Bereits zum 14. Mal präsentierten am 1. Oktober 2021 das Kulturamt Frankfurt am Main und das Literaturhaus Frankfurt die Nominierten der Shortlist des Deutschen Buchpreises in Kooperation mit der Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, die den Preis zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse vergibt. Fünf der sechs Finalistinnen und Finalisten, die in diesem Jahr in der Endauswahl für den deutschsprachigen Roman des Jahres stehen, wurden in Lesungen und Gesprächen von Eva-Maria Magel (F.A.Z.), Christoph Schröder (freier Kritiker) und Bianca Schwarz (hr2-kultur) vorgestellt.
Gemeinsam mit „Open Books-Organisatorin“ Dr. Sonja Vandenrath, Fachbereichsleiterin Literatur im Kulturamt Frankfurt am Main, und Alexander Skipis, Geschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, begrüßte Hauke Hückstädt, Leiter des Literaturhauses Frankfurt, auch im Namen des Netzwerkes der deutschsprachigen Literaturhäuser die Gäste im erstmals wieder voll besetzen Saal des Literaturhauses sowie vor den Bildschirmen daheim.
Das eigentliche Anliegen der Buchbranche sei, so Alexander Skipis, „mit dem, was wir tun, einen wesentlichen Beitrag für eine freie, demokratische, fröhliche und tolerante Gesellschaft zu leisten.“ Das sei der Kern der Buchbranche, weswegen man sich besonders gefreut habe, dass nach der pandemiebedingten Schließung die Buchhandlungen als erste wieder öffnen durften, weil die Politik, die Ministerpräsidenten-Konferenz mit der Bundeskanzlerin, erkannt haben, „dass Kultur nämlich nicht ein Sahnehäubchen ist, mit dem wir uns beschäftigen, wenn’s uns gutgeht. Sondern, dass Kultur ein wesentlicher Teil unseres Lebens ist. Darüber freue ich mich sehr, und das ist auch das Ziel, was wir mit diesem Preis letztendlich verfolgen“, betonte Skipis, und dankte dem Partner des Deutschen Buchpreises, der Deutschen Bankstiftung, für ihr nachhaltiges gesellschaftliches Engagement.
Die nominierten Werke zum Deutschen Buchpreis 2021
„Vati“ von Monika Helfer
Als erste im Reigen der fünf Nominierten befragte Christoph Schröder Monika Helfer, ob „Vati“, 2021 erschienen bei Carl Hanser München, eine Fortsetzung ihres Bestellers „Die Bagage“ sei. „Nein“, so Helfer, „eher ein weiteres Puzzle in einer großen Familiengeschichte: Als ich die Bagage fertig geschrieben hatte“, fragte sie sich:“was passiert mit diesen vielen Leuten, die ich da nur so leicht beschrieben habe, und dann ist mir Vati eingefallen, und der hat’s einfach verdient, dass ich über ihn schreibe“, so die Autorin, die lange gewartet hatte, überhaupt über ihre Familie zu schreiben,“ bis die Leute gestorben sind, um sie nicht zu kränken“. Ihr Mann, der bekannte österreichische Autor und Hörspielsprecher Michael Köhlmeier, habe ihr „ geraten über meine Familie zu schreiben“. Es sei ja unglaublich, „was da in Deiner Bagage alles passiert ist“. Ich habe dann „immer wieder kleine Sachen geschrieben, und als dann alle im Grab gelegen sind, gesagt:‘ komm jetzt fang ich an!‘“. Ihre Tante,fast 100, habe sich zuerst geweigert zu erzählen, „und dann hat sie im Übermut – ich glaube auch erfunden – erzählt und erzählt.“
Hieraus und aus vielen weiteren Recherchen entstand „Vati“: Es ist die Geschichte ihres in ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsenen. kriegstraumatisierten Vaters mit Beinprothese. Es ist die Geschichte eines Außenseiters, eines Abwesenden, eines Witwers, eines Pensionärs und eines Bibliomanen, der seine Bücher mehr als seine Kinder liebt. Und es ist das Psychogramm eines innerlich zerrissenen Mannes, der Glück nicht halten kann, der die Existenz seiner Familie auf‘s Spiel setzt, als er aus der Bibliothek des Kriegsopfer-Erholungsheims, in dem er arbeitet, Bücher stiehlt. Als die Mutter starb, verließ Vati ohne Vorwarnung und Angabe irgendeiner Adresse seine Kinder. Er verschwand für immer.
