„SOS-Brutalismus“ – Die hohe Ästhetik des Hässlichen – weltweit erste Überblicksschau zur „Sichtbetonbauweise“ – Deutsches Architekturmuseum Frankfurt

Foto: Diether v. Goddenthow
Foto: Diether v. Goddenthow

Im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt bietet sich zum ersten Mal die Gelegenheit, die „Brutalistische Architektur der 1950er bis 1970er Jahre“ in einem weltweiten Überblick zu betrachten. Der Begriff Brutalismus bezieht sich nicht auf das Wort »brutal«, sondern auf béton brut, den französischen Ausdruck für Sichtbeton.
Zu sehen sind im gesamten Foyer-Bereich des Architekturmuseums Bild- und Texttafeln sowie zahlreiche – mitunter ungewöhnlich große – Modell-Bauten aus Japan, Brasilien, dem ehemaligen Jugoslawien, Israel und Grossbritannien, wo der New Brutalism von Alison und Peter Smithson erfunden wurde. Die Ausstellung richtet sich nicht nur an Studenten und Fachleute, sondern zeigt dem interessierten Laien und Kunstinteressenten das breite Spektrum dieses fast in Vergessenheit geratenen, auch bisweilen heftig umstrittenen und abgelehnten Baustils. Brutalistische Architektur zelebriert das Rohe, die nackte Konstruktion – und ist enorm fotogen, wird mittlerweile sogar wieder bejubelt auf Facebook und Instagram. Aber viele sehen darin nur brutale Betonmonster. Doch selbst wer dieser „Nackbetonbauweise“ ablehnend gegenübersteht, wird überrascht sein über die hohe Ästhetik des Hässlichen. Diese expressiven Bauten entstanden in einer Zeit gesellschaftlichen Aufbruchs und der Experimente. Heute droht etlichen – dieser, häufig sicherlich weniger  unter künstlerischen als vielmehr unter ökonomischen und bauindustriellen Profit-Aspekten errichteten – Gebäuden der Abriss. Die Rettungskampagne #SOSBrutalism mit einer Datenbank zu über 1000 Bauten erweitert die Ausstellung ins Internet, Kooperationspartner sind das BauNetz und das Magazin uncube.

Was ist Brutalismus?

Gipsmodelle expressiver "Nackt-"Betonbauten aus aller Welt.  Foto: Diether v. Goddenthow
Gipsmodelle expressiver Sicht-Betonbauten aus aller Welt. Foto: Diether v. Goddenthow

Der Begriff Brutalismus hat – wie oben erwähnt – ursprünglich nichts mit dem Wort »brutal« zu tun, sondern stammt vom französischen Wort brut für »direkt, roh, herb«. Die britischen Architekten Alison Smithson und Peter Smithson haben das Wort Brutalismus im Jahr 1953 als erste in einem Zeitungsartikel erwähnt. Ihre Schule in Hunstanton, eingeweiht 1954, gilt als das erste brutalistische Gebäude. Es ist nicht »brutal«, sondern eher brut im ursprünglichen Sinne: Alle Bauelemente, bis hin zu den Waschbecken, werden ungeschönt zum Einsatz gebracht. In dieser Haltung erkannte der britische Kritiker Reyner Banham eine neue »Ethik« in der Architektur.
Der frühe Brutalismus der Schule in Hunstanton wurde schon bald von einer neuen Bedeutung des Wortes Brutalismus überlagert. Vorreiter war der Architekt Le Corbusier. Er experimentierte mit sehr groben, sichtbaren Betonoberflächen, dem béton brut. Angespornt davon entwickelten Architekten in aller Welt Gebäude aus Sichtbeton. Aus der »neuen Ethik« wurde eine Ästhetik, ein Stil, eine Modewelle. Natürlich wirkten viele dieser Bauten durchaus auch brutal.
Wer lebt heute schon gern in einem solchen – seelenkälte verströmenden – Trabantenstadtbau, wenn er nicht unbedingt muss?

Allein in Frankfurt traf es seit 2010 drei stadtbildprägende Bauwerke: Historisches Museum, Technisches Rathaus und AfE-Turm. Wie man allein an der jahrelangen hitzigen Diskussion um den Abriss des Technischen Rathauses zur Teilrekonstruktion der Frankfurter Altstadt sieht, hat die Auseinandersetzung mitunter fast glaubensähnliche Züge.
Um den Brutalismus neu bewerten zu können, wurde mit der Ausstellung „SOS-Brutalismus“ eine weltweite Bestandsaufnahme gestartet.

Vier besondere Aspekte des Brutalismus

Beton – Eine kleine Werkstoffkunde
„Es kommt drauf an, was man draus macht.“
(Werbespruch des deutschen Betonmarketings seit den 1970er Jahren, um vom Negativ-Image des Baustoffs wegzukommen.)

Zur Betonherstellung werden im Wesentlichen drei Zutaten benötigt: Wasser, Zement sowie ein Gemisch aus Steinen und Sand. Nach dem Anmischen wird der Beton in eine Schalung gegossen. Er umfließt den Bewehrungsstahl, mit dem er nach dem Aushärten eine Einheit bildet. Daher spricht man auch von Stahlbeton. Wird der Beton »vor Ort«, also auf der Baustelle gegossen, ist von Ortbeton die Rede. Im Gegensatz dazu stehen Betonfertigteile, die in einer Fabrik hergestellt und auf die Baustelle geliefert werden. Nicht jeder Beton ist grau und rau, denn je nach Rezeptur ergeben sich unterschiedliche Färbungen. Die Oberflächenstruktur des Betons wird entweder von der Schalung oder durch die nachträgliche Bearbeitung bestimmt. Zwei Arten von Oberflächen finden sich besonders häufig bei brutalistischen Bauten:
– Brettergeschalter Beton, bei dem die Schalung aus Holzbrettern ihre Anordnung und Maserung als
Abdruck hinterlässt
– Gestockter Beton, der nach dem Entfernen der Schalung per Hand bearbeitet wird

Beton-Kirchen
Im Gegensatz zu den negativen Reaktionen, die viele andere brutalistische Bauten zum Zeitpunkt ihrer Entstehung ausgelöst haben, stießen die Kirchenbauten jener Jahre häufig auf positive
Resonanz. Ihre Kargheit ist oft als Kommentar zu den Konsumwellen der Wiederaufbaujahre zu verstehen. Bisweilen stehen sie auch in Kontrast zu den wenig anspruchsvollen Siedlungsbauten ihrer Nachbarschaft.

Frau Brutalist
Der Anteil von Architektinnen in der Ausstellung entspricht der Situation im Architekturberuf jener Jahre: Nur drei von einhundertzwanzig Bauten im Katalog SOS Brutalismus wurden von selbstständig tätigen Architektinnen geplant, die aus Island, Pakistan und Polen stammen. In Büropartnerschaften arbeiteten Frauen in führenden Positionen überproportional stark in Osteuropa und in Israel. Die Ausstellung »Frau Architekt« im 1. OG des DAM vertieft das Thema anhand von 22 Biographien.

Kampagnen
Seit einigen Jahren formieren sich weltweit immer häufiger Kampagnen, die sich für den Erhalt brutalistischer Bauten einsetzen. Viele Kampagnen nutzen Twitter, Facebook oder Instagram. Daher hat das DAM den Hashtag #SOSBrutalism eingeführt. Er dient als Erkennungszeichen, das aufgegriffen und weiterverbreitet werden kann, wann immer es darum geht, für den Erhalt brutalistischer Architektur zu kämpfen.
Während der Ausstellung läuft eine weitere Social-Media-Aktion: Die Besucher sind eingeladen Fotos von brutalistischen Funden in Frankfurt mit den Hashtags #Betonperle und #FFM zu markieren: Die besten Funde werden in der Ausstellung gezeigt. Den Anfang machen Fotos von Gregor Schwind, der auf Instagram als Gregor Zoyzoyla aktiv ist.

