmung und Wiedergabe von Körperlichkeit. Philipp Otto Runges steinfarbener Puttenreigen, in dem er mit den Mitteln der Malerei ein scheinbar haptisches Relief erzeugt, steht am deutlichsten in dieser Tradition. Ebenso eignen sich täuschend echt gestaltete Stillleben (Trompel’oeils) für künstlerische Illusionen verschiedenster Materialien. Und das Motiv des Vorhangs, wie es von Gerhard Richter verbildlicht worden ist, war schon in der Antike im Überbietungswettbewerb der Künstler der Inbegriff für vollkommene Täuschung. Im Streben um den kunstfertigsten Augentrug vollzieht sich eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des Reliefs. Dabei verleitet die sinnliche Irritation zur Berührung, zum tastenden Überprüfen des Visuellen und regt an, unseren Blick auf die Kunstwerke zu reflektieren.

7 Gesichter im Relief

Der Porträtkunst im Relief widmet sich ein weiterer Teil der Ausstellung. Von der Medaille bis zum Materialbild bietet das Relief vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten, um Gesichter in ihrer Einzigartigkeit festzuhalten. Seit der Antike hat sich für Porträts im Relief vor allem die Profilansicht etabliert. Davon losgelöst nutzten Künstlerinnen und Künstler wie Käthe Kollwitz oder Pablo Picasso die frontal zu betrachtende Hohlform der Maske, um die Wiedergabe von Emotionen zu erproben. Alberto Giacometti und Constantin Brâncuși skizzierten die Gesichter ihrer Skulpturen mittels Ritzungen und Schraffuren, während etwa Eugène Leroy sein Selbstbildnis auf der Fläche der Leinwand aus dicker Farbpaste formte. Impression © Foto Diether von Goddenthow
Der Porträtkunst im Relief widmet sich ein weiterer Teil der Ausstellung. Von der
Medaille bis zum Materialbild bietet das Relief vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten,
um Gesichter in ihrer Einzigartigkeit festzuhalten. Seit der Antike hat sich für Porträts
im Relief vor allem die Profilansicht etabliert. Davon losgelöst nutzten Künstlerinnen
und Künstler wie Käthe Kollwitz oder Pablo Picasso die frontal zu betrachtende
Hohlform der Maske, um die Wiedergabe von Emotionen zu erproben. Alberto
Giacometti und Constantin Brâncuși skizzierten die Gesichter ihrer Skulpturen
mittels Ritzungen und Schraffuren, während etwa Eugène Leroy sein Selbstbildnis
auf der Fläche der Leinwand aus dicker Farbpaste formte. Impression © Foto Diether von Goddenthow

Von den Augenbrauen bis zur Kinnfalte prägen Hervorhebungen und Vertiefungen das Aussehen und die Mimik jedes Individuums. Schon immer war es den Menschen ein Anliegen, das eigene Antlitz für die Ewigkeit zu bewahren. Das Gesicht plastisch und doch flächengebunden zu modellieren, zählt deshalb zu den traditionsreichsten künstlerischen Aufgaben überhaupt. Seit der Antike hat sich für Porträts im Relief vor allem die Profilansicht etabliert. Sie bildet bis heute den Darstellungsstandard für kleinplastische Plaketten, Medaillen und Münzen. Losgelöst von der Flächenbindung dieser strengen Seitenansicht nutzten Künstlerinnen und Künstler wie Käthe Kollwitz oder Pablo Picasso dagegen die frontal zu betrachtende Hohlform der Maske und erprobten darin die Wiedergabe von Emotionen. Alberto Giacometti und Constantin Brancusi wiederum skizzierten die Gesichter ihrer Skulpturen mittels Ritzungen und Schraffuren, während etwa Eugène Leroy sein Selbstbildnis auf der Fläche der Leinwand aus dicker Farbpaste formte. Von der Medaille bis zum Materialbild erweisen sich die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten des Reliefs als fruchtbares Experimentierfeld, um Gesichter in ihrer Einzigartigkeit festzuhalten.

Teil II im Obergeschoss des Ausstellungshauses

© Foto Diether von Goddenthow
© Foto Diether von Goddenthow

 

8 Durchbrechen und Umgreifen von Raum
Masse, Volumen, Gewicht und geschlossene Formen galten lange Zeit als zentrale Merkmale von Skulpturen und plastischen Arbeiten. Dies sollte sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts grundlegend ändern. Nun wurde verstärkt auch der Raum in die Gestaltung miteinbezogen. Über die Trägerfläche hinaus lässt sich das Relief in alle Richtungen ausdehnen: So geben Schnitte und Leerstellen den Blick auf das Dahinter frei und erweitern damit das plane Werk um eine zusätzliche Ebene. Oder dynamische Konstruktionen ragen so sehr aus der Fläche hervor, dass sie den Raum vor sich umgreifen und in sich einschließen – wie in den Werken von Antoine Pevsner oder Lee Bontecou. Dabei liegt die Beschaffenheit des realen Raumes außerhalb des künstlerischen Einflussbereichs. Eigenschaften, wie die Wandfarbe, sind dem Zufall überlassen, bestimmen das Erscheinungsbild des Werks in wesentlichem Maße mit. In den Reliefs ergänzen sich Auslassungen und Volumen. Was in diesem Zusammenspiel als Negativ- und Positivform wahrgenommen wird, erlebt der Betrachter, indem er sich bewegt.

9 Durchbrechen und Umgreifen von Raum

Impression "Herausragend. Relief von Rodin bis Picasso" Städel Museum  © Foto Diether von Goddenthow
Impression „Herausragend. Relief von Rodin bis Picasso“ Städel Museum © Foto Diether von Goddenthow

Die hier ausgestellten Reliefs nehmen abermals das Wechselspiel von Volumen und Leere, Positiv- und Negativformen auf. Sie sind ergänzt um die frei stehenden Plastiken von Naum Gabo und Hans Arp. In deren vollständig zu umschreitenden Arbeiten treten die mittigen Hohlformen und umgebenden Körper in ein beinahe ausgeglichenes Verhältnis zueinander. Ihre Reliefhaftigkeit erschließt sich nicht mehr durch den direkten Bezug zur Wand, sondern durch die flächige Binnenform. Diese korrespondiert mit der Weite des Raums. Einen Gegensatz zur größtmöglichen Öffnung und Erweiterung der Werke in den Raum bildet die kleinformatige Arbeit Hermann Glöckners, eines erst spät gewürdigten Künstlers der klassischen Moderne. Indem er in seiner Collage die aufgeklebten Streifen aus Seidenpapier übermalte, band er die plastischen Elemente in die Fläche des Bildträgers ein. Glöckner drängte so das ursprüngliche Relief in eine in sich geschlossene Zweidimensionalität zurück.

10 Struktur und All-over
Regelmäßig strukturierte Oberflächen, seriell angeordnete Alltagsobjekte und eine überwiegend reduzierte Farbigkeit bis hin zur Monochromie kennzeichnen zahlreiche Werke in diesem Raum. Häufig erst auf den zweiten Blick ist in den Reliefs von Piero Manzoni und Adolf Luther über Peter Roehr bis hin zu Jan Schoonhoven das feine Zusammenspiel von nuancierter räumlicher Beschaffenheit und subtilem Lichtspiel zu entdecken. Gerade in den 1950er- und 1960er-Jahren wurden die Auswirkungen von reduziertem Farb- und Materialeinsatz – häufig in Gestalt sich wiederholender Muster und Formen – auf die Wahrnehmung des Betrachters ausgelotet.
Im Geiste können die Strukturen dieser Werke nahtlos auf der Wandfläche weitergeführt werden. Durch den Lichteinfall und die Reflexionen ist auch eine Erweiterung in die dritte Dimension möglich. Objekt, Wand und Raum treten dadurch in ein intensives wechselseitiges Verhältnis. Die Idee eines „All-over“, also einer flächendeckenden Struktur ohne Hauptmotiv, ist bereits in den 1920er-Jahren von Hans Arp in seinem bunten Eierbrett vorgedacht worden. Ebenfalls schon in dieser Zeit lieferten die Tapeten des Bauhauses einen wichtigen Beitrag zur Diskussion rund um die gestalterische Kraft strukturierter Wandflächen.

11 Entwürfe von Welt

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zielten Künstlerinnen und Künstler in ganz Europa darauf, mit ihren Werken an der Gestaltung einer neuen Gesellschaft mitzuwirken oder diese kritisch zu hinterfragen. Länderübergreifend lässt sich dabei eine Hinwendung zum Relief beobachten, das sowohl in den Werken der russischen Konstruktivisten Wladimir Tatlin und Iwan Puni als auch der Dada-Bewegung um Hans Arp, Christian Schad und Kurt Schwitters einen wichtigen Stellenwert innehatte. © Foto Diether von Goddenthow
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zielten Künstlerinnen und Künstler in ganz Europa
darauf, mit ihren Werken an der Gestaltung einer neuen Gesellschaft mitzuwirken
oder diese kritisch zu hinterfragen. Länderübergreifend lässt sich dabei eine
Hinwendung zum Relief beobachten, das sowohl in den Werken der russischen
Konstruktivisten Wladimir Tatlin und Iwan Puni als auch der Dada-Bewegung um
Hans Arp, Christian Schad und Kurt Schwitters einen wichtigen Stellenwert
innehatte. © Foto Diether von Goddenthow

Das frühe 20. Jahrhundert war durch einen grundlegenden Wandel geprägt, der alle Bereiche der Gesellschaft erfasste. Bahnbrechende Entwicklungen auf dem Gebiet der Wissenschaft, eine massive Industrialisierung und der technische Fortschritt stellten die Menschen vor neue Herausforderungen. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 führte vielerorts zum Zusammenbruch politischer Systeme. In ganz Europa zielten Künstlerinnen und Künstler fortan darauf, mit ihren Werken an der Gestaltung einer neuen Gesellschaft mitzuwirken oder diese kritisch zu hinterfragen. Länderübergreifend lässt sich dabei eine Hinwendung zum Relief beobachten, das sowohl in den Werken der russischen Konstruktivisten Wladimir Tatlin und Iwan Puni, der Dada-Bewegung um Hans Arp, Christian Schad und Kurt Schwitters als auch am deutschen Bauhaus einen wichtigen Stellenwert innehatte. Allen gemein war die Abkehr von der Gegenständlichkeit durch Verwendung geometrischer Versatzstücke. Da der Mensch in einer neuen Realität von Fortschritt, Technik und Maschine lebte, sollte seine Welt entsprechend beschaffen sein. Vielfach wurde daher mit vorgefundenen Materialien gearbeitet, die zu Objektassemblagen kombiniert wurden. Reliefkunst und Malerei standen dabei in einem fruchtbaren Wechselspiel. So wurden einerseits die Oberflächen der Reliefs farbig bemalt, andererseits fanden sich reliefhafte Strukturen oder eingeklebte Objekte auf den Gemälden wieder.

12 Monumentale Aufgaben
Nach den horrenden Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg begann in ganz Europa der Wiederaufbau von Gebäuden und Städten. Mit diesem Unterfangen gingen meist kommunal oder staatlich geförderte architekturbezogene künstlerische Aufträge einher. Dadurch erlebte auch das Relief als Bauaufgabe in der Nachkriegsmoderne einen wesentlichen Aufschwung. Da Deutschland in vier Besatzungsmächten aufgeteilt war, entstand eine besondere Situation. Denn die Alliierten bemühten sich zunächst, mit unterschiedlichen Maßnahmen wie der Entnazifizierung und Umerziehung auf die Bevölkerung – inklusive der Kunstschaffenden – einzuwirken.
Die Verknüpfung dieser Politik mit der Kultur, beispielsweise in Gestalt einflussreicher Kunstausstellungen, war in England eine der Aufgaben des British Council. Zu diesem Zweck propagierte dieser Künstlerinnen und Künstler wie Henry Moore, Ben Nicholson und Barbara Hepworth. Alle drei hatten sich bereits in den 1920er Jahren der Abstraktion angenähert. Damit waren sie sowohl Repräsentanten der von den Nationalsozialisten verfemten Vorkriegsmoderne als auch der Nachkriegsgegenwart. Sie prägten durch ihre Teilnahme an den ersten documenta-Ausstellungen die Kunstszene in der Bundesrepublik Deutschland.

13 Gefasste Formen
Von alters her dient der Rahmen zur gestalterischen Einfassung wie auch zum Schutz eines Kunstwerks. Zugleich erfüllt er eine inhaltliche Funktion: Er umschließt das Bildfeld nach innen und grenzt es damit zugleich nach Außen ab. Das Kunstwerk wird dadurch autonom. Ob der erhabene Rahmen dabei zum Werk oder zu dessen Umraum – als architektonische Fassung – gehört, unterscheidet sich von Fall zu Fall. Wir zeigen anhand von vier Beispielen eine reliefspezifische Besonderheit: Motivfeld und Umfassung können aus dem gleichen Material – hier Holz, Blei und Gips – gefertigt sein. Damit wird der von Anfang an mitkonzipierte und mitgearbeitete Rahmen eindeutig zum essenziellen Teil des Werkes.