„Meine Schwester hat mir häufig vorgeworfen: ‘Du übertreibst!‘“. Aber sie habe ihr entgegnet, „da steht Roman drüber“. Jeder habe seine Wahrheit, „und ich habe einfach meine Wahrheit dargelegt, und die Lücken mit Fiktionen ausgefüllt“, so Helfer.
Kommentar der Jury: „Kein Wort zuviel findet sich in Monika Helfers Roman „Vati“, eine Annäherung an das Leben des Vaters der Autorin. Eine Recherche über die Möglichkeit, Leben zu erzählen und Herkunft zu begreifen – die auch die Initiation einer Autorin beschreibt.(…)“
„Zandschower Klinken“ von Thomas Kunst
Thomas Kunsts Werk „Zandschower Klinken“, 2021 erschienen bei Suhrkamp Berlin, zieht Leser mit seiner rhythmischen, mitunter bis an die Grenze des Lesbaren, genial gedrechselten Sprache magisch in ihren Bann. Seine Paradoxien, Metaphern und Absurditäten am laufenden Band eröffnen immer wieder neue Perspektiven. Thomas Kunsts „Zandschower Klinken“ erinnere sie an George Taboris Gedanken, wonach Leben einen Anfang, eine Mitte und ein Ende habe, nur nicht in dieser Reihenfolge, so Eva-Maria Magel.
Thomas Kunst schreibt nicht in einer bestimmten Reihenfolge: „Ich habe beim Schreiben kein Konzept, keinen Plan. Mein Ideal an Literatur ist, dass sie nicht nacherzählbar sein darf“. Die „größte Lust für mich besteht darin, nicht zu wissen, was am nächsten Tag geschrieben wird.“ Leser können bei Kunst praktisch nicht erahnen, was im nächsten Moment passiert, wohin Bengt Claasen, der Hauptprotagonist, sie auf seine Schicksals- Reise mitnimmt. Bengt sitzt im Auto, sein ganzes Hab und Gut im Kofferraum, fest entschlossen, nochmal von vorne anzufangen, und zwar an dem Ort, wo das Halsband seiner verstorbenen Hündin vom Armaturenbrett seines Wagens zum dritten Mal herunterfällt. So fährt Bengt Claasen ganz langsam und vorsichtig, wie es nur geht, um möglichst weit weg zu kommen, und landet schließlich in Zandschow, einem Nest im äußersten Norden mit einem Feuerlöschteich im Zentrum. Schnell stellt er fest: Die Bewohner des Orts rund um „Getränke-Wolf“ folgen einem strengen Wochenplan, donnerstags werden zum Beispiel zwanzig Plastikschwäne auf dem Teich ausgesetzt, und sie feiern an ihrer „Lagune“ Festspiele unter künstlichen Palmen. Überhaupt: Mit den prekären Verhältnissen mitten in der Pampa finden sich die Menschen hier nicht mehr ab. Ihr Zandschow ist Sansibar, hier kann man arm sein, aber trotzdem paradiesisch leben, in viel Verrücktheit.
Kommentar der Jury: Politisch aufgeladen, bricht es zugleich mit jeder Diskursschwere, weil es sich im Spiel mit Wirklichkeit und Sprache keine Grenzen aufzwingen lässt. Eine bittere, märchenhaft verschlüsselte Familiengeschichte kontrapunktiert den Ausstieg in die Utopie, und dennoch: Dieses Buch lässt einen freier atmen.
