Kasseler Weltkunst-Schau Documenta fifteen öffnet am 18. Juni 2022 – Blick des globalen Südens auf Zeitgeschehen, Kunst, Kultur

Bei herrlichem Wetter starteten in einer fast ausgelassenen Stimmung die Preview-Tage der documenta fifteen im Kasseler Aue-Stadion für die internationale Presse und Fachbesucher. Eingerahmt war die Pressekonferenz mit mehren hundert Teilnehmern vom Jubel der zahlreichen Künstler der Weltkunstschau und des indonesischen künstlerischen documenta-Leitungskollektiv ruangrupa. © Foto Diether von Goddenthow
Bei herrlichem Wetter starteten in einer fast ausgelassenen Stimmung die Preview-Tage der documenta fifteen im Kasseler Aue-Stadion für die internationale Presse und Fachbesucher. Eingerahmt war die Pressekonferenz mit mehren hundert Teilnehmern vom Jubel der zahlreichen Künstler der Weltkunstschau und des indonesischen künstlerischen documenta-Leitungskollektiv ruangrupa. © Foto Diether von Goddenthow

Im Vorfeld der Kasseler Documenta-Eröffnung am Samstag mit Bundespräsident Frank Walter Steinmeier, begrüßten am Mittwoch Hessens Kunst- und Kulturministerin Angela Dorn, Documenta-Generaldirektorin Dr. Sabine Schormann und Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle gemeinsam mit dem indonesischen documenta-Leitungsteam „ruanrupa“  die internationale Presse und das Fachpublikum zu den Preview-Tagen der Weltkunstschau. Bei herrlichem Sonnenschein war die Stimmung unter den mehreren hundert Presseleuten, Fachbesuchern und anwesenden Künstlern im Aue-Stadion  fröhlich und gelassen: Denn aufgrund von Corona wusste praktisch bis vor ein paar Wochen noch niemand sicher, ob es die documenta fifteen in gewohnter Form überhaupt geben würde. Gleichwohl wurde eines der größten Events zeitgenössischer Kunst und Kultur seit Jahren vorbereitet. Der Etat insgesamt dürfte bei gut 42 Millionen Euro liegen

Herzstück der documenta fifteen ist auch wieder das Fridericianum, indem die sich die Künstler-Kollektive präsentieren, viele mit Werken. © Foto Diether von Goddenthow
Herzstück der documenta fifteen ist auch wieder das Fridericianum, indem  sich die Künstler-Kollektive präsentieren, viele mit Werken. © Foto Diether von Goddenthow

Die internationale Kunst- und Kultur-Schau steht ganz unter dem Zeichen des kollektiven Ressourcenfundus lumbung, dem Sinnbild des Teilens und Kommunizierens in einer indonesischen Reisscheune, und versammelt laut ruanrupa Zeit, Ideen, Arbeitskraft und Wissen. Mit diesem Ansatz soll die 15. Auflage der documenta insbesondere experimenteller Raum der Freiheit sein mit einem Blick aus dem globalen Süden auf Zeitgeschehen, Kunst und Kultur. Es soll gezeigt werden, dass die Dinge auch anders als nach dem Muster westlicher Herangehensweisen verstanden werden können.

Ab morgen,  18.Juni 2022, wird nun die Kasseler Welt-Kunstschau nach mehrjähriger Vorbereitungsphase und Corona-Hindernissen eröffnet.  Dann kann 100 Tage lang das umfangreiche Kultur-Experiment  an 32 Ausstellungsorten Kassels besichtigt werden. Ausgehend von den zentralen documenta-Orten, Fridericianum und documenta Halle am Friedrichplatz, präsentieren die Künstlerkollektive sich selbst und ihre Arbeiten in zahlreichen Kasseler Museen, an ungewöhnlichen Orten, auf Plätzen, in der Karlsaue und an Hausfassaden in allen Stadtteilen. Wer alles besichtigen und am Begleitprogramm teilnehmen möchte, sollte mindestens drei Tage, besser noch eine Woche  „Kultururlaub“ und auf alle Fälle gutes Schuhwerk einplanen.

Auf Wunsch begleiten „Kunstvermittler*innen“, sogenannte Sobat-sobat (Freundinnen), Interessierte bei den „Walks and Stories“ in Rundgängen durch die Ausstellungen. Räume, Geschichten und Arbeitsweisen von lumbung. Diese werden hierdurch gemeinsam erkundet und erlebt, wobei Freundschaft und Erzählungen hier im Mittelpunkt stehen.