Alexander Archipenkow "Badende" 1915 Städel Museum, Frankfurt am Main. In dieser Darstellung vereinte der ukrainische Künstler Malerei und Bildhauerei und erweiterte so die Grenzen des Kubismus. Diese von ihm als Skulpto-Malereien bezeichneten Werke besitzen trotz dreidimensionaler Formen Reliefcharakter. © Foto Diether von Goddenthow
Alexander Archipenkow „Badende“ 1915 Städel Museum, Frankfurt am Main. In dieser Darstellung vereinte der ukrainische Künstler Malerei und Bildhauerei und erweiterte so die Grenzen des Kubismus. Diese von ihm als Skulpto-Malereien bezeichneten Werke besitzen trotz dreidimensionaler Formen Reliefcharakter. © Foto Diether von Goddenthow

13 Mehransichtigkeit

Im frühen 20. Jahrhundert erfuhr das Relief eine Erweiterung: Vollplastische Werke näherten sich in ihrer Gestaltung zusehends dem Relief an. So entstanden frei stehend konzipierte Werke, die Merkmale von Rundplastiken mit einer eigentlich dem Relief vorbehaltenen, flächenbetonten Sicht verknüpfen. Der wichtigste Auslöser für diese Entwicklung war der Kubismus. Dieser brach den Bildraum und die Formen auf und zeigte Gegenstände oder Personen gleichzeitig aus verschiedenen Perspektiven. Aus Volumina wurden nun Flächen.

Pablo Picasso Violine, 1915  Nach seinen Erfahrungen  mit der kubistischen Malerei begann Picasso ab 1912 Reliefs aus vorgefundenen Alltagsobjekten zusammenzusetzen. Es markiert einen radikalen Gegenentwurf zu Reliefs aus modellierten Werkstoffen. Hierbei übernimmt die Wand den Reliefgrund, der hierdurch wandelbar wird. © Foto Diether von Goddenthow
Pablo Picasso Violine, 1915 Nach seinen Erfahrungen mit der kubistischen Malerei begann Picasso ab 1912 Reliefs aus vorgefundenen Alltagsobjekten zusammenzusetzen. Es markiert einen radikalen Gegenentwurf zu Reliefs aus modellierten Werkstoffen. Hierbei übernimmt die Wand den Reliefgrund, der hierdurch wandelbar wird. © Foto Diether von Goddenthow

In der Plastik wurde dieser Effekt mithilfe einer Durchdringung und Verschränkung von Formen erreicht. Der Betrachter ist aufgefordert, seinen Blickwinkel immer wieder zu ändern und die vielfältigen Sinneswahrnehmungen zu einem Gesamteindruck zu vereinen. Künstler wie Alexander Archipenko, Henri Laurens oder Jacques Lipchitz spielten in ihren Arbeiten mit der reliefhaften Verflachung des Plastischen und schlugen auf diese Weise eine Brücke zur kubistischen Malerei, die in diesem Raum durch die Werke Pablo Picassos repräsentiert wird.

Katalog:
Zur Ausstellung erschien im Prestel Verlag der gleichnamige Katalog „Herausragend! Das Relief von Rodin bis Picasso“, herausgegeben von Alexander Eiling, Eva Mongi-Vollmer und Karin Schick: In 13 Kapiteln erkundet dieses Buch die Möglichkeiten und Grenzen der Reliefkunst jenseits historischer Entwicklungslinien oder stilistischer Ordnungssysteme – und bietet dabei zahlreiche Entdeckungen und Überraschungen. Hardcover, Pappband, 264 Seiten, 23,0 x 28,0 cm, 280 farbige Abbildungen, ISBN: 978-3-7913-7985-2. (€ 39,90 Museumsausgabe), € 49,00 im Handel.

Ausstellungsdauer: 24.Mai bis 17.09.2023
Information: www.staedelmuseum.de
Besucherservice und Führungen: +49(0)69-605098-200, info@staedelmuseum.de
Ort: Städel Museum, Schaumainkai 63, 60596 Frankfurt am Main

Tickets: Tickets online buchbar unter shop.staedelmuseum.de. Di–Fr, Sa, So + Feiertage 16 Euro, ermäßigt
14 Euro; freier Eintritt für Kinder unter 12 Jahren; Gruppen ab 10 regulär zahlenden Personen: 14 Euro pro Person, am Wochenende 16 Euro. Für alle Gruppen ist generell eine Anmeldung unter Telefon +49(0)69-605098-200 oder info@staedelmuseum.de erforderlich.

HERAUSRAGEND! DAS RELIEF VON RODIN BIS PICASSO – Städel-Museum Frankfurt vom 24.04. bis 17.09.2023

Paul Gauguin Seid geheimnisvoll (Soyez mystérieuses)  1890 Lindenholz, bemalt, mit Spuren von dunklem Farbstift 73 × 95 × 5 cm Musée d’Orsay, Paris bpk/RMN – Grand Palais, Paris/Tony Querrec
Paul Gauguin Seid geheimnisvoll (Soyez mystérieuses) 1890 Lindenholz, bemalt, mit Spuren von dunklem Farbstift 73 × 95 × 5 cm Musée d’Orsay, Paris bpk/RMN – Grand Palais, Paris/Tony Querrec

Rodin, Matisse, Gauguin, Picasso, Hans Arp oder Yves Klein – sie alle schufen im wahrsten Sinne des Wortes herausragende Kunst: Reliefs. Das Städel Museum präsentiert diesen Sommer eine große Ausstellung über das Relief von 1800 bis in die 1960er-Jahre. Ist es Malerei oder Skulptur, Fläche oder Raum? Kaum ein anderes künstlerisches Medium fordert unser Sehen so heraus wie das Relief: Das macht es für die berühmtesten Künstlerinnen und Künstler seit jeher so reizvoll. Die Ausstellung zeigt vom 24. Mai bis 17. September 2023 bedeutende Kunstwerke aus rund 160 Jahren von Bertel Thorvaldsen, Jules Dalou, Auguste Rodin, Medardo Rosso, Paul Gauguin, Henri Matisse, Pablo Picasso und Alexander Archipenko sowie Hans Arp, Kurt Schwitters, Sophie Taeuber-Arp, Yves Klein, Louise Nevelson, Lee Bontecou und anderen. Dafür vereint das Städel Museum – in Kooperation mit der Hamburger Kunsthalle – Kunstwerke aus den eigenen Sammlungen und aus führenden europäischen Museen in Frankfurt, etwa aus dem Musée d’Orsay, dem Musée Picasso und dem Centre Pompidou in Paris, dem Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam, dem Kunstmuseum Basel oder dem Musée des Beaux-Arts de Lyon. Darüber hinaus werden auch selten zu sehende Arbeiten aus Privatsammlungen vorgestellt.

„Herausragend! Das Relief von Rodin bis Picasso“ wird durch die Gemeinnützige Kulturfonds Frankfurt RheinMain GmbH und den Städelschen Museums-Verein e. V. mit den Städelfreunden 1815 gefördert. Zusätzliche Unterstützung erfährt die Ausstellung durch die Georg und Franziska Speyer’sche Hochschulstiftung.

Städel Direktor Philipp Demandt über die Ausstellung: „Diesen Sommer können unsere Besucherinnen und Besucher im Städel Museum einem aufregenden künstlerischen Medium begegnen: dem Relief. Eine Kunstform zwischen Malerei und Skulptur, die den sprichwörtlichen Rahmen und die Grenzen unseres Sehens sprengt! Wir widmen dieser bisweilen verkannten Kunstform eine große Ausstellung. Es ist eine einmalige Chance, rund 140 bedeutende Werke von knapp 100 wegweisenden Künstlerinnen und Künstlern des 19. Jahrhunderts, der Klassischen Moderne und der internationalen Nachkriegskunst in Frankfurt zu erleben und das Relief als das zu würdigen, was es ist: Ausdruck großer Kunst.“

„Das Relief ist eines der ältesten Bildmedien der Menschheit. Als Hybrid steht es nicht nur zwischen den künstlerischen Gattungen Malerei und Skulptur, sondern in der Wahrnehmung auch im Spannungsfeld zwischen Sehen und Berühren. Unsere Ausstellung widmet sich den besonderen Möglichkeiten und Chancen des Reliefs in der Kunst vom Klassizismus bis in die 1960er-Jahre. Mit der Rückbindung an die klassische Antike beginnt um 1800 eine deutliche Zäsur für die Bedeutung und die Ästhetik des Reliefs und in den 1960er-Jahren markieren der ‚Ausstieg aus dem Bild‘ und der damit verbundene Transfer bildhauerischer Konzepte in Raumkonzepte einen abermaligen Dreh- und Angelpunkt. Die Ausstellung liefert keine umfassende Geschichte des Reliefs, sie wirft vielmehr einzigartige Schlaglichter auf den heute wenig bekannten Diskurs rund um die Kunst des Reliefs“, erläutern die Kuratoren der Ausstellung, Alexander Eiling und Eva Mongi-Vollmer.

Städelmuseum

Rund 40.000 Menschen feierten die Rückkehr der NACHT DER MUSEEN in Frankfurt und Offenbach

Großer Publikumsmagnet: Antagon-Theater auf dem Römerberg ©  Stadt Frankfurt am Main, Foto: Peter Krausgrill
Großer Publikumsmagnet: Antagon-Theater auf dem Römerberg © Stadt Frankfurt am Main, Foto: Peter Krausgrill

Nach dreijähriger Pause meldete sich die mannigfaltige Museumslandschaft in Frankfurt und Offenbach mit einem eindrucksvollen Programm zur Kunst- und Kulturnacht zurück. Von 19 Uhr bis spät in die Nacht folgten rund 40.0000 Besucherinnen und Besucher dem Ruf von über 40 Veranstaltungsorten, um Ausstellungen, Führungen, Performances, Live-Musik, Filmprojektionen und Workshops zu erleben.

Es war wieder die gelungene Mischung großer und kleiner Momente, die die NACHT so kostbar macht: Das Eintauchen in die unendliche Vielfalt an Kunstobjekten internationaler und nationaler Künstlerinnen und Künstler. Das Genießen überraschender Konzerte, Lesungen und Performances an ungewöhnlichen Orten. Das gemütliche Schlendern entlang des Mainufers oder das inspirierende Gespräch bei den Workshops und Kursen.

„Einmalige Exponate, begeisterte Museumsbesucherinnen und Museumsbesucher und verzaubernde Momente – nach drei Jahren Pause präsentierte sich Frankfurts vielseitige Museumslandschaft zur Nacht der Museen eindrucksvoll. Das in seiner Art einzigartige Museumsufer zog mit seiner enormen Anziehungskraft Kulturinteressierte aus dem gesamten Rhein-Main-Gebiet und darüber hinaus in seinen Bann. Die museale Vielfalt, das abwechslungsreiche Rahmenprogramm und die milden Temperaturen trugen zur nächtlichen Hochstimmung bei“, freut sich Kultur- und Wissenschaftsdezernentin Dr. Ina Hartwig.

Niki de Saint Phalle Schwarze Mosaik-Nana-1999 © Foto Diether von Goddenthow
Niki de Saint Phalle Schwarze Mosaik-Nana-1999 © Foto Diether von Goddenthow

Besonders großer Beliebtheit erfreuten sich nicht nur die großen Häuser, wie die Schirn Kunsthalle mit der kunterbunten, verspielt feministischen Welt von „Niki de Saint Phalle“, oder das DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum mit seiner umfassenden Hommage an die goldenen 1920, inklusive Tanzkurse, Fotobox und Elektro-Swing. Auch bei einzigartigen und besonderen Erlebnissen war der Andrang groß, wie im sonst verschlossenen Fischergewölbe, wo sich die Besucher mit einer Taschenlampe auf dem Weg unter die Alte Brücke machen konnten, oder bei der normalerweise nur für limitierte Führungen geöffneten Deutsche Börse Photography Foundation, wo 20 junge Künstlerinnen und Künstler aus 14 Nationen die neuesten Trends des Mediums präsentierten.

Für Architektur- und Kunstliebhaber war erstmals im Rahmen der NACHT die Europäische Zentralbank (EZB) zu besichtigen, die die Türen zu ihrem imposanten Hauptsitz und der darin beherbergten Kunstsammlung öffnete.

Alle, die schon immer einen Blick ins Universum werfen wollten, stillten ihre Neugier in der Sternwarte des Physikalischen Vereins. Unter Wasser ging es mit den Aquanauten im Zoo Frankfurt, die im Mittelpunkt von kommentierten Fütterungen und Experten-Talks standen, eingebettet in ein stimmungsvolles Licht- und Musikkonzept. In die weite Ferne des peruanischen Amazonasgebiets entführte dagegen das Weltkulturen Museum mit einer spannenden Multimedia-Inszenierung von Objekten und Mustern der Shipibo.

Nacht der Museen - 48 Revolutionärinnen im Kaisersaal des Frankfurter Römers.  © Foto Diether von Goddenthow
Nacht der Museen – 48 Revolutionärinnen im Kaisersaal des Frankfurter Römers. © Foto Diether von Goddenthow

Die Themen Revolution und Demokratie wurden anlässlich des 175. Jubiläums der Eröffnung der Nationalversammlung vielschichtig aufgegriffen: Die aktuelle Ausstellung „Revolutionär:innen“ verhüllt die porträtierten Kaiser und präsentiert an ihrer Stelle 48 historisch bedeutsame Kämpferinnen direkt im Kaisersaal des Römers. Die brodelnden Jahre 1848/49 wurden in der Paulskirche selbst betrachtet. Kunstvoll dargebotene Protestlieder gab es im Deutschen Romantik-Museum zu hören. Und dem „Versprechen der Gleichheit“ widmete sich die Sonderschau des Historischen Museums Frankfurt.