„Blaue Frau“ von Antje Rávik Strubel
Antje Rávik Strubels Roman „Blaue Frau“, 2021 erschienen bei S. Fischer Frankfurt, ist eine Anklage gegen toxische Männlichkeit, eine „Harvey-Weinstein-Geschichte“?, wie Maike Albath am 12.08.2021 in der Süddeutschen Zeitung kommentierte. Adina wuchs „als letzter Teenager ihres Dorfs im tschechischen Riesengebirge auf und sehnte sich schon als Kind in die Ferne. Bei einem Sprachkurs in Berlin lernt sie die Fotografin Rickie kennen, die ihr ein Praktikum in einem neu entstehenden Kulturhaus in der Uckermark vermittelt.“ Dort wird sie brutal vergewaltigt, was ihr aber keiner glaubt. Das führe dann in der Folge dazu, so hr2-Moderatorin Bianca Schwarz, „dass sie quasi in der Bewegung erstarrt, was erst einmal sonderbar klinge. Aber es sei ihr Körper, der fliehe über drei Grenzen, durch halb Europa bis eben nach Helsinki. „Es ist ihr Inneres, was nicht fliehen kann, was erstarrt an dieser Gewalterfahrung. Und ich finde, Ihr Buch erzeugt von Anfang an einen ganz schönen Sog. Man muss dauernd weiterlesen. Ich glaube, das liegt auch am Gegensatz, den Sie am Anfang schon aufbauen: Da gibt es einerseits ganz detaillierte, intensive, alle Sinne ansprechende Beobachtungen der Außenwelt. Und im Gegensatz dazu gibt es eben diese Adina, die sich selbst verloren hat, die sich nicht fühlen kann, die man auch als Leser fürs Erste nicht scharf stellen kann. Dieser Kontrast zwischen Schärfe und Unschärfe, das ist etwas, was sich durch dieses Buch zieht. Das ist so wichtig“, analysiert Bianca Schwarz treffend.
In der Tat, so die Autorin: Adina sei nach dem Vorfall, der sie zutiefst traumatisierte aus der Uckermark geflohen. „Sie weiß nicht wohin und ihre einzige Vorstellung ist: Im Norden ist es dunkel, da wirst du nicht gesehen. Deshalb flieht sie in den Norden. Die Situation, in der sie da in dieser Wohnung strandet, ist eine, wo sie eigentlich versucht, ihr Sprechen wiederzufinden, und versucht, sich selbst wieder näher zu kommen“, so Strubel. Adina hat eigentlich vor, eine Aussage zu machen. „Sie will eigentlich vor Gericht gehen und Gerechtigkeit erwirken, was sich aber als nicht so einfach herausstellt“, so Strubel. Denn im Hotel, in dem Adina schwarzarbeitet, begegnet sie dem estnischen Professor Leonides, Abgeordneter der EU, der sich in sie verliebt. Während er sich für die Menschenrechte stark macht, sucht Adina einen Ausweg aus dem inneren Exil.
Der Roman von Antje Rávik Strubel, „Blaue Frau“, erzählt von den ungleichen Voraussetzungen der Liebe, den Abgründen Europas und davon, wie wir das Ungeheuerliche zur Normalität machen.
Kommentar der Jury: Ein Ost-West Roman, ein Europaroman, eine Geschichte über Machtmissbrauch, meisterhaft in der Verflechtung der Handlungsstränge und in der atmosphärischen Darstellung finnischer Landschaft. Eine Figur mit mythischen Zügen – die blaue Frau – verbindet das Erzählte mit der Ebene der Erzählerin und macht so den Roman auch zum Roman über das Schreiben selbst.
„Der zweite Jakob“ von Norbert Gstrein
In Norbert Gstreins zehntem Roman „Der zweite Jakob“, 2021 erschienen bei Carl Hanser, geht es um die Frage, die wir uns vielleicht alle schon einmal gestellt haben und die dem Ich-Erzähler Jakob Tochter Luzie stellt: „Was ist das Schlimmste, das du je getan hast?“ Und es geht um Identität. Dies habe der Autor „raffiniert komponiert“ in seinem Werk, „das zum Ende hin sehr rührend wird“, so Christian Schröder.
