„Europäische Identität“ und „Asyl für die utopische Gesellschaft“ während der Wiesbadener Biennale 2016

Einer imaginären Gesellschaft, die niemals kommen darf, sollte man wenigstens mal Asyl gewähren, daher der eines Biennale-Projektes "Asyl des müden Europäers", so Kuratorin Maria Magdalena Ludewig auf der Pressekonferenz  © massow-picture
Einer imaginierten Gesellschaft, die niemals kommen darf,  weil sie ja ansonsten nicht mehr utopisch, sondern real wäre, sollte man wenigstens temporär  Asyl gewähren. Hieraus entwickelte sich das Motto der erstmalig auf der Biennale Wiesbaden  geplanten Eigenproduktionen : „Asyl des müden Europäers“, © massow-picture

Wiesbaden Biennale 25. August bis 4. September 2016: This is not Europe

Am Hessischen Staatstheater Wiesbaden stellten die Kuratoren Maria Magdalena Ludewig und Martin Hammer die neue Konzeption der Wiesbaden Biennale 2016 unter dem Titel »This is not Europe« vor, die vom 25. August bis zum 4. September 2016 stattfinden wird.

Anknüpfend an das traditionsreiche Festival »Neue Stücke aus Europa« steht die Frage nach einer europäischen Identität als komplexe gesellschaftliche Erzählung im Zentrum ihrer Neukonzeption. Unter dem Titel »This is not Europe« versammelt die Wiesbaden Biennale 2016 die Widersprüche der neuen Identitätserzählungen, die die massiven Erschütterungen des europäischen Selbstverständnisses hervorbringen. „Wer wollen wir sein, was macht uns aus?  Wer gehört zu uns?“ Wenn wir fragten, was denn eigentlich „unsere Identität“ sei, wer wir wären, stellten wir fest, dass „wir Identität als eine Erzählung aus unserer Biographie begreifen“, steigt Martin Hammer während der Pressekonferenz ins weite Feld „Identitätsfindung“ ein und macht den gespannten Hörer klar, dass diese Erzählungen über uns selbst immer wieder variiere, nämlich „je nachdem, wem man gegenüberstünde, wann und in welchem Zusammenhang man Persönliches erzähle“. Das bedeutete, dass Antworten auf die Frage, wer man sei, immer wieder anders ausfielen, und gleichzeitig seien aber alle Erzählungen irgendwie wahr, so Hammer weiter. Identität sei daher „etwas Flüchtiges, was jeweils neu konstruiert wird“. Und was wir für eine Biographie beschrieben, gelte natürlich auch – größer gedacht – für die Fragen „was denn eine europäische Identität“ sei: „Was ist denn eine europäische Identität?. Wer, welcher Autor, erzählt denn diese Geschichte, und wie setzt sich diese Geschichte zusammen? Welche Erzählungen werden  mitunter bewusst unterdrückt oder an den Rand gedrängt und sollen in dieser Identitätserzählung von Europa nicht vorkommen?“

Diese inhaltlichen Fragestellungen werden, so die Kuratoren, die Auswahl des Gastspielprogramms der Wiesbaden Biennale 2016 prägen. Wie bisher werden  10 internationale Produktionen zu sehen sein, in denen die Künstlerinnen und Künstler den Herausforderungen unserer Zeit mit unterschiedlichen Praktiken von Autorenschaft und Performance begegnen. Als Autoren ihrer Werke, international vernetzt arbeitend, schaffen sie transnationale Identitätserzählungen, in denen die Konflikte Europas erfahrbar werden.

„Asyl des müden Europäers“

„Aber vor allem wird es erstmals in der Geschichte des Festivals Neuproduktionen geben“, so Maria Magdalena Ludewig. Diese Neu-Produktion ist das Projekt, was wir im Moment unter „Asyl des müden Europäers“ verstehen. „Was ist das ‚Asyl des müden Europäers’?“, stellt Ludewig die Frage an die Runde, und beantwortet sie sogleich selbst: „Das fragen wir uns auch die ganze Zeit, zugegebenermaßen!“ Die Antwort ändere sich auch andauernd. Wenn man an die rechte Wandseite  schaue (siehe Foto oben), sehe man, dass der Slogan auch mal anders, nämlich „Asyl der kommenden Gemeinschaft“ hieß. Diese Motto wurde dann immer wieder ein bisschen umgedichtet, weil wir uns gefragt haben, „wie kann man eigentlich jenseits von dieser Alternativlosigkeit und diesem rein zweckorientierten Pragmatismus, wo uns die ganze Zeit gesagt wird ‚Wir müssen jetzt handeln!, Wir müssen das jetzt entscheiden, Wir haben jetzt keine Zeit für neue Ideen, neue Kultur usw.‘ wie kann man diesem festgefahrenen Denken eigentlich begegnen, und vielleicht doch einen Gegenentwurf wagen?“ Es müsse doch irgendwie möglich sein! Dann sind wir auf Herrn Agamben gestoßen und haben sein Buch über ‚Die kommende Gemeinschaft‘ gelesen“, so die Kuratorin.