Vielerorts wurde auch für Nachwuchs und Zeitgeist eine Plattform geschaffen. Im Frankfurter Kunstverein zeigten sich Newcomer der hiesigen Kunst- und Musikszene. Im DIAMANT OFFENBACH wurde turbulent auf fünf Etagen urbane Kultur gezeigt. Der Kunstverein Familie Montez solidarisierte sich mittels der Ausstellung „40 Tage, 1001 Kraniche“ mit den Menschen im Iran. Und das MOMEM Museum of Modern Electronic Music präsentierte standesgemäß Meilensteine der elektronischen Clubmusik.

Zu den Highlights des Rahmenprogramms gehörten das antagon-Theater auf dem Römerberg, das Schattenspieltheater im Gartensaal des Goethe-Hauses und die Grammophon-Lesungen von Jo van Nelsen im Sonnemann-Saal und die Berry Blue Band im Jüdischen Museum, wo die Besucherinnen und Besucher bis lange nach Mitternacht tanzten.

Diesen Samstag am Museumsufer NACHT DER MUSEEN Frankfurt und Offenbach am 13. Mai 2023

Liebieg Haus Skulpturen-Museum Foto: Tetyana Lux
Liebieg Haus Skulpturen-Museum Foto: Tetyana Lux

In wenigen Tagen meldet sich die NACHT DER MUSEEN FRANKFURT eindrucksvoll nach dreijähriger Pause zurück. Von Ausstellungen über Führungen, Workshops und Konzerte zu Partys und anderen Specials – das Programm der über 40 teilnehmenden Häuser am 13. Mai zwischen 19 und 2 Uhr verspricht Vielfalt im Zeitgeist.

Für die Planung empfiehlt es sich, das Programm in Ruhe etwas genauer zu studieren, um die Favoriten zu entdecken und daraus eine persönliche Route zu entwickeln. Im Wesentlichen gibt es fünf Hotspots, die wie alle Ausstellungsorte durch fünf BusShuttle-Routen verbunden sind.

Der Schaumainkai: Hier lässt es sich mit Blick auf die Skyline besonders gut schlendern, denn das Museumsufer ist teilweise gesperrt und ein Museum reiht sich an das nächste – wie das Ikonenmuseum, das Museum Angewandte Kunst, das DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, das Museum für Kommunikation,das Städel Museum und das benachbarte Liebieghaus sowie das Museum Giersch der GoetheUniversität.

Nacht der Museen in Frankfurt und Offenbach. Bild: Archäologisches Museum Frankfurt © Foto Diether von Goddenthow
Nacht der Museen in Frankfurt und Offenbach. Bild: Archäologisches Museum Frankfurt © Foto Diether von Goddenthow

Die City: Der Römer bietet mit der Künstlergruppe antagon theaterAKTion und dem mit dem Rad reisenden Musiker Lasca Fox gleich zwei Highlights des Rahmenprogramms. Er ist aber auch einer der Dreh- und Angelpunkte zu den vielen zentral liegenden Ausstellungsorten der Nacht, zu denen unter anderen der Kaisersaal im Römer selbst, das gegenüberliegende Historische Museum, die Paulskirche, der Frankfurter Kunstverein, die Schirn Kunsthalle, das Struwwelpeter Museum, das Deutsche Romantik-Museum, das Institut für Stadtgeschichte oder das MOMEM Museum of Modern Electronic Music an der Hauptwache gehören.

Der Nordwesten: Ob zur Galerie Schierke Seinecke in Hauptbahnhof-Nähe, zur Deutschen Börse Photography Foundation in Eschborn, zum EXPERIMINTA ScienceCenter und Senckenberg Naturmuseum in Bockenheim oder zum Geldmuseum und Kriminalmuseum im Nordend – es lohnt sich, mit den Bus-Shuttles der Nacht in den Norden Frankfurts zu fahren.

Der Osten: Wer sich aus der City in Richtung Osten bewegt, findet zum einen den Frankfurter Zoo, über den aus auch die historische Straßenbahn verkehrt, zum anderen wenige hundert Meter weiter die Europäische Zentralbank (EZB) und den Kunstverein Familie Montez an der Honsellbrücke.

Offenbach: Neben dem Ledermuseum, dem wohl bekanntesten Museum der Nachbarstadt, lockt Offenbach mit dem Klingspor Museum, dem DIAMANT OFFENBACH Museum of Urban Culture, der Druckwerkstatt im Bernardbau und dem Haus der Stadtgeschichte.

Eintrittskarten (15 Euro) gibt es in den teilnehmenden Veranstaltungsorten, online über nacht.museumsufer.de und an AD ticket/reservix-Vorverkaufsstellen. Während der NACHT DER MUSEEN berechtigt das Ticket zum Eintritt in die teilnehmenden Häuser und ist zugleich Ausweis für die Fahrten mit den Shuttle-Bussen und der Historischen Straßenbahn.

Die ermäßigte Eintrittskarte für 10 Euro ist ausschließlich im VVK erhältlich und nur gültig zusammen mit Lichtbild und Berechtigungsnachweis für Kinder unter 18, Schüler:innen, Auszubildende, Studierende, Bundesfreiwilligendienstleistende, Arbeitslose, Schwerbehinderte ab 50 GdB und Frankfurt-Pass/KulturpassInhaber:innen. Für Besitzer:innen der MuseumsuferCard ist der Eintritt frei.

Programm-Heft: Nacht der Museen 

Karikaturist Gerhard Haderer kann auch „Caravaggio“ – Werkschau im Caricatura Frankfurt präsentiert erstmals bittersüße Ölgemälde im Großformat

Das Caricatura Museum Frankfurt präsentiert ab April 2023 einen der bedeutendsten satirischen Zeichner im deutschsprachigen Raum: Gerhard Haderer (*1951 in Leonding/Österreich). 25 Jahre lang erreichte er mit seinen wöchentlichen Zeichnungen für den stern ein Millionenpublikum. Seine zahlreichen Cartoons sind meistens provokativ, auf jeden Fall immer treffend.  Ausstellungs-Impresseion. © Foto Diether von Goddenthow
Das Caricatura Museum Frankfurt präsentiert ab April 2023 einen der bedeutendsten satirischen Zeichner im deutschsprachigen Raum: Gerhard Haderer (*1951 in Leonding/Österreich). 25 Jahre lang erreichte er mit seinen wöchentlichen Zeichnungen für den stern ein Millionenpublikum. Seine zahlreichen Cartoons sind meistens provokativ, auf jeden Fall immer treffend. Ausstellungs-Impresseion. © Foto Diether von Goddenthow

Das Caricatura Museum Frankfurt – Museum für Komische Kunst präsentiert vom 6. April bis zum 17. September 2023 die Werke des „Superstars der Komischen Kunst“ Gerhard Haderer, darunter als Highlights erstmals seine bittersüßen großformatigen Ölgemälde. Kuratiert hat die Ausstellung Stefanie Rohde. 

Die Ausstellung heiße schlicht Gerhard Haderer, ähnlich wie auch einst die Alten Meister ihre Werke nur mit ihrem Künstlernamen präsentiert hätten, wobei bei Gerhard Haderer die Betonung auf „Meister“ läge, begrüßt Achim Frenz, Direktor des Caricatura Museum für Komische Kunst Frankfurt, ein wenig augenzwinkernd die Runde. Schon 2011 präsentierte das Caricatura Frankfurt  Haderers bissigen Werke. „Diese machten die damalige Werkschau zu einer der erfolgreichsten Ausstellungen unseres Museums“, so Frenz.

Direktor Achim Frenz mit Gerhard Harderer im Gespräch vor dem Cartoon"Am Tag danach", welches  Haderer am 7. Jan. 2015 nach dem terroristischen Anschlag auf das Redaktionsbüro der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris malte.  © Foto Diether von Goddenthow
Direktor Achim Frenz mit Gerhard Harderer im Gespräch vor dem Cartoon“Am Tag danach“, welches Haderer am 7. Jan. 2015 nach dem terroristischen Anschlag auf das Redaktionsbüro der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris malte. © Foto Diether von Goddenthow

Jetzt gut 10 Jahre nach der ersten Haderer-Ausstellung später, möchte das Caricatura Frankfurt ein weiteres Feld über die neuen Arbeiten des Meisters Haderer zeigen. So habe Gerhard Haderer Achim Frenz versprochen, zum Abschluss seiner Zeit als Museumsleiter des Caricatura Museums seine bislang noch nie gezeigten großformatigen Ölgemälde in Frankfurt auszustellen. Und da nun der legendäre Museumsleiter Achim Frenz tatsächlich demnächst in den „Ruhestand“ verabschiedet werden wird, hat Gerhard Haderer, den mittlerweile eine enge Freundschaft mit Frenz verbindet, sein Versprechen eingelöst, und  ermöglicht erstmals eine Präsentation seiner großformatigen Ölgemälde.
Unter seinen Ölgemälden befinden sich sagenhafte Werke mit Abmessung von 2,50 x 1,80 Meter, „also etwas größer als seine Zeichnung und Acryl-Bilder“ in der sich Haderer in den Techniken der Alten Meister übte und sich der gestalterischen Aufgabe der großen Leinwand stellte, so Frenz. Er selbst habe ihn einmal bei einer Ausstellung im Kunst-Museum Linz den Caravaggio der komischen Kunst genannt. Mit Recht.  Denn ein Blick auf Haderers liebevoll-bösartigen satirischen Öl-Gemälde im Hell-Dunkel-Stil früher Barockmalerei eines Caravaggios (1571 -1610) reicht, um darin  den italienischen Altmeister wiederzufinden. Haderer habe sich bei Italienreisen in Caravaggios Bilder und dessen Malweise verliebt. und er habe es als Herausforderung empfunden, dessen Malweise ein wenig nachzuempfinden.

Ausstellungs-Impresseion. Im Hintergrund der Öl-Cartoon "Waldlichtung" © Foto Diether von Goddenthow
Ausstellungs-Impresseion. Im Hintergrund der Öl-Cartoon „Waldlichtung“ © Foto Diether von Goddenthow

Zum Glück, denn  Gerhard Haderer kann auch Caravaggio: Auch Haderers Figuren wirken vor den bewusst dunkel gehaltenen Hintergründen enorm  lebendig. Die Akteure seiner kurios boshaft witzigen Öl-Cartoons treten im wohldosierten Lichterschein aus dunklen Hintergründen besonders plastisch hervor. Der meisterhaft in dieser Chiaroscuro-Technik erzeugte Kontrast zwischen Hell und Dunkel verleiht Haderers  Ölgemälden eine besonders dramatische Note und  fotorealistische Ästethik und  Tiefe. Kaum ein Betrachter vermag sich der Magie dieser Öl-Cartoons entziehen. Die Bilder verführen unweigerlich zum Hinschauen und ziehen Betrachter  ins Geschehen hinein. Gerhard Haderer gelingt es durch diese spezielle Hell-Dunkel-Technik die Kompositionen an Tiefe und Theatralik gewinnen zu lassen, die seine Bildbotschaften subtil noch verstärken.

Ob er Perfektionist sei? Nein, davon sieht sich der Meister fern – „gut bei den Ölgemälden“, die eine neue echte Herausforderung waren und auch etwas mit Disziplin zu tun hätten, „hat er eine Ausnahme gemacht“, aber immer “wenn ich in die Nähe eines Perfektionisten gerate, muss ich mich selber sofort rächen, also überprüfen“, und dann entstünden eben solchen Dinge wie „‘Moff‘ dieses kleinformatige bildchenförmige Schundheftel, wie es in Österreich heißt, das nur mit einem Stift auf weißem Papier gezeichnet ist. Also Perfektionismus ist mir wohl sehr fern“, beteuert der Künstler, dem man dies nicht so ganz abnehmen kann. Zu vollkommen sind seine Werke.

Seine  Bilder entstünden in seinen Ateliers in Linz und im Sommersitz am Attersee, Ruhe, Zeit und Ordnung benötige er für die Ausarbeitung, so Frenz. Haderer arbeitet klassisch mit Stiften, Pinsel, Papier und Farbe. Auf Skizzen folgt eine erste Zeichnung, dann die Ausarbeitung mit Buntstiften in einer gekonnt eingesetzten Mischung aus zarten und kräftigen Strichen. Nie vernichtend, sondern geradezu liebevoll und mit größter Genauigkeit nähert er sich seinen Szenerien, sucht die Zwischentöne in den großen Themen.

Keep going  (c)  Gerhard Haderer 2020 © Foto Diether von Goddenthow
Keep going (c) Gerhard Haderer 2020 © Foto Diether von Goddenthow

Für Haderer sei es keine Arbeit, so Frenz, „es geht ihm leicht von der Hand, 10 bis 12 Stunden arbeitet er an einem Werk“, für seine großformatigen Ölgemälde benötigt er allerdings gute drei Monate, was jedoch dennoch recht flott ist.
Dass seine großformatigen Ölgemälde maximal 2,50 auf 1,80 Meter messen, habe einen ganz banalen Grund, nämlich läge an der relativ kleinen Wohnung in Linz. „Fünf Zentimeter größer wäre einfach nicht mehr durch die Eingangstür gegangen. Deswegen haben sich diese Bilder in diesem für mich Riesenformat in dieser Größe ergeben“, erklärt der Meister.

