Der Mensch ist des Menschen Wolf – Grandiose Premiere der Antikriegs-Oper „Die Soldaten“ zum Auftakt der Maifestspiele 2016 in Wiesbaden

Ensemble, Statisterie. Szene aus "Die Soldaten" von Bernd Alois Zimmermann. Musikalische Leitung: Zsolt Hama, Inzsenierung: Vasily Barkhatov, Bühne: Zinovy Margolin, Kostüm: Olga Shaishmelashvili. Video: Gerard Naziri. Licht: Andreas Frank. Dramaturgie: Regine Palmai. Foto Karl Monika Forster © Hessisches Staatstheater Wiesbaden
Ensemble, Statisterie. Szene aus „Die Soldaten“ von Bernd Alois Zimmermann. Musikalische Leitung: Zsolt Hama, Inzsenierung: Vasily Barkhatov, Bühne: Zinovy Margolin, Kostüm: Olga Shaishmelashvili. Video: Gerard Naziri. Licht: Andreas Frank. Dramaturgie: Regine Palmai. Foto Karl Monika Forster © Hessisches Staatstheater Wiesbaden

„Das war die anstrengendste Oper meines Lebens!“, so eine Stimme aus der Menge der noch etwas benommen wirkenden Premierengäste der grandios und mächtig von Ingo Kerkhof inszenierten Oper „Die Soldaten“ von Bernd Alois Zimmermann. Diese wurde gestern Abend zum Auftakt der Mai-Festspiele 2016 erstmals im Großen Haus des Hessischen Staatstheater in Wiesbaden aufgeführt. Die Musikalische Leitung hatte Zsolt Hama.
Das Parkett wurde zur zentralen Bühne des wuchtigen, einst als unaufführbar eingestuften Zwölfton-Musik-„Spektakels“ nach Jakob Michael Reinhold Lenz (1751 – 1792) gleichnamigen Schauspiel. Für die meisten Zuschauer bedeutete das von vornherein Ausnahmezustand: Die Inhaber von Karten im Parkett erhielten nur Einlass über den relativ dunklen Bühnen-Hintereingang mit „Not-„Garderobe – fast Bunker-Atmosphäre schon im Vorfeld!  Dort wurden die Premierengäste auf die zum Zuschauerraum umfunktionierte Bühne gebeten mit Behelfs-Bestuhlung, aber einzigartiger neuer Perspektive ins Theater.  Zwei Stunden lang, ohne Pause, spielte das großartige Ensemble mit enormer Statisterie perfekt die mitunter absurd bis surreal wirkende expressionistische Antikriegs-Oper. In vier Akten mit Film-Einblendungen auf Leinwänden, pantomimischen Spiel und Tanz  gelang es allen Schauspielern, ganz voran den hochkarätigen Sängerinnen und Sängern,  das Publikum durch viele Abgründe des menschlichen Seins vor dem Hintergrund unaufhörlicher kriegerischer psychischer und physischer Zerstörungen von Seelen und Leben mitzunehmen.