INTERNATIONALE BESTANDSAUFNAHME: 12 REGIONEN

Ausstellungs-Impression: SOS-Brutalismus. Foto: Diether v. Goddenthow
Ausstellungs-Impression: SOS-Brutalismus. Foto: Diether v. Goddenthow

Nordamerika
Die Architekten der 1950er Jahre würden »zu viele Goldfischgläser und zu wenige Höhlen« bauen, beklagte sich der Architekt Paul Rudolph im Jahr 1954. Seine Architekturfakultät in Yale ist das betonhöhlenhafte Gegenmodell zur gläsernen Welt der anonymen Bürobauten. Der USamerikanische Brutalismus war vielen suspekt: Zu monumental, befand Reyner Banham. Die Studentenproteste der 1960er Jahre richteten sich nicht zuletzt gegen die in Beton gegossenen Strukturen der Hochschulen und der Gesellschaft insgesamt.

Lateinamerika
Das rasante Wachstum der Wirtschaft, der Städte und der Bevölkerung löste in Lateinamerika in den 1950er und 1960er Jahren einen Bauboom aus. Mit groben Betonoberflächen die Spuren der ungelernten Arbeiter zu zeigen wurde oft als politische Aussage verstanden. Rau gearbeitete Betonschalungen aus Holz standen bei vielen Bauten in auffälligem Kontrast zu gewagten, statisch anspruchsvollen Tragkonstruktionen.

Afrika
In den meisten Ländern Afrikas endete die Kolonialherrschaft in den 1950er und 1960er Jahren.
Vielerorts entstand eine symbolträchtige »Architektur der Unabhängigkeit« für wichtige staatliche Bauten. Je nach politischem System waren das Universitäten, Parlamente, Markthallen oder auch Luxushotels. Die Architekten kamen oft noch aus den ehemaligen Kolonialmächten, nur selten stammten sie aus den jeweiligen Ländern. Eine wichtige Rolle spielten aber auch Israel, die nordeuropäischen Länder ohne Kolonialvergangenheit und die neuen, kommunistischen Bündnispartner.

Südasien und Südostasien
Indien wurde im Jahr 1947 unabhängig. Le Corbusier erhielt den Auftrag, die Stadt Chandigarh zu planen. »[E]s ist ein Schlag auf den Kopf, es bringt einen zum Denken«, so verteidigte der erste Premierminister Jawaharlal Nehru die experimentellen Betonbauten. Die junge Generation von Le Corbusiers indischen Mitarbeitern entwickelte eigene, selbstbewusste Bauten, unter anderem für ein revolutionäres Milchprogramm mit zahlreichen neuen Molkereien. Die Neue Khmer-Architektur in Kambodscha war ein weiteres Zentrum für Experimente.

Ostasien
China ist eines der wenigen Länder, in denen der Brutalismus nie angekommen ist. Versuche einer skulpturalen Betonarchitektur hatten während der anti-individualistischen Kulturrevolution keine Chance. In Japan hingegen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die Betonarchitektur mit traditionellen Handwerkstechniken verschmolzen. Holzbalken wurden dabei zu Betonträgern. In Südkorea und Taiwan fand dies kaum Verbreitung, weil aufgrund der Kriegserfahrungen starke antijapanische Tendenzen die Architektur beherrschten.

Russland, Zentralasien und Kaukasus
Der Tod Josef Stalins im Jahr 1953 brachte für die Architektur einen Kurswechsel: Unter seinem Nachfolger Nikita Chruschtschow entstanden einerseits die industriellen Plattenbau-Programme, aber in den vom Moskauer Einfluss weit entfernten Sowjetrepubliken zugleich immer mehr Freiräume für Experimente. Futuristische Formen wurden mit traditionellen Elementen verbunden.
Doch auch in Moskau wurden individuelle, gewagte Konstruktionen möglich.

Osteuropa
Ganz gleich, mit wie viel Nachdruck Ost und West ihre politischen Unterschiede kultivierten: In der Architektur gab es bemerkenswerte Ähnlichkeiten. Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs entstanden skulpturale, monumentale Großbauten. Das blockfreie Jugoslawien bot besonders viele Experimente, um die regionalen Identitäten des Vielvölkerstaats zu stärken.