Im Mittelpunkt der jetzt gezeigten Ausstellung stehen Haderers bereits erwähnten, beeindruckenden Ölgemälde, die zwischen fotorealistischer Perfektion und karikaturesker Überspitzung seine exzeptionelle Position auch in der Komischen Malerei unter Beweis stellen, wie es im Prospekt des Caricatura-Museums heißt.
Komplettiert wird die Werkschau durch eine breite Auswahl an Cartoons des vielfach ausgezeichneten Künstlers. Verschiedene Arbeitsskizzen sowie eine Medienstation, die den Entstehungsprozess ausgewählter Zeichnungen zeigt, gibt zudem Einblicke in die Arbeitsweise Haderers. Seine zahlreichen Cartoons sind meistens provokativ, auf jeden Fall immer treffend. In ihnen entdeckt der Betrachtende eine Bandbreite an gesellschaftlichen oder politischen Themen: Religion, Migration, Klimawandel, soziale Ungerechtigkeit, Bürokratiewahnsinn, Sportskandale uvm. Haderer zeichnet aus Notwehr gegen den Wahnsinn: „Es wäre schön, die Mächtigen mit dem Bleistift in Grund und Boden zeichnen zu können.“ Gerade in diesen Tagen der absoluten Krisen werden seine Werke wertvoller denn je und seine Rebellion auf dem Papier umso wichtiger. Das allgegenwärtige Credo: sich einmischen, aufmischen und bloßstellen.

(Diether v. Goddenthow /RheinMain Eurokunst)

Wer ist Gerhard Haderer?

Gerhard Haderer, rein zufällig, vielleicht ein wenig symbolisch für sein spezielles Verhältnis zur katholischen Kirche, im Hintergrund der Frankfurter Dom St. Bartholomäus gegenüber vom Caricatura Museum für komische Kunst am Weckmarkt. © Foto Diether von Goddenthow
Gerhard Haderer, rein zufällig, vielleicht ein wenig symbolisch für sein spezielles Verhältnis zur katholischen Kirche, im Hintergrund der Frankfurter Dom St. Bartholomäus gegenüber vom Caricatura Museum für komische Kunst am Weckmarkt. © Foto Diether von Goddenthow

Gerhard Haderer wurde im österreichischen Leonding am 29. Mai 1951 geboren. Schon als Kind war für ihn das Zeichnen die unmittelbarste Sprache, mit der er sein Umfeld über die bloße Abbildung hinaus kommentierte. Seine Eltern förderten sein Talent. Sie ermutigten ihn, dieses beruflich zu nutzen und ermöglichten ihm eine Ausbildung zum Grafiker an der Linzer Fachschule für Gebrauchs- und Werbegrafik. Eine daran anschließende Lehre als Graveur in Stockholm brach er ab. Kurzzeitig arbeitete er als Dekorateur bei der Quelle AG, ab 1974 dann sehr erfolgreich als freier Grafiker und Illustrator für verschiedene Werbeagenturen. Insbesondere seine fotorealistischen Arbeiten in allen Bereichen der Werbeillustrationen waren auch bei großen Unternehmen und Marken schnell gefragt. Wirtschaftlich auf der Sonnenseite haderte der Künstler jedoch immer mehr mit dieser Erwerbsform und der vermeintlich heilen und strahlenden Werbewelt.

Gerhard Haderer im Gespräch mit seiner Kuratorin Stefanie Rohde. © Foto Diether von Goddenthow
Gerhard Haderer im Gespräch mit seiner Kuratorin Stefanie Rohde. © Foto Diether von Goddenthow

Mit 30 Jahren entschied er sich für einen radikalen Neuanfang. Er kündigte seine Dienste in der Werbebranche, zog mit Frau und Kindern nach Linz, wo er bis heute lebt. Hier widmet er sich fortan der Komischen Kunst. Bereits 1984 erschien Haderers erste Karikatur auf dem Cover der Salzburger Satirezeitschrift „Watzmann“. Dadurch wurde die Chefredaktion des österreichischen Nachrichtenmagazins „profil“ auf den Zeichner aufmerksam. Bis 2009 zeichnete er regelmäßig für das Magazin. Einem Millionenpublikum wurde er durch seine Kolumne „Haderers Wochenschau“ im „Stern“ bekannt, die er 1991 bis 2016 zeichnete. Ebenso arbeitete er für den „Wiener“, „Titanic“, „GEO“ und „trend“ und zuletzt für die „Oberösterreichischen Nachrichten“, seit 2017 für das österreichische Nachrichtenmagazin „news“.

Neben diesen Tätigkeiten suchte Haderer immer weiter nach neuen künstlerischen Herausforderungen und Ausdrucksformen. So erschien 1991 sein erstes Kinderbuch „Das große Buch vom kleinen Oliver“, dem weitere folgen sollten. Für die Wiener Kabarett-Gruppe „maschek“ entwarf er 2006 erstmals Handpuppen für ihre als Kasperltheater inszenierten Stücke. 2014 brachte er seinen Bestseller „Der Herr Novak“ auf die Bühne.

Von 1997 bis 2000 erschien erstmals Haderers eigenes Comic-Format mit dem lautmalerischen Titel „MOFF“, das er 2008 gemeinsam mit seinem Sohn und dessen Frau wiederbelebte. In „MOFF“ konzentriert sich der Karikaturist im Gegensatz zu seinen detailreichen Arbeiten auf schnelle Schwarz-Weiß-Comic-Strips im Kleinstformat. Konträr dazu übte sich Haderer in den vergangenen Jahren in der Ölmalerei. Mit Großformaten von 250 cm x 180 cm zitiert er dort in karikaturesker Überspitzung die dramatischen Inszenierungen der Alten Meister.

2017 gründete Haderer die „Schule des Ungehorsams“ in Linz mit dem Ziel, durch alle gesellschaftlichen Schichten einen kritischen Diskurs zu etablieren. Vorträge, Ausstellungen, Lesungen und Workshops bis hin zu Publikationen und Aktionen im öffentlichen Raum sollen Menschen mit künstlerischen Mitteln aktiv werden lassen.

Andere Angebote, die Haderers Freiheit und damit seine Unabhängigkeit eingeschränkt hätten, lehnte der Künstler hingegen kategorisch ab, darunter lukrative Angebote der Privatwirtschaft wie beispielsweise Red Bull oder das millionenschwere Angebot der FIFA, Nutzungsrechte einer Zeichnung zu erhalten.

Ausschnitt aus: Messias im Vatikan, 2014, © Gerhard Haderer © Foto Diether von Goddenthow
Ausschnitt aus: Messias im Vatikan, 2014, © Gerhard Haderer © Foto Diether von Goddenthow

Haderers Arbeiten kommentieren mit ihrem hintersinnigen Witz gesellschaftliche und politische Missverhältnisse. Sie fordern heraus, provozieren. Insbesondere diejenigen, die sich von den Karikaturen ertappt fühlen. Das zeigen viele öffentliche und teils heftige Reaktionen auf seine Werke. Sein Bestseller-Comic „Das Leben des Jesu“ zog internationale Proteste seitens der Kirche und der Politik nach sich und mündete in Anzeigen in Österreich und der Tschechischen Republik. In Griechenland verurteilte man ihn 2005 in Abwesenheit wegen Blasphemie zu einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe, in einer Berufungsverhandlung wurde er freigesprochen. Zusammen mit der Initiative „Courage – Mut zur Menschlichkeit“ sorgte er zuletzt im März 2021 für internationale Aufmerksamkeit: Als Protest gegen die Migrationspolitik der damaligen österreichischen Regierung unter Kanzler Sebastian Kurz zierte der Cartoon des „Herzlosen Kanzlers“ ein 230 Quadratmeter großes Plakat an einem der meist frequentierten Verkehrsknotenpunkte in Wien.

Haderer beobachtet, zeichnet das, was ihm auffällt, was ihn alltäglich umgibt. Intensive Gespräche und exakte Beobachtungen seines Umfeldes liefern ihm die Inspiration für ein vielfältiges Themenspektrum. Sein Figurenensemble ist vielgestaltig, neben den Großen und Mächtigen fängt er auch immer wieder Stimmung und Empfindlichkeiten der Bevölkerung ein.

Eröffnet wird die Ausstellung am heutigen Mittwoch, dem 5. April, um 18.00 auf dem Weckmarkt vor dem Caricatura Museum Frankfurt. Gerhard Haderer ist anwesend. Die Frankfurter Kulturdezernentin Dr. Ina Hartwig steuert ein Grußwort bei und Kabarettistin Maren Kroymann (Schauspielerin, Kabarettistin und Sängerin) sendet eine Videobotschaft. Musikalisch sendet von Attwenger ein Videogrußwort. Anmeldung ist nicht erforderlich, wer möchte kann es aber über E-Mail caricatura.museum@stadt-frankfurt.de

Caricatura Museum Frankfurt
Museum für Komische Kunst
Weckmarkt 17
60311 Frankfurt am Main
Telefon: 069 / 212 30161
Caricatura.museum@stadt-frankfurt.de
www.caricatura-museum.de

Frühlingserwachen am Museumsufer NACHT DER MUSEEN Frankfurt und Offenbach am 13. Mai 2023

Nacht der Museen in Frankfurt und Offenbach. © Foto Diether von Goddenthow
Nacht der Museen in Frankfurt und Offenbach. © Foto Diether von Goddenthow

Nach drei Jahren Pause meldet sich die NACHT DER MUSEEN FRANKFURT eindrucksvoll zurück. Von Ausstellungen über Führungen, Workshops und Konzerten zu Parties und anderen Specials – das Programm der über 40 teilnehmenden Häuser verspricht Vielfalt im Zeitgeist.

Über 40 Kulturinstitutionen in Frankfurt, Offenbach und Eschborn bieten am Samstag, den 13. Mai im Rahmen der Nacht der Museen 2023 ein reiches Kunstprogramm. Führungen, Performances, Live-Musik, Filmprojektionen und Workshops geben der Kunst den passenden Rahmen und ermöglichen ein facettenreiches Kunsterlebnis in außergewöhnlicher Atmosphäre. Mit nur einem Ticket erhalten Besucherinnen und Besucher Zutritt zu allen teilnehmenden Veranstaltungsorten und nutzen kostenlos den Shuttle-Service (Busse und historische Straßenbahn).

„Ich freue mich sehr, dass die Nacht der Museen wieder stattfinden kann. Die beliebte Veranstaltung lebt von der Programmdichte und -vielfalt und spiegelt die reiche Museumslandschaft Frankfurts wider. Die engagierte Teilnahme der Museen zeigt uns, dass trotz der teils schwierigen Situation in der Kultur die Nacht der Museen ihren festen Platz in Frankfurt hat. Kunst- und Kulturinteressierte sollten diesen frühlingshaften Kunstgenuss am Museumsufer und darüber hinaus keinesfalls verpassen!“, so Kultur- und Wissenschaftsdezernentin Dr. Ina Hartwig.

Das 175. Jubiläum der Eröffnung der Nationalversammlung in der Paulskirche ist vielerorts auch bei der Nacht der Museen präsent und zieht sich wie ein roter Faden durch die Nacht: Der Struwwelpeter zeigt seine rebellischen Wurzeln im Struwwelpeter Museum, im Institut für Stadtgeschichte geht es „Auf die Barrikaden“. In der Volksbühne im Großen Hirschgraben wird die lange Nacht der Revolution schwungvoll in Szene gesetzt. Und die Paulskirche als Herz der Nationalversammlung von 1848 steht am 13. Mai für alle Interessierten offen.

Archäologisches Museum Frankfurt. © Foto Diether von Goddenthow
Archäologisches Museum Frankfurt. © Foto Diether von Goddenthow

Zu einer der letzten Gelegenheiten, die opulente Ausstellung „Niki de Saint Phalle“ zu besuchen, lädt die Schirn Kunsthalle ein. Das Städel Museum entführt seine Gäste mit frühen Fotografien ewiger Sehnsuchtsorte nach Italien. Im Museum Giersch werden Gemälde und Zeichnungen des gebürtigen Frankfurters Ernst Weils, im Museum für Kommunikation mit „Humanimal“ eine kulturgeschichtliche Schau zum Verhältnis zwischen Zwei- und Vierbeinern zu sehen sein. Überhaupt nichts zu sehen gibt es dagegen im Dialogmuseum, wo Nachtschwärmerinnen und -schwärmer in absoluter Dunkelheit die Welt der Blinden sinnlich erleben.

Erstmals dabei ist die Europäische Zentralbank und präsentiert 480 ausgewählte Werke internationaler Künstlerinnen und Künstler. Weitere Premieren bei der Nacht der Museen feiern das Museum für elektronische Musik (MOMEM) mit der Ausstellung „Milestones“ und das Deutsche Romantik Museum, wo zur Sonderschau „Romantik und Parlamentarismus“ an diesem Abend neue und alte Protestlieder den gesellschaftlichen Aufbruch begleiten.

Im Taschenlampen-Kegel erklimmen Besucherinnen und Besucher die 328 Stufen des Doms oder erfahren im Weltkulturen Museum Faszinierendes über Mythen und Muster der Shipibo in Peru. Puppenhäuser aus mehreren Jahrhunderten geben im Haus der Stadtgeschichte Offenbach Einblicke in das Alltagsleben der Menschen. Und um nichts weniger als den „Maschinenraum der Götter” geht es im Liebieghaus.

