„Der Garten der Avantgarde: Heinrich Kirchhoff – ein Sammler von Jawlensky, Klee, Nolde…“ – Sensationelle Überblicksausstellung der Klassischen Moderne im Museum Wiesbaden

Genau 100 Jahre nachdem der Privatier und Kunstsammler Heinrich Kirchhoff seine bedeutende Sammlung mit Werken der Avantgarde erstmals im Museum Wiesbaden gezeigt hatte, wird diese nun am selben Ort wieder zusammengeführt. Kirchhoff (1874–1934) ließ sich zur Jahreswende 1908/09 in der Kurstadt Wiesbaden nieder mit dem Wunsch, sich dort seinen Leidenschaften Kunst und Natur zu widmen. links: Kunsthistorikerin Sibylle Discher und Roman Zieglgänsberger, Kustos für die "Klassische Moderne" im Raum 6 "Künstlerförderung in Zeiten der Krise" der Ausstellung „Der Garten der Avantgarde. Heinrich Kirchhoff: Ein Sammler von Jawlensky, Klee, Nolde …“ im Museum Wiesbaden vom 27. Okt. bis 24. Feb. 2018. Foto: Diether v. Goddenthow
Genau 100 Jahre nachdem der Privatier und Kunstsammler Heinrich Kirchhoff seine bedeutende Sammlung mit Werken der Avantgarde erstmals im Museum Wiesbaden gezeigt hatte, wird diese nun am selben Ort wieder zusammengeführt. Kirchhoff (1874–1934) ließ sich zur Jahreswende 1908/09 in der Kurstadt Wiesbaden nieder mit dem Wunsch, sich dort seinen Leidenschaften Kunst und Natur zu widmen.
links: Kunsthistorikerin Sibylle Discher und Roman Zieglgänsberger, Kustos für die „Klassische Moderne“ im Raum 6 „Künstlerförderung in Zeiten der Krise“ der Ausstellung „Der Garten der Avantgarde. Heinrich Kirchhoff: Ein Sammler von Jawlensky, Klee, Nolde …“ im Museum Wiesbaden vom 27. Okt. bis 24. Feb. 2018. Foto: Diether v. Goddenthow

Am Donnerstag, 26. Oktober, um 19.00 Uhr eröffnet das Museum Wiesbaden mit 205 Bildern der „Klassischen Moderne“ die sensationelle Ausstellung „Der Garten der Avantgarde: Heinrich Kirchhoff – ein Sammler von Jawlensky, Klee, Nolde…“. Mit internationalen Leihgaben wurde ein bedeutender Teil der einst 800 Werke umfassenden Sammlung des Wahl-Wiesbadeners (1874-1934) rekonstruiert und damit ein Kunst-Sammler und -Mäzen von internationalem Rang wiederentdeckt.

Als vor drei Jahren das Museum Wiesbaden der Kunsthistorikerin Sibylle Discher sein Archiv zu Recherchezwecke für ihre geplante Dissertation über den Kunst-Sammler und -Mäzen Heinrich Kirchhoff öffnete, hätte wohl niemand geahnt, dass hieraus – genau nach 100 Jahren der ersten Ausstellung des Sammlers und Gartenliebhabers Kirchhoff im Museum Wiesbaden – eine grandiose Überblicks-Ausstellung der Klassischen Moderne: „Der Garten der Avantgarde. Heinrich Kirchhoff: Ein Sammler von Jawlensky, Klee, Nolde …“ entstehen würde. Die Ausstellung läuft bis zum 24. Februar 2018 im Museum Wiesbaden.