„Die kommende Gemeinschaft“ bei Giorgio Agamben sei eigentlich relativ einfach beschrieben: „Es ist eine Gemeinschaft, die immer als die kommende imaginiert wird, die aber auf gar keinen Fall kommen darf. Denn wenn sie kommen würde, könnte man sie nicht mehr imaginieren, weil sie ja dann da wäre.“ Das wäre eigentlich recht komisch und beschreibe schon einen Widerspruch in sich. Aber eine Utopie sei nicht dazu da, dass sie Wirklichkeit werde, sondern sie sei dazu da, dass sie einem eine Handlungsmöglichkeit oder eine Handlungsrichtung in der Gegenwart gebe, so Ludewig. „Und wir haben uns gefragt: ‚Wie könnten wir das nutzen, wie könnten wir sozusagen einen Entwurf machen?‘ Die führte zu der Idee zu sagen: ‚Naja, wenn die kommende Gemeinschaft nie kommen darf, dann kann sie doch wenigstens mal temporär Asyl erhalten.‘ Das ist der eigentliche Überlegungsweg, der hinter dem Begriff ‚Asyl‘ steht, lange bevor die ganze Asyl-Debatte losging und sich zuspitzte, so Ludewig und weiter:.“Asyl ist erstmal etwas ganz Tolles, ein Zufluchtsort, ein Übergangsort, ein Transit-Ort. Das ist der einzige Ort des Neubeginns. Das ist ja eben ein gute Ort, an dem man Asyl findet.“, so Ludewig.

Die sechs Neu-Produktionen

Sechs Neuproduktionen werden derzeit vor Ort entwickelt, mit den international bekannten Residenzkünstlern Rabih Mroué, Dries Verhoeven, Thomas Bellinck, Tiago Rodrigues, Georgia Sagri, Ingo Niermann, Margarita Tsomou, Arkadi Zaides u. a. sowie weiteren. Die Idee ist, dass die Produktionen nicht im Theaterbau stattfinden, sondern in die Stadt hineingetragen werden und an vielen Orten „Asyl“ erhalten sollen, etwa im Alten Gericht, in der Anglikanischen Kirche, im Museum. im Theaterladen als Gemeinschaftszentrum usw. Der Name Asyl habe sich schon eingebürgert als Keimzelle für etwas, was später mal größer werden soll, und sich hier über die Stadt wie so ein Netzwerk von verschiedenen Orten spannen möge, erläuterten die Kuratoren.

Sich öffnen für die Stadtgesellschaft

„Wir wollen gleichzeitig aber auch versuchen,“ so Ludewig, „hier eine wirkliche Gemeinschaft mit unserem Publikum, mit unseren Künstlern um dieses 10 Tage-Festival zu leben.“ Es ginge nicht nur darum, künstlerische Projekte in die Stadt hinaus zu tragen, sondern auch um die Frage, inwiefern nicht schon das Festivalpublikum, die Künstler und alle, die hierbei „ineinander laufen, einander begegneten“ schon so etwas wie eine utopische Gemeinschaft seien, gemeinsam die Kunst wahrzunehmen. Und ihnen soll auch der Theaterladen (zwischen Kolonnaden und ehemaligem Café Wagner) Asyl (Begegnungsort) sein.

Utopia institutionell gedacht

Was braucht man für eine kommende Gemeinschaft? Jede Gemeinschaft besteht aus Institutionen. „Und wenn man Institutionen neu denkt, kann man auch eine Gemeinschaft neu denken, führt Maria Magdalena Ludewig in die Grundüberlegungen der Produktionsplanungen ein: „Das heißt: wir haben uns mit Künstlern zusammengesetzt und überlegt. wie  wir die Institutionen einer kommenden Gemeinschaft zusammen gründen können? Wie kann ein Künstler eine Institution, einen neuen Raum, einen neuen Rahmen und eine Idee davon entwickeln?“ Ganz unterschiedliche Projekte seien dabei herausgekommen, einige, die es schon mal gegen hat, andere Projekte, die absolut neu entwickelt werden,“bei denen wir noch gar nicht wissen, wo das Fertige hingeht“. Aber es ist ja auch noch ein wenig Zeit bis Ende August nächsten Jahres.