Ob Textilien mit Gullydeckeln in der Druckwerkstatt im Bernardbau bedrucken oder Fotos schießen in Kulisse eines Beatles-Albumcovers bei der Deutsche Börse Photography Foundation – die vielfältigen Mitmach-Stationen bieten für jeden ein passendes Angebot. Ganz junge Gäste erleben unter anderem Seifenblasen mit Trockeneis und andere Experimente im EXPERIMINTA ScienceCenter oder basteln und stempeln fantastische Reisepässe im Klingspor Museum Offenbach.

Das Bibelhaus in Frankfurt beschenkt seine Gäste mit zauberhaften Momenten des Mentalmagiers Samuel Lenz. Im „Theater der Dämmerung” des Goethe-Hauses werden beim Schattenspiel die Garten-Szenen aus dem Faust lebendig. Und das Verkehrsmuseum bringt mit dem „Mobiliseum” sogar eine rollende Ausstellung auf die Schienen.

Natürlich darf auch Musik nicht fehlen: Von Grammophon-Lesungen mit Jo van Nelsen bis zur Klassik, die auf Beatbox trifft, vom Landespolizeiorchester, einem SpardosenTerzett, über Electroswing-Beats und das Duo Russo & Putte (Klassik/Folklore/Pop/Elektro) bis hin zu einer elektronischen Soundreise durch Frankfurt – auch der Soundtrack der Nacht der Museen lässt eine abwechslungsreiche Nacht erwarten.

Das Gesamtprogramm ist ab 6 April auf nacht.museumsufer.de zu finden, der Ticketvorverkauf beginnt Anfang April.

Deutsches Romantik-Museum & Frankfurter Goethe-Haus 7 Tage die Woche geöffnet

Deutsches Romantik Museum, daran anscließend das Goethe-Haus. © Foto Diether von Goddenthow
Deutsches Romantik Museum, daran anscließend das Goethe-Haus. © Foto Diether von Goddenthow

Ab dem 1. April sind Goethe-Haus und Deutsches Romantik-Museum 7 Tage die Woche geöffnet. Wir haben nachgerechnet: Das sind ingesamt 212.400 Sekunden jede Woche für Ihren Besuch bei uns. Neu im Vermittlungsprogramm sind öffentlichen Einführungen zum Deutschen Romantik-Museum, die einen Einblick in das Ausstellungskonzept des Hauses geben.

Zum 400-jährigen Jubiläum von ‚Shakespeare’s First Folio‘ laden wir Sie heute Abend zu einer Lesung mit Gespräch ein. An Shakespeares Geburtstag erwartet Sie Katharina Schaaf mit einer ganz besonderen Führung im Goethe-Haus.

Auch Ludwig Tiecks 250. Geburtstag wird selbstverständlich gefeiert: Die Goethe-Ringvorlesung in diesem Semester ist ihm gewidmet und in der Reihe Lied & Lyrik wird ‚Die schöne Magelone‘ in Brahms Vertonung zu hören sein.

Anlässlich des 80. Geburtstags Hendrik Birus veranstaltet das Freie Deutsche Hochstift ein festliches Symposium. An zwei Tagen werden zahlreiche Freunden und Weggefährten des international renommierten Literaturwissenschaftlers und Goethe-Forschers in Vorträgen und Diskussionen der Frage nachgehen, wie Philologie heute zu bestimmt und zu bewerten ist.

Der Workshop ‚Goethe und der Frühling‘ in den Osterferien bietet Kindern die Möglichkeit, verschiedene künstlerische Techniken auszuprobieren. ‚Zeichnen in der Natur‘ ist ein Kreativ-Angebot für Jugendliche und Erwachsene. Hier können bei einem Spaziergang verschiedene Zeichentechniken erprobt werden.

 

Deutsches Romantik-Museum
Großer Hirschgraben 23-25
60311 Frankfurt am Main
Tel.: +49 (0)69 138 80-0
info@freies-deutsches-hochstift.de

Besucherinformationen

DFF zeigt ab 29.März – Frauen und Geschlechtervielfalt im Kino der Moderne (1918 – 1933)

Szenenfoto WEGE ZU KRAFT UND SCHÖNHEIT (Wilhelm Prager, 1925) Quelle: Deutsche Kinemathek – Fotoarchiv
Szenenfoto WEGE ZU KRAFT UND SCHÖNHEIT (Wilhelm Prager, 1925) Quelle: Deutsche Kinemathek – Fotoarchiv

Bubikopf-Frisuren, luftige Chiffonkleider, extravagante Schuhkreationen und endlich Beinfreiheit – schon auf den ersten Blick sind die Veränderungen gewaltig, die die 1920er Jahre für das weibliche Geschlecht bringen. Zu den wichtigsten gehört die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen, die dazu beiträgt, Frauen auch im gesellschaftlichen Alltag präsenter werden zu lassen. Das zeigt sich auch im Kino der Zeit. Frauen beim und im Film der Weimarer Republik sind das Thema der Ausstellung WEIMAR WEIBLICH, die zudem untersucht, wie das Kino Geschlechterrollen und -verhältnisse insgesamt thematisiert.

Zum einen geht es darum, jene in allen Gewerken wirkenden Frauen ins Licht zu rücken, die die aufkommende Filmindustrie mit zum Blühen brachten – als Regisseurinnen, Drehbuchautorinnen, Kostüm- und Szenenbildnerinnen – und die heute vielfach vergessen sind. Zum anderen lotet die Ausstellung aus, wie das Kino der Weimarer Zeit Geschlechterfragen verhandelt, und dabei Themen wie körperliche Selbstbestimmung, Crossdressing und Homosexualität in den Fokus rückt. Die Ausstellung WEIMAR WEIBLICH wirft damit einen frischen Blick auf die deutsche Filmgeschichte der Jahre 1918 bis 1933. Vielen gilt diese Ära bis heute als „Goldenes Zeitalter“ der (deutschen) Kinematographie, weil sie überdurchschnittlich viele international anerkannte Klassiker hervorbrachte. Den Blick auf diese Klassiker des Weimarer Kinos zu beschränken, greift jedoch zu kurz. Das Filmschaffen jener Jahre ist von weit größerer Vielfalt geprägt: ästhetisch, inhaltlich, vor allem aber auch in Bezug auf diejenigen, die es schufen.

Frauen und Geschlechterfragen im Film
WW_1920x1080_03-300x169-450In der Eingangsszene von Ernst Lubitschs Film ICH MÖCHTE KEIN MANN SEIN (DE 1918) sitzt Ossi Oswalda mit Zigarette im Mund und überschwänglich lachend mit den Gärtnern am Tisch und knallt die Pokerkarten nur so auf die Platte. Wenige Filmsekunden bringen überdeutlich zum Ausdruck, dass das Ende des Ersten Weltkriegs eine neue Zeit eingeläutet hat: Die Frauen befreien sich aus ihren Korsetts, sie rauchen, trinken und pfeifen auf damenhaftes Benehmen. Im Film sind Frauen in Hosenrollen zu sehen. Sie verweigern die Heirat, küssen als Männer verkleidet Männer, oder verlieben sich in andere Frauen. Das Kino der Weimarer Republik zeigt anschaulich, dass Geschlechterrollen in jenen Jahren nicht in Stein gemeißelt, Geschlechterverhältnisse verhandelbar sind. In CYANKALI (DE 1930, R: Hans Tintner) ersteht eine Frau am Kiosk mit großer Selbstverständlichkeit eine Ausgabe der auch real existierenden Zeitschrift „Die Freundin. Magazin für lesbische Leserinnen“. In Leontine Sagans MÄDCHEN IN UNIFORM (DE 1931) verlieben sich die Elevinnen einer streng-preußischen Erziehungsanstalt reihenweise in ihre zugewandte Lehrerin Fräulein von Bernburg. Richard Oswalds ANDERS ALS DIE ANDERN (DE 1919) führt die grausamen Folgen des Homosexuellen-Paragrafen 175 vor Augen – und kämpft gegen ihn an. Auch Themen wie Prostitution und Schwangerschaftsabbrüche finden Eingang in die Filme der Weimarer Republik. Mit der kontrovers geführten Diskussion um die Abschaffung des Paragrafen 218 beschäftigen sich insbesondere weibliche Filmschaffende.

Damen in den Ewigen Gärten, Kostümbild von Aenne Willkomm METROPOLIS (Fritz Lang, 1927) Foto: Horst von Harbou Quelle: Deutsche Kinemathek – Fotoarchiv © Deutsche Kinemathek – Horst von Harbou
Damen in den Ewigen Gärten, Kostümbild von Aenne Willkomm METROPOLIS (Fritz Lang, 1927) Foto: Horst von Harbou Quelle: Deutsche Kinemathek – Fotoarchiv © Deutsche Kinemathek – Horst von Harbou

Im Ausstellungsteil „Frauen und Geschlechterfragen im Film“ wird deutlich, wie das Kino auf die einschneidenden sozialen Veränderungen der Zeit reagiert, wie es Partei ergreift in den Konflikten um das gesellschaftliche Selbstverständnis oder schlicht Unterhaltung bietet, um diesen zu entgehen. Geprägt vom Streben der Neuen Sachlichkeit nach Realismus in der Darstellung, sucht der Film nach neuen Erzählungen, innovativen Motiven und zeitgenössischen Figuren. Eine der wichtigsten: die Neue Frau, die ausgestattet mit einem pflegeleichten Bubikopf und bequemen, das Knie befreienden Hängekleidern, die neue Beinfreiheit nutzt, um ihr Leben selbstbewusst zu gestalten. Die in der Konfektion, als Telefonistin oder im Büro arbeitet und abends zum Tanz geht. Sie treibt Sport, denn sie legt Wert auf einen modulierten Körper. In der Mode wird die weibliche Silhouette zunehmend schlanker und knabenhafter – ein Ideal, das der Film vorantreibt. Als „Autlerin“ chauffiert sie ihren Wagen selbst, oder reüssiert gar als Rennfahrerin oder Fliegerin.

Kommen knallrot geschminkte Lippen, Zigarette, Hosenanzug und Zylinder zum Einsatz, signalisiert das unübersehbar ein neues weibliches Selbstbewusstsein und ein verändertes Verständnis von Sexualität und Gender. Die Übergänge zum auch weiterhin existierenden Typ des Vamps sind fließend – verkörpert etwa durch Marlene Dietrich in DER BLAUE ENGEL (DE 1930, R: Josef v. Sternberg) oder Brigitte Helm im Film ALRAUNE (DE 1928, R: Henrik Galeen sowie DE 1930, R: Richard Oswald), wird er als so sinnlich wie gefährlich empfunden.

Das Ausstellungskapitel bietet Fotografien, Setdesigns und Kostümentwürfe, Filmplakate und Zeitungsausschnitte. Originalkostüme (etwa von Marlene Dietrich) sind auf historischen Schaufensterpuppen zu sehen, die in Aussehen und Pose den damaligen Stars nachempfunden sind. Groß projizierte Ausschnitte aus zahlreichen Filmen geben Einblick in die filmische Vielfalt. An zwei Medienstationen können ausgewählte Themen weiter vertieft werden.

Frauen hinter der Kamera
Die legendäre expressionistische Filmarchitektur zu Paul Wegeners DER GOLEM, WIE ER IN DIE WELT KAM (DE 1920)? Sie ist das gemeinschaftliche Werk des Künstlerpaares Hans Poelzig und Marlene Moeschke-Poelzig. Fritz Langs Klassiker DIE NIBELUNGEN (DE 1924) und METROPOLIS (DE 1927)? Sie stammen aus der Feder seiner damaligen Frau, Thea von Harbou, die die Drehbücher zu vielen „seiner“ Filme schrieb. Die Kostüme dazu schuf Aenne Willkomm. Lotte Reinigers Silhouettenfilm DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED? – Auch dies eine Pionierleistung: Der Film gilt als erster noch erhaltener abendfüllender Animationsfilm der Welt.

Während und nach dem Ersten Weltkrieg nutzen viele Frauen die sich auftuenden beruflichen Möglichkeiten in der wachsenden Filmindustrie, das macht der
Ausstellungsteil „Frauen in der Filmindustrie“ deutlich: Sie arbeiten im Kostüm- und Szenenbild, komponieren und schreiben Lieder für den Film, stellen als Grafikerinnen Filmplakate her und betätigen sich im Filmverleih. Produzentinnen, Regisseurinnen, vor allem aber Drehbuchautorinnen bedienen nahezu alle Genres und Themen. Die meisten von ihnen bleiben weitgehend unbekannt. Die Gründe dafür sind vielfältig: Häufig müssen Frauen ihr Geschlecht tarnen, indem sie auf die Nennung ihrer Vornamen in den Filmcredits verzichten. Andere wiederum arbeiten unter männlichem oder genderneutralem Pseudonym. So stehen die Namen Hanns Torius, Dr. R. Portegg und Jan von der Kant etwa für die Drehbuchautorinnen Luise Heilborn Körbitz, Rosa Porten und Hermanna Barkhausen. Manch eine filmschaffende Frau verschwindet ganz einfach hinter dem „Genie“ des ebenfalls für den Film tätigen Ehegatten.