„Die Kunsthistorikerin Sibylle Discher und der Kustos für die Klassische Moderne im Museum Wiesbaden haben in einer fruchtbaren wissenschaftlichen Zusammenarbeit dieses herausragende Projekt für das Museum Wiesbaden durchgeführt. Sibylle Discher rekonstruierte die Sammlung Kirchhoff , und Roman Zieglgänsberger gelang zum wiederholten Mal das Kunststück, dazu eine Ausstellung zu konzipieren, die sich sowohl an Fachkollegen wie an ein breites Publikum richtet“, erklärt Museums-Direktor Dr. Alexander Klar beim heutigen Pressegespräch. „Mit der Ausstellung und dem Ausstellungskatalog ‚Der Garten der Avantgarde. Heinrich Kirchhoff: Ein Sammler von Jawlensky, Klee, Nolde …‘ wird ein wesentlicher Aspekt unserer Museumsgeschichte aufgearbeitet sowie der Erforschung der Kunst der Moderne in Deutschland ein weiterer wertvoller Mosaikstein hinzugefügt“, so der Museumsdirektor. Man könne die Bedeutung Heinrich Kirchhoffs für Wiesbaden – sowohl für die damalige Kur- und Bäderstadt als auch für die heutige Landeshauptstadt – nicht hoch genug einschätzen.

Skulptur "Die Badende" und im Hintergrund das Bild "Susanna im Bade" (1913) von Wilhelm Lehmbruck (1881– 1919) Foto: Diether v. Goddenthow
Skulptur „Die Badende“ und im Hintergrund das Bild „Susanna im Bade“ (1913) von Wilhelm Lehmbruck (1881– 1919) Foto: Diether v. Goddenthow

Ohne ihn hätte es nach dem Zweiten Weltkrieg keinen historischen Anlass gegeben, wieder eine Abteilung Klassische Moderne im Museum Wiesbaden aufzubauen. Ohne ihn hätte sich Alexej von Jawlensky 1921 nicht in der Stadt niedergelassen, und ohne ihn hätte die Avantgarde hier zwischen 1916 und 1933 schlicht keine Heimat in einem kunstsinnigen und ‚floralen‘ Paradies gefunden“, ergänzt Kustos Roman Zieglgänsberger. Ja, nicht nur für Wiesbaden, auch für die Entwicklung der Moderne in Deutschland insgesamt war der Sammler Kirchhoff von größter Wichtigkeit, so Zieglgänsberger.

Künstlerliste
Allein ein Blick auf die Künstlerliste der jetzt im Wiesbadener Museum gezeigten 205 Werke aus der ehemaligen Kirchhoff-Sammlung zeugt von der herausragenden Bedeutung des Kunst-Sammlers und -Mäzens:

Ernst Barlach (1870– 1938)
Max Beckmann (1884– 1950)
Heinrich Campendonk (1889– 1957)
Marc Chagall (1887– 1985)
Lovis Corinth (1858– 1925)
Josef Eberz, (1880– 1942)
Alois Erbach (1888– 1972)
Fritz Erler (1868– 1940)
Edmund Fabry (1892– 1939)
Conrad Felixmüller (1897– 1977)
Rudolf Grossmann (1882– 1941)
George Grosz (1893– 1959)
Erich Heckel (1883– 1970)
Arnold Hensler (1891– 1935)
Julius Hess (1878– 1957)
Adolf Hölzel (1853– 1934)
Walter Jacob (1893– 1964)
Alexej von Jawlensky (1864– 1941)
Andreas Jawlensky, (1902– 1984)
Wassily Kandinsky (1866– 1944)
Alexander Kanoldt (1881– 1939)
Paul Klee (1879– 1940)
Oskar Kokoschka (1886– 1980)
Wilhelm Lehmbruck (1881– 1919)
Max Liebermann (1847– 1935)
August Macke (1887– 1914)
Franz Marc (1880– 1916)
László Moholy-Nagy (1895– 1946)
Oskar Moll (1875– 1947)
Otto Mueller (1874– 1930)
Emil Nolde (1867– 1956)
Max Pechstein (1881– 1955)
Walter Püttner (1872– 1953)
Christian Rohlfs (1849– 1938)
Edwin Scharff (1887– 1955)
Kurt Schwitters (1887– 1948)
Renée Sintenis (1888– 1965)
Max Slevogt (1868– 1932)
Wilhelm Trübner (1851– 1917)
Josef Vinecky (1882– 1949)
Hans Völcker (1865– 1944)

Wer war Heinrich Kirchhoff?