Jakob, ein erfolgreicher Schauspieler kurz vor seinem 60. Geburtstag und spezialisiert auf dunkle Rollen, auch auf Frauenmörderrollen, sabotiert die Beschreibung seiner Vita durch einen fremden Biografen, weil er nicht, wie Gstrein sagt, auf seine Herkunft „zurückdefiniert“ werden möchte. So beginnt Jakob seine Lebensgeschichte selbst zu erzählen. Tochter Luzie, bei den Treffen ihres Vater mit dem Biographen anwesend, erhält die geschönte Fassung von Vaters Biografie-Manuskript und ist entsetzt über „die bestürzende Harmlosigkeit des Ganzen“. Sie drängt den Vater dazu, sich darauf einzulassen, ihr die Frage zu beantworten, „was das Schlimmste sei, das er in seinem Leben getan habe?“ Zunächst versucht Jakob, sich ausweichend heraus zu reden, etwa, dass er nicht bei Luzies Geburt dabei und in ihren ersten Jahren viel weg war; dass er und seine von ihm getrennt lebende Frau Luzie in ein Internat nach England fortgegeben haben usw. Aber das ist nicht, was Luzie meint. Neugierig von den mitgehörten Gesprächen ihres Vaters mit dem Biographen, will sie wissen, ob Jakob jemanden umgebracht oder ihn so weit getrieben hast, dass er sich selbst das Leben genommen hat.
Einmal angefangen, gewinnt die Geschichte an Dynamik und lässt r Jacob zu einem unheimlichen Erzähler werden, der sich im Kontext einer Serie ungeklärter Frauenmorde während eines Filmdrehs an der mexikanisch-amerikanischen Grenze selbst verdächtigt macht.
Gstrein versichert jedoch: In seinem Werk „stehen Künstler nicht über dem Gesetz“; im Gegenteil handele es sich um einen hochmoralischen Roman, der zwar darstelle wie etwas möglich sein könne, aber das Gegenteil aufzeige.
Kommentar der Jury: Auf meisterhafte Weise demonstriert der Roman, wie sich die Komplexität eines Lebens, das geprägt ist von Scheitern, Scham und Schuld, einem simplen Plot verweigert. Mit „Der zweite Jakob“ hat Norbert Gstrein seine virtuose Erzählkunst noch einmal auf eine höhere Stufe gehoben.
„Identitti“ von Mithu Sanyal
Mithu Sanyai, als Letzte im Shortlist-Reigen von Eva-Maria Magel vorgestellt, bringt den Inhalt ihres 2021 bei Carl Hanser, München, erschienenen Romans „Identitti“ gleich zu Beginn auf den Punkt: „Es geht um Identität, Politik und Brüste, also um Sexualität“. Die Hauptfigur Nivedita, Studentin an der Düsseldorfer Uni bloggt unter verschiedenen Namen (Identitti, Mixed-Race, Wonderwoman), und deckt einen riesigen Skandal auf: Starprofessorin Saraswatis indische Herkunft ist fake. Prof. Dr. Saraswati, die sich nach der hinduistischen Göttin Saraswati benannt und fälschlich als Inderin ausgegeben hat, ist „weiss“! Das ist insofern ein Super-Gau, da sich die Main-stream konforme Professorin für Postcolonial Studies in Düsseldorf als ‚Person of Colour‘ beschrieb, und als Übergöttin aller Debatten über Identität gefeiert wurde. Nun beginnt eine Jagd nach „echter“ Zugehörigkeit. Während das Netz Saraswati hetzt und Demos ihre Entlassung fordern, stellt ihre Studentin Nivedita ihr intimste Fragen.
Mithu Sanyals erfrischendes und höchst unterhaltsames Werk „Identitti“ ist bei aller Hintergründigkeit vor allem auch ein lustvolles Buch, welches mit dem grandiosen Satz beginnt:
„Das letzte Mal, dass ich mit dem Teufel sprach, war er nackt, sichtlich sexuell erregt und eine Frau. So viel zu sozialen Gewissheiten: Wenn man sich nicht einmal darauf verlassen kann, dass der Teufel ein Mann ist, kann man direkt jede Form von Identität ablegen wie ein altes T-Shirt!“ (Mithu Sanyal. Identitti, München 2021, S.9)
Kommentar der Jury: Identitti ist eine Quadratur des Kreises: ein enorm vergnüglicher, hochenergetischer Diskursroman, bei dessen Lektüre viel zu lernen ist und der dabei grandios unterhält.(…) Ohne jeden Hang zum Denunzieren zeigt der Roman die verschiedenen, unversöhnlich scheinenden Positionen – in Dialogen, Blogeinträgen, fiktiven Tweets realer Zeitgenoss*innen – und so gelingt es ihr, gerade in den verfahrensten Debatten wieder unbändige Freude am Austausch und der Beweglichkeit im Kopf zu entfachen.