Darüber hinaus werden Frauen in den 1910er und -20er Jahren als arbeitsmarktpolitische Reservearmee behandelt, die je nach bevölkerungspolitischer Konjunkturlage eingesetzt oder vom Arbeitsmarkt verdrängt wird – auch beim Film. Auf männliche Geldgeber angewiesen, erfahren viele Frauen hohe Hürden und Benachteiligung bei der Bereitstellung finanzieller Mittel. Oftmals sind sie an Produktionen mit kleineren Budgets beteiligt. Eine männlich dominierte Filmkritik tendiert darüber hinaus dazu, das Filmschaffen der Frauen zu ignorieren. Für die meisten Frauen endet die Filmkarriere mit der Wirtschaftskrise Ende der 1920er oder spätestens Anfang der 1930er Jahre. Mit Beginn der NS-Diktatur 1933 kommt der Input von Frauen vollkommen zum Erliegen. Jüdischen Autorinnen wie Vicki Baum und Jane Bess werden in Deutschland Arbeits- und Lebensgrundlage entzogen. Die frauenfeindliche NS-Politik trifft aber auch viele andere. Karriere machen in dieser Zeit nur die Drehbuchautorin Thea von Harbou und die Regisseurin Leni Riefenstahl.

Die Ausstellung stellt eine Vielzahl weiblicher Filmemacherinnen aus verschiedenen Gewerken vor. Kurzbiographien und Exponate, Filmausschnitte, Audioaufnahmen und Filmkritiken gewähren Einblick in ihr vielfältiges Schaffen und geben einem weitgehend unbekannten Kapitel des Weimarer Kinos Gesicht und Stimme. Vorgestellt werden Irma von Cube (Drehbuch), Ilse Fehling (Kostüm), Margit Doppler (Plakatgrafik), Lotte Reiniger (Animation), Leontine Sagan (Regie) Ellen Richter (Produktion) und viele weitere Filmfrauen der Zeit.

Vier Frauen nimmt die Ausstellung dabei besonders in den Blick: die Dokumentarfilmerin Ella Bergmann-Michel, die Szenenbildnerin Marlene Moeschke-Poelzig, die Drehbuchautorin Jane Bess sowie Hanna Henning, die als Drehbuchautorin, Regisseurin und Produzentin tätig war. Exemplarisch werden ihre Lebenswege und Karrieren sowie die Spuren, die sie in der Filmgeschichtsschreibung hinterlassen haben, untersucht.

Filmarchiv und Ausstellungsabteilung des DFF haben intensive Recherchen zum Werk von Jane Bess und Hanna Henning betrieben; das DFF kann in der Ausstellung nun eine Reihe neuer Erkenntnisse und Exponate zu den beiden Filmemacherinnen zeigen. Vom Filmarchiv restaurierte und digitalisierte Filme von Bess (2) und Henning (5) werden im umfangreichen Begleitprogramm zur Ausstellung im Kino des DFF gezeigt, in dem auch Klassiker und neue Entdeckungen zu sehen, sowie Vorträge und Sonderveranstaltungen während der Ausstellungsmonate geplant sind.
Als Filmkritikerinnen setzen sich Lotte Eisner und Lucy von Jacobi mit dem Medium selbst und seiner Wirkung auseinander. Sie hinterfragen die Sehnsüchte des Publikums und tragen zur Meinungsvielfalt bei. In der Ausstellung werden Ausschnitte aus einigen der von ihnen rezensierten Filme mit den zugehörigen Filmkritiken synchronisiert.

Ausstellungsansicht WEIMAR WEIBLICH Foto: Thomas Lemnitzer Quelle: DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum
Ausstellungsansicht WEIMAR WEIBLICH Foto: Thomas Lemnitzer Quelle: DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum

Kino und Gesellschaft
Im Kino der Moderne betrachtet sich die Gesellschaft der Weimarer Republik selbst. Die Leinwand wird zum doppelten Spiegelbild, indem sie Alltagsthemen und -typen reflektiert und zugleich selbst zum Leitmedium aufsteigt, das Rollenvorbilder hervorbringt und Ideale setzt. Den unterschiedlichen Facetten dieser These ist der Ausstellungsteil „Kino und Gesellschaft“ gewidmet.

Kino, Stars und Fans: In den Jahren zwischen den Weltkriegen avanciert der Film zum Massenmedium. Die Zahl der Kinos verdoppelt sich in den zehn Jahren zwischen 1918 und 1928. In den Großstädten entstehen mondäne Kinopaläste: Mitte der 1920er Jahre strömen täglich etwa zwei Millionen Menschen in die Kinos – darunter viele Frauen.

Schon früh etabliert sich in Deutschland ein Starsystem, das eine lebendige Fankultur hervorbringt. Starpostkarten, Homestorys, Fotos von Autogrammstunden und Sammelobjekte zeugen davon. Sie werden für die Inszenierung und Vermarktung von Berühmtheiten wie Asta Nielsen, Henny Porten, Lilian Harvey oder Marlene Dietrich genutzt. Die Stars fungieren als Werbeträger und bieten als Vorbilder mit ihren unterschiedlichen Images vielfältige Möglichkeiten zur Identifikation. Passbildgroße Portraits, die in Selbstauslöse-Fotoautomaten entstehen – sogenannte Photomaton-Bilder – zeigen, wie das Publikum den Filmgrößen nacheifert.

Individuum und Typ: Eine Gegenüberstellung von Filmbildern und Fotografien aus der Serie Menschen des 20. Jahrhunderts von August Sander zeigt in diesem Ausstellungsteil bei beiden deutlich die Tendenz zur Typisierung. So bilden sich für „das proletarische Kind“, „die Künstlerin“ oder „die Bettlerin“ in Physiognomie, Kleidung und Haltung gewisse Stereotypen aus. Zu sehen sind außerdem Fotoportraits von Schauspieler:innen, die Hans G. Casparius Ende der 1920er Jahre an Filmsets aufnimmt, und die der zeitgenössische Kritiker Kenneth MacPherson 1930 so beschreibt: „Vertraute Gesichter, von ihm aufgenommen, werden zu charakteristischen Momenten der Zeit“.

Blick ins Private: Fotografien und Anekdoten, die vom Leben der Frauen in den Jahren 1918 bis 1933 erzählen, und die vornehmlich aus dem Rhein-Main-Gebiet stammen, bilden – ergänzend zu diesem Ausstellungsteil – den Vorspann zur Ausstellung im Ausstellungsfoyer. Zu den professionellen Fotografien unter anderem von Paul Wolff, Alfred Tritschler oder Ilse Bing aus dem Archiv des Historisches Museum Frankfurt gesellen sich Aufnahmen und Familiengeschichten, die dem DFF nach einem öffentlichen Aufruf von Privatpersonen zur Verfügung gestellt wurden. Die Suche nach historischen Zeugnissen und Familiengeschichten queerer Menschen gestaltet sich schwieriger, weil sie aufgrund von Diskriminierung und Verfolgung oftmals im Verborgenen lebten. Die Arbeit [anderkawer] 1928 der Künstlerin annette hollywood nimmt das Publikum mit auf detektivische Spurensuche.

Die Fotografien und Familiengeschichten sind eine Einladung an das Ausstellungspublikum, sich selbst auf Spurensuche zu begeben und nach Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen den in der Ausstellung gezeigten Filmbildern und den hier und in den eigenen Familienalben überlieferten Fotografien Ausschau zu halten. Über die gesamte Ausstellungsdauer hinweg besteht die Möglichkeit, eigene Familienerinnerungen zu teilen.

DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum
Schaumainkai 41
60596 Frankfurt am Main
www.dff.film

Öffnungszeiten: Dienstag – Sonntag 11:00 – 18:00

Als unsere Zukunft erfunden wurde – Liebieghaus Skulpturensammlung Frankfurt gibt Einblick in den „Maschinenraum der Götter“ – ab 8. März 2023

Die Liebieghaus Skulpturensammlung widmet sich 2023 einer der aufregendsten Verbindungen in der Geschichte der Menschheit – jener zwischen Kunst und Technik. Es ist eine globale Erzählung voller Mythen und Visionen, geheimnisvoller Fabeln, fiktiver und realer Innovationen und herausragender Meisterwerke. Die Ausstellung mit dem Titel „Maschinenraum der Götter. Wie unsere Zukunft erfunden wurde“ berichtet von der Geschichte der Wissenschaften in den antiken, arabischen und asiatischen Kulturen und ihrem Einfluss auf die Entwicklung der Kunst. © Foto Diether von Goddenthow
Die Liebieghaus Skulpturensammlung widmet sich 2023 einer der aufregendsten Verbindungen in der Geschichte der Menschheit – jener zwischen Kunst und Technik. Es ist eine globale Erzählung voller Mythen und Visionen, geheimnisvoller Fabeln, fiktiver und realer Innovationen und herausragender Meisterwerke. Die Ausstellung mit dem Titel „Maschinenraum der Götter. Wie unsere Zukunft erfunden wurde“ berichtet von der Geschichte der Wissenschaften in den antiken, arabischen und asiatischen Kulturen und ihrem Einfluss auf die Entwicklung der Kunst. © Foto Diether von Goddenthow

Die Liebieghaus Skulpturensammlung Frankfurt geht vom 8. März bis 10. September 2023  zurück an die Wiege der Technologiegeschichte der Menschheit. In „Maschinenraum der Götter. Wie unsere Zukunft erfunden wurde“ gelingt es den Kuratoren Prof. Dr. Vinzenz Brinkmann, Sammlungsleiter der Abteilung Antike und Asien, Liebieghaus Skulpturensammlung, und Projektleiter Jakob Salzmann, wissenschaftlicher Volontär, ausgezeichnet einen großen Bogen der Technologiegeschichte und ihrer innewohnenden Verbindung zwischen Kunst und Technik kulturübergreifend von der Vergangenheit bis in die Zukunft zu spannen.

„Die Bedeutung von Naturwissenschaften und Technologie für die Kunst war den Menschen offensichtlich zu allen Zeiten bewusst, außer im 20. Jahrhundert. Bis dahin störte sich niemand an der Engführung von Technik und Ästhetik, die in den antiken, arabischen und asiatischen Kulturräumen als selbstverständlich galt. Im 20. Jahrhundert wurde diese Einheit von Kunst und Technik irrtümlich aufgespalten. Diesen Graben gilt es nun wieder zu schließen, um der Kunst und ihrer Geschichte gerecht zu werden. Ein Beitrag ist unsere Ausstellung, die dafür ein Netzwerk aus Künstlern und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen zusammenführt, um ihre neuesten Forschungen und Leistungen im Bereich der Wissenschaftsgeschichte vorzustellen“, erläutert Prof. Dr. Vinzenz Brinkmann beim Pressegespräch.

Ausstellungs-Impression: Maschinenraum der Götter. Wie unsere Zukunft erfunden wurde. Liebieghaus Skulpturensammlung. Rechts der Nachbau eines Telluriums (Erde), Frankreich 1849, welches eine spezielle  Planetenmaschine zur Demonstration der Bewegungen von Erde und Mond und der Sonne  als feste Lichtquelle demonstriert. © Foto Diether von Goddenthow
Ausstellungs-Impression: Maschinenraum der Götter. Wie unsere Zukunft erfunden wurde. Liebieghaus Skulpturensammlung. Rechts der Nachbau eines Telluriums (Erde), Frankreich 1849, welches eine spezielle Planetenmaschine zur Demonstration der Bewegungen von Erde und Mond und der Sonne als feste Lichtquelle demonstriert. © Foto Diether von Goddenthow

Die Ausstellung „Maschinenraum der Götter – Wie unsere Zukunft erfunden wurde“ berichtet von der Geschichte der Wissenschaften in den antiken, arabischen und asiatischen Kulturen und ihren Einfluss wiederum auf die bildende Kunst, sagt Dr. Philipp Demandt, Direktor der Liebieghaus Skulpturensammlung. In der Antike seien Technik und bildende Kunst sehr eng miteinander verbunden gewesen, eine Verbindung, die verlorengegangen sei, „an die zu erinnern, diese Ausstellung sich vorgenommen hat.“

In Frankfurt werden 97 bedeutende Werke gezeigt, viele davon aus internationalen Museumssammlungen, aus Wien, aus Athen, aus Neapel, aus Rom und selbst aus New York. Es sei  eine multimediale Ausstellung , eine multimediale Ausstellungs-Architektur, die das ganze Liebieghaus in ein Museum verwandelt, in dem die Verbindung von Kunst und Wissenschaft über 5000 Jahrtausende verlebendigt wird.