Bildnis Heinrich Kirchhoff (1918) von Max Liebermann (1847 - 1935) Foto: Diether v. Goddenthow
Bildnis Heinrich Kirchhoff (1918) von Max Liebermann (1847 – 1935)
Foto: Diether v. Goddenthow

Heinrich Kirchhoff, am 10.Juli 1874 in Essen-Rüttenschied geboren, war zunächst in das gutgehende Bauunternehmen seines Vaters eingetreten, veräußerte es aber nach dessen Tod und übersiedelte 1908 als wohlhabender Privatier in die preußisch-kaiserlich geprägte Kur- und Bäderstadt Wiesbaden. Kirchhoff erwarb das große Grundstück Beethovenstrasse 10 am Wiesbadener Sonnenberg. Hierauf ließ er sich von dem Essener Architekt Paul Dietzsch nicht nur eine komfortable Villa errichten, sondern legte ein exotisches Gartenparadies an.

Wie der Gartenliebhaber jedoch auch zum Kunstliebhaber wurde, weiß man nicht genau; „Während man davon ausgehen kann, dass Kirchhoff – tatkräftig unterstützt von diversen Botanikern – von Beginn an vorhatte, einen exotischen Garten nach seinen Ideen anzulegen, weiß man bis heute nicht, ob es eine familiäre Vorbildung in Sachen Kunst und Kultur gegeben hatte, die er etwa bereits in seiner Jugend genossen und in Wiesbaden nur intensivierte, weil ihm hier als Rentier nun mehr Zeit dafür blieb. Vielmehr scheint es so, dass sein Interesse für die bildende Kunst erst hier vor Ort entfacht wurde – Aber wie kam es dazu?“ fragt Roman Zieglgänsberger.

Impressionen des einstigen Gartenparadies.
Impressionen des einstigen Gartenparadies.

Der Kustos  nimmt an, dass Kirchhoff in Wiesbaden auf Menschen der Kunstszene traf, die ihn begeisterten und diese zweite Leidenschaft in ihm weckten und verfestigten. Ereignisse wie der Skandal um die modernen Kurhaus-Gemälde des beim Kaiser 1907 in Ungnade gefallenen Künstlers Fritz Erler sowie das Gesamtkunstwerk Muschelsaal als auch die Verbindung „Kunst und Kultur“ bei der 1. Großen Kunst- und Gewerbeausstellung im Jahr 1909 sowie neue Parkanlagen mit kunstvollen Skulpturen könnten zudem in Kirchhoff den Drang provoziert haben, beides – die Gartenkunst und die bildenden Künste – kreativ und intelligent miteinander zu vereinen. Der Fall Fritz Erler habe ihn elektrisiert. Auf Erler hatte sich Kirchhoff zuerst „eingeschossen“. Er  hatte entgegen des wilhelminischen Zeitgeistes dem Künstler allein vier Werke abgekauft. Vielleicht war das Ereignis um den modernen Künstler Erler die  Initialzündung, gegen den spießig-kaiserlichen zeitgenössischen Kunst-Geschmack insgesamt aufzubegehren, einen neuen Blick für avantgardistische Kunstströmungen zu bekommen, und vielen  jungen Künstlern der Klassischen Moderne beizustehen, sie mit Ankäufen ihrer Werke,  mit Besorgung und Finanzierung von Wohnung und Ateliers auf Zeit, zu fördern? Mitunter schloss er mit seinen „Schützlingen“ Verträge, sicherte ihnen für zwei Jahre Förderung zu und behielt sich im Gegenzug ein Vorkaufsrecht der Werke vor, erläutert .Sibylle Discher.