Das ruruHaus, Obere Königsstraße 43, ist nun das Wellcome-Zentrum der documenta fifteen. Hier gibt es Infos, Tickets, Kaffee u. Bücher.   Das indonesische Wort "ruru" bedeutet Raum. Das ruruHaus, eine ehemalige Sportarena in der Innenstadt Kassels, ist Teil der kuratorischen Praxis von ruangrupa und stellt Räume für kollektive Praxis, Ideen, Austausch und Kollaborationen bereit. Darüber hinaus soll der Ort als zentral gelegenes Wohnzimmer der Stadt fungieren und zum kreativen Zusammensein und Verweilen (nongkrong) einladen. © Foto Diether von Goddenthow
Das ruruHaus, Obere Königsstraße 43, ist nun das Wellcome-Zentrum der documenta fifteen. Hier gibt es Infos, Tickets, Kaffee u. Bücher. Das indonesische Wort „ruru“ bedeutet Raum. Das ruruHaus, eine ehemalige Sportarena in der Innenstadt Kassels, ist Teil der kuratorischen Praxis von ruangrupa und stellt Räume für kollektive Praxis, Ideen, Austausch und Kollaborationen bereit. Darüber hinaus soll der Ort als zentral gelegenes Wohnzimmer der Stadt fungieren und zum kreativen Zusammensein und Verweilen (nongkrong) einladen. © Foto Diether von Goddenthow

„Wir sind gespannt auf diese 15. Ausgabe der Weltkunstausstellung, die seit ihrem Beginn den Anspruch hat, die Ausstellung der Kunst von heute und damit für morgen zu sein. Glücklicherweise erlaubt es die Corona-Pandemie derzeit, die documenta nahezu normal durchzuführen – unsere documenta, auf die wir als Land Hessen sehr stolz sind und die wir gemeinsam mit der Stadt und dem Bund tragen. Die Welt der Kunst blickt nach Kassel!“,  so Kunst- und Kulturministerin Angela Dorn. Die documenta stelle in Frage, wie wir die Welt sähen; sie hinterfrage immer wieder auch den Kunstbegriff als solchen, erläuterte Ministerin Dorn. An diese Tradition knüpfe ruangrupa, das Kuratorenkollektiv der documenta fifteen, nahtlos an: Sie und die von ihnen eingeladenen Künstlerinnen und Künstler begriffen Kunst als Prozess von Teilhabe, gesellschaftlichem Diskurs und gemeinschaftlichem Austausch von Ideen, Wissen und Können. Es gehe um das gemeinschaftliche Erarbeiten von Lebensformen, die Verteilungsgerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Dieser künstlerische Ansatz gäbe Impulse, „unsere Gesellschaft anders zu denken und auch zu gestalten.“, so Dorn.

In Workshops mit dem Künstlerkollektiv Taring Padi entstanden rund 800 Pappkunstwerke, die in gemeinsamer Kooperation unter Einbezug des Publikums auf dem Friedrich-Platz installiert werden. © Foto Diether von Goddenthow
In Workshops mit dem Künstlerkollektiv Taring Padi entstanden rund 800 Pappkunstwerke, die in gemeinsamer Kooperation unter Einbezug des Publikums auf dem Friedrich-Platz installiert werden. © Foto Diether von Goddenthow

Beim ruanrupa-Ansatz sei das Kunstwerk nicht das Ziel, „sondern die Kooperation selbst“, so Dr. Sabine Schormann. Der Name des künstlerischen Leitungskollektivs ruanrupa setze sich zusammen aus ruam = raum sowie rupa = Forderung, und bedeute frei übersetzt: „Kunstraum“ oder „Raumform“. Der Name sei insofern Programm, da ein physischer Raum gemeint sei, in dem Menschen zusammenarbeiteten und gemeinsam dabei mitwirkten, die Raumform zu erleben, so die  Generaldirektorin.
Entscheidend sei der Prozess, der nie abgeschlossen und stets ergebnisoffen sei, ein Prozess, der sich entwickele und bisweilen keine großen Ergebnisse, wohl aber vielfältige, reiche Geschichten und Narrative hervorbringe. Ein wesentliches Element sei dabei „nongkrong“, die indonesische Bezeichnung für das Zusammensein und Reden über Gott und die Welt, ohne direktes Ziel, durch das Verbundenheit, Nähe und Vertrauen entstehe“, erklärt Dr. Sabine Schormann das künstlerisch-kulturelle Konzept und ergänzt: „Und noch eine wichtige Ingredienz für die Entscheidung der Findungskommission: ruanrupa ist kritisch gegenüber den westlichen Idealen des Künstlers als Genie, den Gesetzen des Kunstmarktes und Institutionen allgemein. Insofern versprach die Wahl von ruanrupa ein Aufbrechen von Strukturen, und neue Impulse durch eine anders ausgerichtete künstlerische bzw. kuratorische Praxis.“