Ausstellungs-Impression: Maschinenraum der Götter. Wie unsere Zukunft erfunden wurde. Liebieghaus Skulpturensammlung. © Foto Diether von Goddenthow
Ausstellungs-Impression: Maschinenraum der Götter. Wie unsere Zukunft erfunden wurde. Liebieghaus Skulpturensammlung. © Foto Diether von Goddenthow

„Wir wollen mit dieser Ausstellung einen unverstellten Blick auf die antike Wissenschaft und ihren kulturgeschichtlichen Einfluss werfen.“ In der Antike könne eben das Phänomen beobachte werden, wie aus der Wissenschaft die Vorstellung einer zukünftigen und auch eben fantastischen Technologie entwickelt worden sei, so ähnlich wie wir das heute aus dem Science-Fiktion-Genre  kennen, so Demandt. Das Liebieghaus zeige, basierend auf den Hauptwerken der Sammlung des Liebieg-Hauses, ergänzt um entsprechende Leihgaben „quasi kaleidoskopartig die aufregende Verbindung zwischen Kunst und Technik über die Grenzen der Jahrtausende und der Kulturkreise hinweg.“ Das reiche bis zur heutigen zeitgenössischen Kunst: Denn im LIebieghaus kommt es zu einem Wiedersehen mit Jeff Koons, dessen faszinierende Apollo Kithara (2019–2022) aus dem British Museum gleichsam eine Wiederbelebung der antiken  Marmorstatue des Apollon bedeute, hier dargestellt, musizierend mit provokanter Python, der er Leben eingehaucht hat. Jeff Koons Arbeit griffe zugleich bewusst einzelne Aspekte der Forschungsarbeiten des Liebieghauses zur antiken Statuenpolychromie, der antiken Statuenfarbigkeit auf. Denn die „Götter“ waren einst bunt.  So böte das Werk von Jeff Coons auch „gewissermaßen eine zeitgenössische Antwort auf die Sehnsucht der Antike und auch des arabischen, islamischen Kulturraums, die Skulptur durch roboterhafte Bewegungen zu verlebendigen,  der Skulptur quasi Leben einzuhauchen.“

Die Ausstellung „Maschinenraum der Götter. Wie unsere Zukunft erfunden wurde“, vom 8. März bis 10. September 2023, wird gefördert durch die Art Mentor Foundation Lucerne, Gemeinnützige Kulturfonds Frankfurt RheinMain GmbH und die Freunde der Tat des Städelschen Museums-Vereins e. V.

0-maschinenraum-der-goetter---liebig-skulpturenhaus-frankfurt-160--(c)-diether-von-goddenthowOrt: Liebieghaus Skulpturensammlung, Schaumainkai 71, 60596 Frankfurt am Main
Öffnungszeiten: Di, Mi 12.00–18.00 Uhr, Do 10.00–21.00 Uhr, Fr–So 10.00–18.00 Uhr, montags geschlossen

Information: www.liebieghaus.de
Besucherservice und Führungen: info@liebieghaus.de, buchungen@liebieghaus.de, Telefon: +49(0)69-605098-200, Fax: +49(0)69-605098-112
Eintritt: 12 Euro, ermäßigt 10 Euro, freier Eintritt für Kinder unter 12 Jahren, Tickets sind auch im Online-Shop unter shop.liebieghaus.de erhältlich.

Rundgang durch die Ausstellung
Von Ägyptern und Mesopotamien übernehmen die griechischen Dichter zahlreiche Anregungen, so auch die Darstellung fiktiver Hochtechnologie im Mythos. Schon im 7. oder 6. Jahrhundert v. Chr. berichtet der für seine Heldengedichte Ilias und Odyssee bekannte Homer von goldenen Robotern, die mit künstlicher Intelligenz ausgestattet sind und die Götter bedienen. Der grenzenlos produktive griechische Gott der Ingenieurskunst Hephaist und sein genialer Urenkel Daidalos sind Urheber einer Serie von Erfindungen: Antike Schriftquellen schildern die von ihnen entwickelten Raumschiffe, Fluggeräte, Androide, Roboter, Automata und High-Tech-Waffen.© Foto Diether von Goddenthow
Von Ägyptern und Mesopotamien übernehmen die griechischen Dichter zahlreiche Anregungen, so auch die Darstellung fiktiver Hochtechnologie im Mythos. Schon im 7. oder 6. Jahrhundert v. Chr. berichtet der für seine Heldengedichte Ilias und Odyssee bekannte Homer von goldenen Robotern, die mit künstlicher Intelligenz ausgestattet sind und die Götter bedienen. Der grenzenlos produktive griechische Gott der Ingenieurskunst Hephaist und sein genialer Urenkel Daidalos sind Urheber einer Serie von Erfindungen: Antike Schriftquellen schildern die von ihnen entwickelten Raumschiffe, Fluggeräte, Androide, Roboter, Automata und High-Tech-Waffen.© Foto Diether von Goddenthow

Die Ausstellung beginnt mit Ägypten und Mesopotanien. Man könnte aber auch vom Ende her,  in der Gegenwart beginnen, und quasi 5000 Jahre zurückwandern, erläutert Prof. Dr. Vinzenz Brinkmann. Es ginge ja darum, zu zeigen wie früh der Mensch bereits zu forschen begonnen und Wissen angehäuft habe, um die Welt zu verstehen.  Die Ausstellung erstreckt sich über die gesamte Sammlungspräsentation der Liebieghaus Skulpturensammlung und bietet beeindruckende Dialoge zwischen den Exponaten des Liebieghauses und Leihgaben aus internationalen Museumssammlungen. 

Der Rundgang umfasst eine Zeitspanne von mehr als fünf Jahrtausenden.
Das Wissen der europäischen Antike entstammt vor allem den Kulturen des vorderasiatischen und ägyptischen Raums. Die Griechen und Römer entwickelten es weiter, ließen verstärkt philosophische Gedanken einfließen. Da es kaum Grenzen, sondern lediglich Einflussgebiete gab, verbreiteten sich die wissenschaftlichen Erfahrungen innerhalb der Kulturräume und neues Wissen entstand. Diese Entwicklung endete in der Spätantike überall dort, wo die Naturwissenschaften aus religiösen Gründen unterdrückt wurden. Kriege und Kreuzzüge und der Einfluss der christlichen Kirche im westlichen Europa bedrohten das Wissen der Antike. Im arabisch-islamischen Kulturraum wiederum zeigt sich, dass die wissenschaftlichen Errungenschaften der antiken Naturwissenschaften und Philosophie gesammelt, übersetzt und fortentwickelt wurden. Im arabischen Raum waren vom 8. bis 15. Jahrhundert Bagdad, Kairo, Samarkand und Damaskus Wissenszentren mit bedeutenden Gelehrten und Universitäten. Erst zögerlich drangen diese Erkenntnisse in den europäischen Raum, um dann in der Renaissance einen großen Widerhall zu erfahren.

Ausstellungs-Impression: Maschinenraum der Götter. Wie unsere Zukunft erfunden wurde. Liebieghaus Skulpturensammlung. © Foto Diether von Goddenthow
Ausstellungs-Impression: Maschinenraum der Götter. Wie unsere Zukunft erfunden wurde. Liebieghaus Skulpturensammlung. © Foto Diether von Goddenthow

Bereits im 3. Jahrtausend v. Chr. wurden naturwissenschaftliche Forschungsprogramme mit beispielloser Energie vorangetrieben.

Eine auf den ersten Blick unscheinbare runde 4000 Jahre alte Keilschrifttafel erwies sich als Sensation. Denn auf ihr war bereits der Satz des Pythagoras, der zum Wissen der  Menschheit gehört, festgehalten. © Liebieghaus Skulpturensammlung
Eine auf den ersten Blick unscheinbare runde 4000 Jahre alte Keilschrifttafel erwies sich als Sensation. Denn auf ihr war bereits der Satz des Pythagoras, der zum Wissen der Menschheit gehört, festgehalten. © Liebieghaus Skulpturensammlung

Die Bauprojekte in Ägypten und im Nahen Osten (Mesopotamien) erforderten chemische Forschung, um der hohen Nachfrage nach veredelten Materialien gerecht zu werden, ebenso wie zuverlässige Vermessungstechniken für bautechnische Präzision. Für Letztere, aber auch für die Messung von Zeit und für die Voraussage der Zukunft war eine intensive Erforschung der Himmelsmechanik unabdingbar. Aus der Astronomie resultierten schließlich wesentliche Erkenntnisse zu Mathematik und Geometrie. Verdeutlicht wird dies in der Ausstellung etwa durch eine babylonische Schrifttafel mit dem Satz des Pythagoras, der schon vor 4000 Jahren zum Wissen der Menschen gehörte.

In der griechischen Mythologie findet sich auch die Darstellung fiktiver Hochtechnologie. Schon im 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. berichten Homer und andere Schriftsteller von goldenen Robotern, die mit künstlicher Intelligenz ausgestattet sind und die Götter bedienen. Antike Schriftquellen schildern die Erfindungen von Hephaist und Daidalos: Raumschiffe, Fluggeräte, Androide, Roboter, Automata und High-Tech-Waffen. Die Ausstellung präsentiert ein Wandgemälde mit Hephaist, der in seiner Schmiede in Gegenwart der Thetis die neuen Waffen für den griechischen Helden Achill fertigt (Pompeji, 1. Jh. n. Chr.), die Statue des griechischen mythologischen Königs Ixion, der wegen seiner Vergehen an ein radförmiges Raumschiff montiert wurde (römisch, erste Hälfte 2. Jh. n. Chr.), oder die Statue des Ikaros, Sohn des Daidalos, der mit den von seinem Vater konstruierten Flügeln der Sonne zu nah kam und ins Meer stürzte (römisch, 1. Jh. nach Chr.). Der griechische Titan Prometheus soll den Menschen sogar produziert haben: Er setzte einen technischen Bauplan um und kreierte eine Maschine.

Statue der Athena aus der Hand des Bronzebildhauers Myron (1. Jh. n. Chr.) © Foto Diether von Goddenthow
Statue der Athena aus der Hand des Bronzebildhauers Myron (1. Jh. n. Chr.) © Foto Diether von Goddenthow

Die berühmte römische Marmorkopie der Statue der Athena aus der Hand des Bronzebildhauers Myron (1. Jh. n. Chr.) ist ebenfalls in diesem Teil zu sehen. Sie steht wie keine andere Persönlichkeit in der griechischen Mythologie für Aufklärung, Forschung, Kunst und Technologie. Zudem bewahrt das Liebieghaus das einzige erhaltene großformatige Porträt des makedonischen Königs Alexanders des Großen (150–50 v. Chr.) auf. Es ist aus Alexandria, gefertigt aus ägyptischem Alabaster, und zeigt eine Persönlichkeit, die in ihrem Machtstreben allgemein von der Wissenschaft und im Besonderen von ihrem Lehrer Aristoteles profitierte. In diesem Geiste wurde bald nach dem Tod Alexanders des Großen die epochemachende Forschungsanstalt „Bibliothek von Alexandria“ gegründet.

Die ersten echten mechanischen Apparate wurden um 500 v. Chr. verwirklicht – mit einem Höhepunkt in den Jahren zwischen 300 v. Chr. und 100 n. Chr. Nur wenige dieser Funde sind erhalten. Antike Texte geben jedoch eine Vorstellung von den ursprünglichen Mechaniken. Philon von Byzanz (3. bis 2. Jh. v. Chr.) und Heron von Alexandria (1. Jh. n. Chr.?) liefern Bauanleitungen von Modellen für physikalische Experimente sowie für mechanische Wunderwerke, animierte Skulpturen und automatische Theaterbühnen, etwa das Figurenkarussell des Heron von Alexandria, welches bereits pneumatisch angetrieben worden war.

3D-Druck-Rekonstruktionen zweier Bronzestatuen der Rebhuhn jagenden-Kinder. 8 dieser immer wieder leicht unterschiedlichen Kinder-Jagdszenen waren einst im Karussell-"Kino" so angebracht, dass beim Drehen die Illusion bewegter "Jagd-Bilder" entstand. © Foto Diether von Goddenthow
3D-Druck-Rekonstruktionen zweier Bronzestatuen der Rebhuhn jagenden-Kinder. 8 dieser immer wieder leicht unterschiedlichen Kinder-Jagdszenen waren einst im Karussell-„Kino“ so angebracht, dass beim Drehen die Illusion bewegter „Jagd-Bilder“ entstand. © Foto Diether von Goddenthow

In enger Zusammenarbeit mit dem Metropolitan Museum of Art in New York ist das 3D-Modell zweier Bronzestatuen entstanden: Die zwei Kinder, die ein Rebhuhn jagen, waren vermutlich Teil eines kinematografischen Wunderrades. Darüber hinaus sind die spektakulären Ergebnisse der französischen Grabungen an der Domus Aurea (64 n. Chr.) durch das Team von Françoise Villedieu (CNRS Aix-en-Provence) im Frankfurter Liebieghaus zu sehen. In der extravaganten römischen Palastanlage des Nero befand sich ein großer und luxuriöser Bankettsaal, der durch einen wiederentdeckten gewaltigen Mechanismus wie eine Art Drehbühne unter einem künstlichen Sternenhimmel angetrieben wurde.

Für den antiken Menschen bestand die Welt aus der Erde, den Planeten und den Fixsternen.

Ausstellungs-Impression: Maschinenraum der Götter. Wie unsere Zukunft erfunden wurde. Liebieghaus Skulpturensammlung. Vorne rechts: Rekonstruktion von Archimedes Sphaira (Kugel), sein legendärer  „Planeten-Apparat“. © Foto Diether von Goddenthow
Ausstellungs-Impression: Maschinenraum der Götter. Wie unsere Zukunft erfunden wurde. Liebieghaus Skulpturensammlung. Vorne rechts: Rekonstruktion von Archimedes Sphaira (Kugel), sein legendärer „Planeten-Apparat“. © Foto Diether von Goddenthow

Man nahm an, dass die Planeten, einschließlich Sonne und Mond, aber auch die Gesamtheit der Fixsterne jeweils auf einer eigenen durchsichtigen Kugelschale befestigt wären und um die feststehende Erde kreisen würden (geozentrisches Weltbild). Die Ausstellung zeigt einen 2017 entstandenen experimentellen Nachbau einer sogenannten Sphaira des Universalgelehrten Archimedes von Syrakus (um 287 bis 212 v. Chr.). Angetrieben durch Gewichte oder Wasserkraft zeigte der Apparat zu jeder Zeit die – aus Sicht der Erde – korrekte Position der Planeten und Fixsterne.