Le Corbusier: Unitré d`Habitation. Marsaille, Frankreich, 1947 - 1952.
Le Corbusier: Unitré d`Habitation. Marsaille, Frankreich, 1947 – 1952.

Westeuropa
Die Unité in Marseille und das Kloster La Tourette, beides Werke von Le Corbusier, wurden bereits, als sie noch im Bau waren, als Wendepunkte der Architektur erkannt: So grob wurde der Beton nie zuvor zelebriert, was kurz darauf sogar die Innenraumgestaltung beeinflusste. Auf den CIAMKongressen trat eine junge Architektengeneration auf und versuchte mit neuen Gemeinschaftsentwürfen den allzu technischen Funktionalismus zu überwinden.

Naher und Mittlerer Osten
Ölreichtum, strategische Lage (Herrschaft über den Suezkanal) und die Konflikte nach der Gründung Israels sorgen ab 1945 für viele Krisen in der Region. Die Architektur spielte für viele Staaten in dieser Zeit eine stabilisierende Rolle. Scheinbar unzerstörbare Betonbauten, errichtet von einheimischen Architekten, standen für neues Selbstbewusstsein. In Israel verwendeten junge Architekten den Brutalismus zur Abgrenzung von der weißen Bauhaus-Moderne der Einwanderergeneration.

Großbritannien
War der New Brutalism der Protest gegen den zu harmlosen Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg, also ein »Zurück« zur radikalen Moderne? Oder sollte die Gängelung der Architekten durch Vorschriften, Vorfertigung und kostengünstige Standardlösungen abgewehrt werden? Nahmen die Brutalisten also eine Künstlerpose ein? Viele Bauten Großbritanniens sind höchst individuelle Monster, stets auf einem handwerklich hohen Niveau der Ausführung.

Australien und Ozeanien
In den ehemaligen Kolonien Neuseeland und Australien war wenigstens ein Semester in Großbritannien für alle Architekturstudenten unverzichtbar. Auf diesem Weg gelangten der Brutalismus und die Organisationsform großer, staatlicher Architekturbüros in die Region. Mit steilen Dächern und Betonlamellen wurden die Bauten an die extremen Klimabedingungen angepasst. Eine Besonderheit in der Region war die enge Zusammenarbeit mit Landschaftsarchitekten.

Deutschland
Der Begriff Brutalismus wurde zwar in Großbritannien geprägt, aber das Buch Brutalismus in der Architektur (1966) des Theoretikers Reyner Banham entstand auf Initiative des Stuttgarter Architekturprofessors Jürgen Joedicke im renommierten Karl Krämer-Verlag. Darin findet sich zwar nur ein Projekt aus Deutschland: das Privathaus von Oswald Mathias Ungers, dem Architekten des DAM. Aber auch in Deutschland entstanden unzählige brutalistische Bauten, in den 1970er Jahren sogar als Pop-Brutalismus, etwa beim Postamt Marburg.

Webseite / Hashtag
www.sosbrutalism.org / #SOSBrutalism
#SOSBrutalism wird unterstützt von uncube und BauNetz

Begleitkatalog:

SOS Brutalismus
Eine internationale Bestandsaufnahme
Hrsg.: Oliver Elser, Philip Kurz, Peter Cachola Schmal
Park Books, Zürich
Text: Deutsch
Gebunden mit broschiertem Beiheft, insgesamt 716 Seiten,
686 farbige und 411 sw Abbildungen, 22 x 27 cm
ISBN 978-3-03860-074-9
Im Museumsshop erhältlich für 59 EUR,
im Buchhandel erhältlich für 68 EUR.
Eine separate englischsprachige Ausgabe erscheint
zeitgleich unter dem Titel SOS Brutalism: A Global
Survey (ISBN 978-3-03860-075-6).

Ort:
DEUTSCHES ARCHITEKTURMUSEUM
Schaumainkai 43
60596 Frankfurt am Main
Tel 069-212 38844
Fax 069-212 37721
E-Mail info.dam@stadt-frankfurt.de
www.dam-online.de