Dem Sterben imaginärer Werte, Gedanken, Geschichte etc. einen würdigen Rahmen verleihen
Dries Verhoeven (Niederlande), geboren 1976, arbeitet gemeinsam mit dem Autor Julian Pörksen (Deutschland), geboren 1985. Er wird sich ums imaginäres Abschiednehmen von Vorteilen, Werten usw. kümmern. Dazu entwickeln Dries und Pörksen zehn groß angelegte, sogenannte Beerdigungszeremonien, die täglich während des Theaterfestivals in der anglikanischen Kirche St. Augustine stattfinden werden. Welche „Werte“ beerdigt werden, steht noch nicht fest: Ist es beispielsweise an der Zeit, „uns von der ‚multikulturellen Gesellschaft‘ zu verabschieden? oder vom ‚Wohlfahrtsstaat‘ oder von der Idee des ‚Europäischen Gedanken’? Verhoeven orientiert sich mit großer Ernsthaftigkeit an christlichen Ritualen und schafft es, ganz unironisch den Blick auf »sterbende« Konzepte unserer Zeit zu lenken. 10 Tage lang wird es  mehrmals täglich zu einem thematischen Schwerpunkt  Beerdigungen geben! Verhoeven arbeitet als Performer, Theatermacher und Bildender Künstler. Seine groß angelegten Installationen, Performances und Happenings werden auf den wichtigsten europäischen Festivals gezeigt und fordern in ihrer radikalen Zuspitzung dazu heraus, den eigenen Standpunkt in Prozess der kollektiv produzierten Narration unserer Gesellschaft zu hinterfragen.

Das fiktive Museum »Domo de Eŭropa Historio en Ekzilo«.als Parodie im Alten Gericht Wiesbaden
Spannend verspricht auch Thomas Bellinck fiktives Museum als „Parodie auf das europäische Haus der Geschichte“ in Brüssel zu werden. Der Belgier wurde 1983 geboren und ist einer der bemerkenswertesten jungen Regisseure und Künstler Belgiens. Seine Arbeiten fallen durch sehr präzise Analysen der Wirklichkeit auf, die er in unterschiedlichste künstlerische Formate umsetzt. Im Rahmen des »Asyls des müden Europäers« entwirft Bellinck im »Alten Gericht« in Wiesbaden ein fiktives Museum: das »Domo de Eŭropa Historio en Ekzilo«. Aus dem Jahr 2021 blickt es auf den Zusammenbruch Europas zurück. Mit großer Liebe zum Detail entwirft Bellinck die Erzählung vom Untergang einer politischen Idee. »Dome de Eŭropa Historio en Ekzilo« entstand ursprünglich am KVS in Brüssel und wurde bei den Wiener Festwochen 2014 gezeigt. In Kooperation mit dem Onassis Centre wird eine Neuerarbeitung entwickelt, die 2016 in Athen und Wiesbaden gezeigt werden wird.

Grandhotel im prunkvollen Foyer des Theaters

© massow-picture
Theater-Foyer © massow-picture

Besonders originell und auf viel Interesse dürfte das im prunkvollen Theater-Foyer improvisierte Grandhotel stoßen.
Wiesbadenerinnen und Wiesbadener sowie ihre Gäste sind eingeladen, die Stadt und ihre Gemeinschaft durch den Blick der Künstlerinnen und Künstler neu zu entdecken: als Übernachtungsgäste im temporären Grandhotel im Foyer des Theaters als aktiv Beteiligte an einem der Projekte oder als Zuschauerinnen und Zuschauer der zahlreichen Veranstaltungen an besonderen Orten in der Stadt.
Ab 1. Dezember 2015 können Interessenten das Goldene Wellness-Ticket für 80 Euro und das Goldene Wellness Ticket de lux für 100 Euro zur Übernachtung im Foyer-Grandhotel an der Kasse des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden erwerben. Darin enthalten sind neben Tickets für vier Gastspiele ein Gemeinschafts-Frühstück, jeweils ein Bettgestell mit Matratze und Bettzeug (Feldbetten seien angesichts der gegenwärtigen Flüchtlingsdramatik unangemessen). Delux-Bucher genießen zudem mehr Privatsphäre durch zusätzliche Sichtschutzwänden.

Zwei Formate im Campus
Darüber hinaus wird es im Rahmen der Wiesbaden Biennale wieder einen Campus mit internationalen Studierenden und mit der »Academy of Translations« eine interkulturelle Plattform für Übersetzung und Sprache geben.

Tickets

Karten sind ab den o. g. Zeitpunkten an der Theaterkasse, telefonisch unter 0611. 132 325 oder auf www.staatstheater-wiesbaden.de sowie weitere Informationen auf www.wiesbaden-biennale.de erhältlich