Kirchhoff erkannte, dass das 1915 eröffnete neue Wiesbadener Museum bis dato eher über überschaubare Kunstbestände aus dem Legat Johann Isaak von Gernings verfügte, aber praktisch keinerlei Gegenwartskunst vorzuweisen hatte.  In diese von ihm erkannte Lücke stieß Kirchhoff vor, indem er  anbot, seine Werke dort als Dauerleihgaben zu präsentieren.  Bei dem progressiven Direktor des Wiesbadener Museums, Eberhard von Schenk zu Schweinsberg, welcher  Kirchhoff  bei Kunstkäufen  beraten und sich mit dem Sammler befreundet hatte, rannte er offene Türen ein. Die unentwegte Bestückung des Museums Wiesbaden mit Kirchhoffs wachsender Sammlung führte dazu, dass Wiesbaden in den  folgenden Jahren bis 1933 zu einem regelrechten Zentrum der Avantgarde wurde.
Kirchhoffs Vision sei es gewesen, „zwischen den beiden Weltkriegen in der bis dahin auch künstlerisch strikt kaisertreuen Kurstadt Wiesbaden ein weiteres Zentrum der Avantgarde neben Berlin zu schaffen.“ unterstreicht Dr. Alexander Klar. Dass ihm das gelungen sei, bezeuge sein – ebenfalls ausgestelltes und digital zugängliches – Gästebuch, so der Museumsdirektor. Dort ist – zum Teil mit Zeichnungen der Gäste – wunderbar belegt, dass  in der Villa  Kirchhoff das „Who is Who“ der damaligen Avantgarde ein- und ausging. Unter seinen Gästen waren nicht nur Kunstgelehrte und Sammler, sondern vor allem Maler wie Beckmann, Kandinsky, Klee, Nolde oder Rohlfs.

Kirchhoff war der erste deutsche Sammler, der seine privat erworbenen Kunstwerke von Anfang an völlig uneigennützig Museen nicht nur für Sonderausstellungen, sondern als Dauerleihgaben zur Verfügung stellte, weswegen er seine erworbenen Werke im Museum Wiesbaden öffentlich zeigte.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 musste Kirchhoffs Freund, der progressive Direktor des Wiesbadener Museums, Eberhard von Schenk zu Schweinsberg, seinen Hut nehmen. Kurz darauf stirbt Heinrich Kirchhoff im Alter von erst 60 Jahren 1934 an einem „Herzanfall“, wie es in der Anzeige heißt, was durchaus im Zusammenhang mit dem brutalen politischen Umschwung in Verbindung stehen könnte, mutmaßt Roman Zieglgänsberger.

Nach Kirchhoffs Tod muss die Familie die Bilder, die nicht mehr im Wiesbadener Museum hängen dürfen, zurücknehmen. Die Sammlung wird in alle Himmelsrichtungen veräußert, auch nach dem Krieg noch, quasi um zu überleben.
Und mit seiner Sammlung verschwand auch der Name Kirchhoff bis auf Weiteres aus der deutschen Kulturgeschichte, erläutert Alexander Klar, der Kirchhoff von seiner tatsächlichen Bedeutung her als dritten bedeutenden Kunstsammler seiner Generation aus dem Ruhrgebiet in eine Reihe mit Karl Ernst Osthaus und Eberhard von der Heydt stellt.

Die Ausstellung zeichnet die Genese der „Sammlung Kirchhoff“ über einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten von 1914 bis 1933 nach. Sie zeigt damit anhand der von Kirchhoff geschätzten Maler die Entwicklung der deutschen Kunst vom Impressionismus (Corinth, Liebermann, Slevogt) über den facettenreichen Expressionismus (Chagall, Kokoschka, Lehmbruck, Macke, Marc) bis zur Abstraktion (Kandinsky, Moholy-Nagy). Am Ende wird anhand präzise ausgewählter Werke aus der ehemaligen Sammlung Kirchhoff – aufwendig recherchiert und zusammengetragen aus nationalen und internationalen Museen und Privatsammlungen – klar, dass der vergessene „Garten Kirchhoff“ deutschlandweit eines der wichtigsten Sammelbecken der Avantgarde in den 1920er-Jahren war.

Rundgang durch die Ausstellung!

Der Begleitkatalog

katalog-coverZur Ausstellung erschienen ist der gleichnamige Begleit-Katalog:
Der Garten der Avantgarde
Heinrich Kirchhoff: Ein Sammler von Jawlensky, Klee, Nolde…
Roman Zieglgänsberger und Sibylle Discher (Hrsg.)
ca. 432 Seiten, 250 Abbildungen, 22 x 26,5 cm
Imhof Verlag, 2017
ISBN 978-3-7319-0584-4
Euro 35,- (Sonderpreis im Museumsshop)
Mit Beiträgen von Annette Baumann, Astrid Becker, Herbert Billensteiner, Sibylle Discher, Peter Forster, Franz Josef Hamm, Gerhard Leistner, Miriam Olivia Merz, Jutta Penndorf, Christiane Remm, Roman Zieglgänsberger