Thailändisches Künstlerkollektive Baan Noorg Collaborative Arts and Culture in der documenta-Halle. In der einem Tempel nachemfundenen Großinstallation gibt es sogar eine Skateboardrampe, die genutzt werden kann.  © Foto Diether von Goddenthow
Thailändisches Künstlerkollektive Baan Noorg Collaborative Arts and Culture in der documenta-Halle. In der einem Tempel nachemfundenen Großinstallation gibt es sogar eine Skateboardrampe, die genutzt werden kann. © Foto Diether von Goddenthow

Das ruanrupa Artistik Team habe 14 quer durch die Welt verteilte Lumbung-Member, die Lumbung-Artists, ins documenta-Boot geholt, die ihrerseits wiederum andere Künstler mitbrachten, vergleichbar mit einem Schneeball, wodurch „inzwischen mindestens 1500 Künstler an der documenta fifteen mit immer noch steigender Zahl beteiligt“ seien. „Viele von ihnen bringen die postkoloniale Perspektive des globalen Südens mit und verfolgen unter oft prekären Umständen ihre kollektive künstlerische Praxis, die in  Kunst und Leben nicht immer getrennt sind“.
Die Reise verlief nicht ohne Hindernisse: Das größte davon sei fast der gesamte Kennenlern- und Auswahl-Prozess gewesen, da dieser wegen der Corona-Pandemie digital bis in die Umsetzungsphase hinein mehr als zwei Jahre lang digital stattfand, erläuterte die Generaldirektorin.

Künstlerkollektiv Kali und Manus zur frage des Körpers im Fridericianum, 1 OG  © Foto Diether von Goddenthow
Künstlerkollektiv Kali und Manus zur frage des Körpers im Fridericianum, 1 OG © Foto Diether von Goddenthow

„Wir sind froh“, so Oberbürgermeister Christian Geselle, „dass wir die documenta überhaupt in dieser Form bestreiten können. Der Oberbürgermeister sprach von der Erleichterung, dass nun der Druck, der nicht nur dem Artist-Team, sondern den Organisatoren aller beteiligten Einrichtungen und städtischen Ämtern insgesamt, aber auch den Menschen generell  schwer auf der Seele gelegen habe, nunmehr der Freude über die Realisierung der documenta  gewichen sei. Das sei  wunderbar: „Wir freuen uns sehr darauf, die Welt zu Gast in Kassel zu haben.“

Geselle unterstrich nochmal, dass man bei dieser documenta einen neuen Weg gegangen sei, indem man eben nicht bereits etablierte Pfade wie in den vergangenen Ausstellungen geschah, beschritten habe, sondern indem man, den Vorschlag der Findungskommission aufgegriffen habe, nämlich dieses Mal Zeitgeschehen, Kunst und Kultur aus dem globalen Süden betrachten zu lassen.
Ruanrupa passe in die Zeit, da es Fragen stelle „nach Verteilung, nach Gemeinwohlorientierung, nach Bekämpfung von Klimawandel, und nach Fragen von Zukunft unserer Gesellschaft, eben nicht nur mit dem Blick eines Mitteleuropäers, eines Nordamerikaners, sondern mit dem Blick aus dem globalen Süden, und in der kompletten Vernetzung“, so Geselle und betont: Die Documenta lebt von Beginn an ihrer Geschichte von einer großen künstlerischen Freiheit. Das ist die DNA und Besonderheit unserer Documenta, dass die Freiheit der Kunst hier in Kassel anders als anderswo noch viel intensiver gelebt werden kann und dafür streiten wir, und dafür kämpfen wir.“

Zusatztipp: about: documenta

Übrigens lädt die neue Galerie Kassel zu einer sehr gelungenen documenta-Retrospektive über die Geschichte der documenta von ihrer Gründung durch Arnold Bode bis heute ein: about: documenta

(Diether von  Goddenthow /Rhein-Main.Eurokunst)

Die documenta fifteen in Kassel öffnet für das Publikum am Samstag, 18. Juni. Alle Informationen: https://documenta-fifteen.de/