Nachbau des ursprünglich wohl mit Wasserkraft angetriebenen Planeten-Apparats, einer Abbildung der Welt,  in der Form eines Modells, einer „Kugel“ (Sphaira). Er zeigte zu jeder Zeit die aus der Sicht der Erde korrekte Position der Planeten und Fixsterne an. © Foto Diether von Goddenthow
Nachbau des ursprünglich wohl mit Wasserkraft angetriebenen Planeten-Apparats, einer Abbildung der Welt, in der Form eines Modells, einer „Kugel“ (Sphaira). Er zeigte zu jeder Zeit die aus der Sicht der Erde korrekte Position der Planeten und Fixsterne an. © Foto Diether von Goddenthow

Die moderne Variante der antiken Sphaira ist die Armillarsphäre. In der europäischen Kunst taucht dieses kostbare astronomische Instrument häufig in Skulpturen auf, die Atlas als Träger des Himmelsgewölbes zeigen. Die Statue des Atlas (sog. Atlas Farnese) (römisch, 2. Jh. n. Chr. mit neuzeitlichen Ergänzungen) aus Marmor zeigt den Himmelsglobus mit 41 Sternbildern, darunter die 12 Tierkreiszeichen.

Die Entdeckung des sogenannten Mechanismus von Antikythera ist eine Sensation.

Digitale Rekonstruktion des Mechanismus von Antikythera   © Liebieghaus Skulpturensammlung /ony Freeth
Digitale Rekonstruktion des Mechanismus von Antikythera
© Liebieghaus Skulpturensammlung /ony Freeth

Vor 120 Jahren entdeckten Schwammtaucher mehrere oxidierte Bronzeklumpen in einem antiken griechischen Schiffswrack. In vielen Forschungsschritten wurde deutlich, dass es sich um das hochkomplexe Zahnradgetriebe eines astronomischen Instruments (3.–1. Jh. v. Chr.) handeln muss. Die Erforschung wurde in den letzten Monaten abgeschlossen und die Ergebnisse des Forschungsteams um den Mathematiker Tony Freeth werden nun aufwendig medial aufbereitet in der Ausstellung vorgestellt.

Blüte im arabisch-islamischen Kulturraum

Lange vor Beginn der europäischen Renaissance in Italien im 15. Jahrhundert erlebten die antike Philosophie und die antiken Wissenschaften eine Blüte im arabisch-islamischen Kulturraum.

Ausstellungs-Impression: Maschinenraum der Götter. Wie unsere Zukunft erfunden wurde. Liebieghaus Skulpturensammlung. Links: Rekonstruiertes Universalastrolabium von Aḥmad Ibn as-Sarrāǧ (1328–1329). Im Hintergrund: Modell der Sternwarte von Rey (alt-teheran) © Foto Diether von Goddenthow
Ausstellungs-Impression: Maschinenraum der Götter. Wie unsere Zukunft erfunden wurde. Liebieghaus Skulpturensammlung. Links: Rekonstruiertes Universalastrolabium von Aḥmad Ibn as-Sarrāǧ (1328–1329). Im Hintergrund: Modell der Sternwarte von Rey (alt-teheran) © Foto Diether von Goddenthow

In der Zeit zwischen dem 8. und 13. Jahrhundert, dem „Goldenen Zeitalter des Islam“, wurden die antiken Schriften übersetzt, um den Zugang zu Wissen zu ermöglichen. Wissenschaftler verschiedener Ethnien lehrten und forschten in Bagdad und an anderen Orten mit weitreichender Wirkung. Es entstanden Observatorien in Bagdad, Maragha, Rey (Teheran) und Samarkand, um die Mechanik der Himmelskörper über lange Zeiträume hinweg zu studieren und zu dokumentieren. In der Ausstellung sind Präzisionsmessgeräte, wie das Universalastrolabium von Aḥmad Ibn as-Sarrāǧ (1328–1329) zu sehen. Zudem können verschiedene Modelle von Wissenschaftseinrichtungen und Nachbauten wissenschaftlicher Instrumente gezeigt werden, die dank der Leistungen des Frankfurter Forschungsinstituts für Geschichte der Arabisch-Islamischen Wissenschaften unter der Leitung von Fuat Sezgin entstanden sind.

Elefantenuhr auf einer Zeichnung von Farrukh ibn ‘Abd al-Latif von 1315 © Foto Diether von Goddenthow
Elefantenuhr auf einer Zeichnung von Farrukh ibn ‘Abd al-Latif von 1315 © Foto Diether von Goddenthow

Der berühmte islamische Ingenieur al-Ǧazarī führte die Entwicklung von komplexen Modellen, Automaten und Uhrwerken aus den antiken Schriften fort. Er beschreibt in seinem Standardwerk „Buch des Wissens von sinnreichen mechanischen Vorrichtungen“, 1205, die Funktion zweier Zeitmesser – einer sogenannten Becheruhr und einer sogenannten Elefantenuhr. Letztere wird auf einer Zeichnung von Farrukh ibn ‘Abd al-Latif von 1315 dargestellt. Darüber hinaus leisteten die physikalischen Experimente in Bagdad und im arabischen Spanien den wissenschaftlichen Durchbruch zur Erforschung des Lichts: Abbas ibn Firnas (um 810–887), Alkindus (gest. um 873), Ibn Sahl (um 940–um 1000) und Alhazen (um 965–nach 1040) revolutionierten die optische Lehre und belegten den wahren Charakter des Lichtstrahls.

Die wissenschaftlichen und philosophischen Aktivitäten der Inder gingen jenen der Griechen voraus. Indische Gelehrte, allen voran Aryabhata (476–550 n. Chr.) und Brahmagupta (598–665 n. Chr.), schufen die Grundlagen für die moderne Astronomie und Mathematik. Aryabhata berechnete etwa das Verhältnis von Mondumlauf zu Erdrotation und verfolgte die Idee des heliozentrischen Weltbildes. Der indische Kulturraum grenzte an das alte China, das über die Seidenstraße mit dem Nahen Osten und dem Mittelmeerraum verbunden war. In China wurden komplexe Kunsttechnologien entwickelt wie die Produktion von Porzellan. Auch der Buchdruck mit beweglichen Lettern ist keine reine Entdeckung von Johannes Gutenberg (um 1400–um 1468), sondern geht auf den Chinesen Bi Sheng (972–1052) zurück. Er fertigte bewegliche Schriftzeichen aus Porzellan an.

Die Künste und Wissenschaften florierten in der europäischen Renaissance – auch maßgeblich durch die Förderung von Cosimo (1389–1464) und Lorenzo de’ Medici (1449–1492). In Florenz stellte Cosimo etwa, unterstützt von byzantinischen Gelehrten, eine Forschungsbibliothek zusammen. Er schloss damit an die Tradition an, die von der Bibliothek von Alexandria über die Schriftensammlungen in Byzanz und das Haus der Weisheit in Bagdad bis zu den Universitäten von Samarkand reicht.

Gestützt auf die Daten der islamischen Astronomen hatte sich Nikolaus Kopernikus (1473–1543) für das seit der Antike diskutierte Modell einer heliozentrischen Welt stark gemacht. Sein Ansatz, dass nicht die Erde, sondern vielmehr die Sonne im Zentrum der kreisenden Planenten steht, wurde durch die Entdeckung des Fernrohrs evident. So beobachtete Galileo Galilei (1564–1642) dank der Vergrößerungen, dass die Venus verschiedene Phasen der Ausleuchtung durch die Sonne durchläuft. Johannes Kepler (1571–1630) wiederum erkannte, dass die Bahnen der Planeten auf Ellipsen verlaufen. Isaac Newton (1643–1727) lieferte dafür später die Berechnungsgrundlage.

Die Ausstellung wirft auch einen Blick auf das Zeitalter der Aufklärung und präsentiert u. a. die Büste des Gelehrten Jean-Jaques Rousseau von Jean-Antoine Houdon aus dem Jahr 1780. Im 18. Jahrhundert wurde zudem der Grundstein für den späteren wirtschaftlichen Aufschwung gelegt. Automatisierte und programmierte Prozesse gewannen an Bedeutung in der Produktion. Zu sehen ist das Modell eines programmierbaren Webstuhls von Jacques des Vaucanson von 1746. Der automatisierte Webstuhl, der über Lochkarten programmiert werden konnte, trug entscheidend zur Entwicklung der Textilindustrie bei.
Am Beispiel der Skulptur des Liebieghauses Maria Immaculata von Matthias Steinl, 1688, wird deutlich, wie das Christentum in seinen Schriften Bilder der griechischen und römischen Antike nutzte und mit neuer Bedeutung auflud. Die christliche Mondsichelmadonna bezieht sich auf das antike griechische Kultbild der Artemis von Ephesos – eine Statue, die zahlreiche Himmelssymbole wie eine Mondsichel, die Sonne und Tierkreiszeichen besaß. Durch die Gleichsetzung mit Maria, die auf einer Mondsichel schwebt, wird aus der apokalyptischen Himmelsvision in der Bibel eine heilsbringende Erscheinung, die hundertfach in Holz geschnitzt verbreitet wurde.

Jeff Koons Apollo Kithara. Drei, eigens aus Los Angeles eingeflogene Techniker waren nötig, um der sich bewegenden Schlange  wieder Leben einzuhauchen. © Foto Diether von Goddenthow
Jeff Koons Apollo Kithara. Drei, eigens aus Los Angeles eingeflogene Techniker waren nötig, um der sich bewegenden Schlange wieder Leben einzuhauchen. © Foto Diether von Goddenthow

Den Abschluss des Rundgangs bildet das Werk Apollo Kithara (2019–2022) des Künstlers Jeff Koons. Es ist zugleich eine Wiederbelebung einer antiken Marmorstatue des musizierenden Apoll aus dem British Museum. Die Arbeit greift zum einen ganz bewusst einzelne Aspekte der Forschungsarbeiten der Liebieghaus Skulpturensammlung zur antiken Statuenpolychromie auf. Zum anderen bietet sie auch eine zeitgenössische Antwort auf die Sehnsucht der Antike und des arabisch-islamischen Kulturraums, der Skulptur durch roboterhafte Bewegung Leben einzuhauchen.

Maschinenraum der Götter. Wie unsere Zukunft erfunden wurde
Ausstellungsdauer: 8. März bis 10. September 2023

0-maschinenraum-der-goetter---liebig-skulpturenhaus-frankfurt-160--(c)-diether-von-goddenthowOrt: Liebieghaus Skulpturensammlung, Schaumainkai 71, 60596 Frankfurt am Main
Öffnungszeiten: Di, Mi 12.00–18.00 Uhr, Do 10.00–21.00 Uhr, Fr–So 10.00–18.00 Uhr, montags geschlossen
Information: www.liebieghaus.de
Besucherservice und Führungen: info@liebieghaus.de, buchungen@liebieghaus.de, Telefon: +49(0)69-605098-200, Fax: +49(0)69-605098-112
Eintritt: 12 Euro, ermäßigt 10 Euro, freier Eintritt für Kinder unter 12 Jahren, Tickets sind auch im Online-Shop unter shop.liebieghaus.de erhältlich.

Audioguide-App: Der Audioguide begleitet durch die lange Geschichte der Technik und Wissenschaft: Von der Antike bis ins Zeitalter der Industrialisierung lässt sich die tiefe Verbindung zwischen technischen Erfindungen und Kunst anhand herausragender Objekte erleben. Die App in deutscher Sprache beinhaltet Audiotracks und Abbildungen zu rund 20 Stationen und hat eine Dauer von etwa 60 Minuten. Die Tour ist ab Ende März als kostenlose App für die Betriebssysteme iOS und Android erhältlich und kann entweder bequem von zu Hause oder im Liebieghaus WiFi auf das Smartphone geladen werden. Vor Ort im Museum kann der Audioguide ab dem 8. März zu einem Preis von 5 Euro (8 Euro für zwei Audioguides) ausgeliehen werden.

Überblicksführungen: Spektakuläre naturwissenschaftliche Erkenntnisse, technische Errungenschaften und mythische Geschichten: Die Tour zur Ausstellung erlaubt jeweils freitags und samstags einen einzigartigen Blick auf die in der Antike zusammen gedachten Künste und Wissenschaften sowie ihren kulturgeschichtlichen Einfluss. Tickets (Eintritt und Führung) zum Preis von 15 Euro sind im Online-Shop unter shop.liebieghaus.de erhältlich.

Online-Tour: Die Online-Tour der Ausstellung widmet sich interaktiv den faszinieren Errungenschaften vielfältiger antiker Superhirne und dem spannenden Verhältnis von Kunst und Wissenschaft. Das ausgewählte Bildmaterial ermöglicht es, die zum Teil technisch aufwändigen Ausstellungsstücke in einer einzigartigen Nahsicht zu erleben. Jeweils mittwochs, 12.00 Uhr, Tickets zum Preis von 5 Euro sind im Online-Shop unter shop.liebieghaus.de erhältlich.