Auf dem Bild: Glora Rehm, die die Hauptrolle, Marie, sing. Szene aus "Die Soldaten" von Bernd Alois Zimmermann. Musikalische Leitung: Zsolt Hama, Inzsenierung: Vasily Barkhatov, Bühne: Zinovy Margolin, Kostüm: Olga Shaishmelashvili. Video: Gerard Naziri. Licht: Andreas Frank. Dramaturgie: Regine Palmai. Foto Karl Monika Forster © Hessisches Staatstheater Wiesbaden
Auf dem Bild: Glora Rehm, die die Hauptrolle, Marie, sing. Szene aus „Die Soldaten“ von Bernd Alois Zimmermann. Musikalische Leitung: Zsolt Hama, Inzsenierung: Vasily Barkhatov, Bühne: Zinovy Margolin, Kostüm: Olga Shaishmelashvili. Video: Gerard Naziri. Licht: Andreas Frank. Dramaturgie: Regine Palmai. Foto Karl Monika Forster © Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Vordergründig wirkt die Handlung völlig antiquiert: Die eigentliche Story spielt im feudalen Russland des 18. Jahrhunderts, verlegt nach Lille und Armentières in Belgien,  und  bühnenbildnerisch in ein „Zweite Weltkrieg“-Szenario verwamdelt. Vor dieser Kriegsmetapher in der Fremde  stationierter, sich im permanenten Ausnahmezustand zwischen Krieg und Feiern befindlicher  Soldaten, handelt das Stück von der Verführung eines naiven jungen Mädchens, Marie,  durch den adligen Offizier, Baron Desportes, obgleich Marie einem anderen, Stolzius, versprochen war.  Marie gefallen die Schmeicheleien des „Herrn Baron“ und die hiermit geglaubten potentiellen Chancen ihres gesellschaftlichen Aufstiegs, Sie verfällt ihm. Als Deportes standesbewusste Mutter, Gräfin de la Roche, von der Liebschaft ihres einzigen Sohnes zu Marie erfährt, torpediert  sie jedoch die Liaison der beiden, indem sie ihren Filius aus der Stadt schickt und ihm verspricht, sich um Marie zu kümmern. Diese lehnt jedoch eine ihr von der Gräfin angebotene Anstellung zur „Gesellschafterin“ als Entschädigung  für die verbotene Liebe ab, Fortgelaufen von der Gräfin und aus dem eigenen Elternhaus, entledigt sich Baron Desportes ihr obendrein, indem er  Marie seinem Jäger preisgibt. Und so nimmt das Übel  seinen weiteren Lauf und endet in einer Katastrophe: Stolzius vergiftet schließlich Baron Deportes, der ihm Marie ausgespannt hat, und sich selbst. Der gute Ruf des Mädchens ist für immer ruiniert, sie landet unweigerlich in der Gosse und bettelt einen Mann an, der sie für eine Hure hält und  zurückweist: „Ihr lüderliche Seele“. So abgestürzt und von der Not gezeichnet, erkennen nicht mal Vater und Tochter  einander. Marie ist als Mensch zerstört.

Die Zerstörung des Menschen, seiner Träume und seines Lebens wird in „Die Soldaten“  gleich auf mehreren Ebenen, der militärischen, gesellschaftlichen und persönlichen,  dargestellt: Verursacher menschlicher Zerstörung sind nicht  allein    „roboterhaft aggressiv agierende Militärs“. Ebenso  brutal vermögen auch gesellschaftliche Konventionen, illusionäre Erwartungen und persönlich berechnender Egoismus zuschlagen. Vor dem Hintergrund des brutalen Krieges, agiert  Marie nicht wirklich so naiv, als sie sich für den „wertvolleren“ Baron entscheidet, und ihren braven Stolzius wie eine heiße Kartoffel fallen lässt mit all den sie zerstörenden Folgen. Marie ist nicht nur Opfer, sondern auch Täterin. Es gibt letztlich keine Gewinner, alle sind  irgendwie Opfer und Täter zugleich. Selbst die in ihren Konventionen gefangene hochnäsige und mächtige Gräfin de la Roche wird mit Brachialgewalt von marodierenden Soldaten erniedrigt, dargestellt durch die Vergewaltigung auf dem Balkon. In „Die Soldaten“ scheint es für die Menschen kein Entrinnen aus den miteinander verwobenen äußeren und inneren Gewalt-Prozessen zu geben.  Das war 1775 so,  es war 1965, und es ist immer noch so.  In „Die Soldaten“ sind „Raum und Zeit  aufgehoben, weil sich im Grunde nichts ändert: Soldaten bleiben Soldaten, und der Menschen ist, 1775 bis 1965 oder 1940, des Menschen Wolf“, (Albert Gier, Begleitheft S. 11), auch sein eigener.

So flehen zum Schluss  Rudimente aus Bach-Chorälen  vergeblich um Erbarmen. Die Bitte »Sed libera nos a malo« – »Erlöse uns von dem Bösen« – fällt einfach ins Leere, und lässt zurück überwältigt betroffene Zuschauer.  „Die Soldaten“ sind schwerer Tobak, ja! Aber sie sind absolut  inspirierend und empfehlenswert!

Diether v. Goddenthow

Die beiden Vorstellungen finden statt:

Do, 05. Mai »Die Soldaten«
So, 15. Mai »Die Soldaten«

Weitere Informationen zum Programm der Internationalen Maifestspiele 2016: