Die Autoren der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022 präsentieren im ausverkauften Schauspiel Frankfurt ihre Werke

Am 9. Oktober 2022 stellten sich im Schauspiel Frankfurt die sechs Nominierten der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2022 vor. v.li.: Daniela Dröscher „Lügen über meine Mutter“, Kim de l’Horizon „Blutbuch“, Fatma Aydemir „Dschinns“, Kristine Bilkau „Nebenan“, Eckhart Nickel „Spitzweg“, Jan Faktor „Trottel“- © Foto: Diether von Goddenthow
Am 9. Oktober 2022 stellten sich im Schauspiel Frankfurt die sechs Nominierten der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2022 vor. v.li.: Daniela Dröscher „Lügen über meine Mutter“, Kim de l’Horizon „Blutbuch“, Fatma Aydemir „Dschinns“, Kristine Bilkau „Nebenan“, Eckhart Nickel „Spitzweg“, Jan Faktor „Trottel“- © Foto: Diether von Goddenthow

Zum 15. Mal präsentierten am 9. Oktober 2022 das Kulturamt Frankfurt am Main und das Literaturhaus Frankfurt die Nominierten der Shortlist eine Woche vor der 18. Preisverleihung des Deutschen Buchpreises in Kooperation mit der Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, die den Preis vergibt.

Alle sechs Finalistinnen und Finalisten und eine Finalist*In, die in diesem Jahr in der Endauswahl für den deutschsprachigen Roman des Jahres stehen, wurden in Lesungen und Gesprächen von Sandra Kegel (F.A.Z.), Alf Mentzer (hr) und Christoph Schröder (freier Kritiker) vorgestellt. Die Veranstaltung fand im beinahe ausverkauften Schauspiel Frankfurt statt. Was ihre Freude „heute noch einmal steigere“, sei die Tatsache, „dass wir einander nach der Pandemie erstmals wieder in so großer Runde uns begegnen können“, freute sich Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels.

Dr. Sonja Vandenrath-© Foto: Diether von Goddenthow
Dr. Sonja Vandenrath-© Foto: Diether von Goddenthow

Ausgangsüberlegung war 2008, der Geburtsstunde des Deutschen Buchpreises, „mit dieser Gemeinschaftsveranstaltung Frankfurt als Buch- und Literaturstadt ein weiteres Highlight zu verschaffen, und gleich den großen Scheinwerfer auf die Autorinnen und Autoren der Shortlist zu richten und als Win-Win-Win-Situation dem Frankfurter Publikum die exklusive Chance geben, alle Nominierten kompakt an einer Veranstaltung zu erleben“ so Dr. Sonja Vandenrath, Literaturreferentin der Stadt Frankfurt am Main. Hauke Hückstädt, Leiter des Literaturhauses Frankfurt, unterstrich in seinem Grußwort, dass die sechs Nominierten der Shortlist, „denen heute unsere ganze Aufmerksamkeit und die Aufmerksamkeit der Buchwelt gelte, unter mehr als 200 geprüften Büchern von einer Fachjury ausgewählt worden seien“.

Fatma Aydemir „Dschinns“, Moderation: Alf Mentzer

Alf Mentzer im Talk mit Fatma Aydemir © Foto: Diether von Goddenthow
Alf Mentzer im Talk mit Fatma Aydemir © Foto: Diether von Goddenthow

Als erste im Reigen präsentiert Fatma Aydemir im Gespräch mit Moderator Alf Mentzer ihr im Carl Hanser Verlag erschienenes Werk „Dschinns“. Eher rein zufällig habe sie einen Familienroman geschrieben, denn Ziel sei es gewesen, wie sie sagt, mehr über die erste Generation der türkischen Arbeitsmigranten zu erfahren. Die Hauptfigur Hüseyin, angelehnt an ihren Vater, hat dreißig Jahre in Deutschland gearbeitet, Doppelschichten geschoben, vier Kinder ernährt und trotzdem immer etwas Geld beiseitegelegt, um sich im 59. Lebensjahr endlich seinen Traum von einer Eigentumswohnung in Istanbul erfüllen zu können. Er hat aber nicht lange davon, denn nicht mal 12 Tage später erleidet er, angekommen in seiner Sehnsuchtswohnung, einen tödlichen Herzinfarkt. Jetzt, im Moment der Trauer und des Verlustes, beginnt der eigentliche Roman: Zur Beerdigung reisen Ehefrau und ihre vier Kinder auf unterschiedlichen Wegen nach Istanbul. Aus deren Perspektiven, sich eigentlich recht fremd gebliebener Personen, entfaltet Fatma Aydemir nach und nach diese spannungsreiche Geschichte .

Fatma Aydemir © Foto: Diether von Goddenthow
Fatma Aydemir © Foto: Diether von Goddenthow

„Für mich hat dieser Zusammenhalt dieser Personen überhaupt nichts heimeliges, im Gegenteil, es ist eher unheimlich, es gibt so eine unheimliche Spannung bei dieser Familie. Woher kommt diese Spannung?“, fragt Alf Mentzer. „Ich glaube“, so Fatma Aydemir , „das kommt aus dem Konzept Familie, das ist universell“ Und je tiefer sie in diese Thematik einstieg, umso mehr verstärkte sich dieses Gefühl: „Ja eigentlich ist das ganz absurd, davon auszugehen, dass dieses Gruppe von Menschen, in die man hineingeboren wird, irgendwie per sé das Beste ist, was einem passiert ist, und dass man sich da wiederfinden muss“, so die Autorin, die auch für neue Formen des Zusammenlebens plädiert. Denn für viele Menschen sei Familie kein besserer Ort, kein Ort, an dem es heimelig sei, eher unheimlich, und im Buch sei es für jede Figur  ein bisschen anders. Sie habe versucht, die Familie im Prozess des Auseinanderbrechens zu zeigen.

Das „Unheimliche“ stecke ja auch schon im Titel des Romans „Dschinns“, so Mentzer. „Dschinns“ wären in der islamischen Vorstellung unsichtbare Geister, die die Welt bevölkerten, deren Namen man wahrscheinlich auch gar nicht laut aussprechen dürfte. „Auch meine Kindheit war von der Angst vor Dschinns geprägt“, so Aydemir. Dinge, die uns Angst machten, seien ja meistens genau deswegen so angsteinflößend, weil sie so vage und nicht greifbar seien, so wie bei Dschinns. Ihre Geschichte und die Idee von Familie passten dazu, „da ‚es‘ eben im Raume ist, wir davon wissen, ‚es‘ uns Angst macht, und dass wir ‚es‘ deswegen nicht mehr aussprechen.“ Familienzusammenkünfte wie Treffen auf Beerdigungen seien schon davon geprägt, „dass wir Menschen auf Grundlage eines Kompromisses zusammenkommen, nämlich, dass sie nicht alles auspacken, sehr zurückhaltend seien und nicht alles dem Gegenüber zumuten, weil es sonst einfach eskalieren und auseinanderbrechen würde“, erläutert Aydemir, die dem Schweigen in bestimmten Situationen  als sozialen Kitt auch eine positive Seite zubilligt.  Aber „in dieser Familie“, lässt Aydemir ihren Bruder Harkan im Roman sagen, „kämpft man mit dem Schweigen als Waffe“, wirft Mentzer ein. Einen Grund hierfür, so Aydemir, sei auch in der kurdischen Herkunft der Familie begründet, in der zum Schutz der Kinder mehr als üblich geschwiegen wurde,  und man ihnen nicht mal mehr die kurdische Sprache beigebracht wurde. Es sei ein Schweigen innerhalb dieser Familie, und ein Schweigen, was in der türkischen Geschichtsschreibung und Gesellschaft existiere.

Kommentar der Jury:
„Dschinns“ vereint Fragen nach Identität, Geschlecht und Herkunft ebenso wie die Themen Rassismus und Diskriminierung, während gleichzeitig ein Teil jüngerer deutscher Geschichte behandelt wird, der bisher kaum in der Literatur zu finden ist.

Biographie:

Fatma Aydemir © Foto: Diether von Goddenthow
Fatma Aydemir © Foto: Diether von Goddenthow

Fatma Aydemir wurde 1986 in Karlsruhe geboren. Sie lebt in Berlin und ist Kolumnistin und Redakteurin bei der taz. Bei Hanser erschien 2017 ihr Debütroman Ellbogen, für den sie den Klaus-Michael-Kühne-Preis und den Franz-Hessel-Preis erhielt. 2019 war sie gemeinsam mit Hengameh Yaghoobifarah Herausgeberin der Anthologie Eure Heimat ist unser Albtraum. Ihr zweiter Roman Dschinns (Hanser, 2022) wurde mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichnet.

 

Jan Faktor „Trottel“, Moderation: Sandra Kegel

Sandra Kegel-im Talk mit Jan Faktor  © Foto: Diether von Goddenthow
Sandra Kegel-im Talk mit Jan Faktor © Foto: Diether von Goddenthow

„Die stille Frage meiner Jugend lautete, ob ein Trottel im Leben glücklich werden kann. Und im Grunde war es keine Frage“, beginnt Jan Faktor sein  bei Kiepenheuer & Witsch erschienenes Buch „Trottel“. Diese Frage, so  Faktor,  habe ihn schon ein Leben lang beschäftigt. Als er diese Frage, notiert auf einem Zettel, den er Jahrelang in der Hosentasche hatte, vor zwei Jahren hervorholte, habe sich daraus intuitiv ein Buch mit  über 400 Seiten entwickelt. Der Roman besteht aus vielen Geschichten, die   „an einem Stück“ hintereinander aus ihm wie aus einer „Magma-Blase“  herausgeplatzt wären, gleich ganz zu Beginn die, vom  Selbstmord seines Sohnes vor 10 Jahren, der auch so ein Trottel gewesen sei wie er selbst, über den er eigentlich gar nicht schreiben wollte, was aber auf einmal unvermeidbar war.

Jan Faktor  © Foto: Diether von Goddenthow
Jan Faktor © Foto: Diether von Goddenthow

Ob es denn einen Unterschied zwischen „Schelm“ und „Trottel“ gäbe, will Moderatorin Sandra Kegel wissen: „Einen gewaltigen“, so Faktor: Der Trottel sei nicht schlau, sondern dumm, er gäbe Dinge von sich preis, ohne zu spüren, dass er sich damit lächerlich mache, ganz anders wie ein Schelm, der sei schlau und berechnend. Der Trottel sei ehrlich, aber seiner Welt ausgeliefert. Auch er sei ein Trottel, deswegen der Titel.

Ihren Anfang nimmt die Geschichte des Trottels, eine Erinnerung an ein Leben, in dem immer alles anders kam, als gedacht, dabei in Prag, nach dem sowjetischen Einmarsch. Auf den Rat einer Tante hin studiert der Jungtrottel Informatik, hält aber nicht lange durch. Dafür macht er erste groteske Erfahrungen mit der Liebe, langweilt sich in einem Büro für Lügenstatistiken und fährt schließlich Armeebrötchen aus. Nach einer denkwürdigen Begegnung mit der »Teutonenhorde«, zu der auch seine spätere Frau gehört, »emigriert« er nach Ostberlin, taucht ein in die schräge, politische Undergroundszene vom Prenzlauer Berg, gründet eine Familie, stattet seine besetzte Wohnung gegen alle Regeln der Kunst mit einer Badewanne aus, wundert sich über die »ideologisch morphinisierte« DDR, die Wende und entdeckt schließlich seine Leidenschaft für Rammstein.

Kommentar der Jury:
Jan Faktors Roman „Trottel“ verbindet Zeitgeschichte und Lebensgeschichte auf sehr besondere Weise: Er beschreibt den Weg eines Außenseiters von Prag nach Berlin, vom Arbeitnehmer im realexistierenden Sozialismus zu einem Schriftsteller, der literarische Trauerarbeit leistet. Im Kern des Romans steht der Verlust eines Sohnes. Faktor gelingt das große Kunststück, mit einer Geschichte über Trauer Witz zu erzeugen. Er zielt auf die DDR ebenso wie auf die bundesdeutsche Gegenwart, auf den Literaturbetrieb und nicht zuletzt auf das eingestandene „Trotteltum“ seines Erzählers. Dabei entsteht ein provokanter, bisweilen verstörender Schelmenroman über die Frage, „ob ein Trottel im Leben glücklich werden kann“. Es ist ein Buch, das auch gnadenlose, aber sehr hilfreiche Kritik an unserer Gesellschaft übt.

Biografie:

Jan Faktor  © Foto: Diether von Goddenthow
Jan Faktor © Foto: Diether von Goddenthow

Jan Faktor, 1951 in Prag geboren, übersiedelte 1978 nach Ostberlin. Arbeit als Kindergärtner und Schlosser. Entdeckt in den 1980er-Jahren das „Rückläufige Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ für die experimentelle Dichtung. Bis 1989 fast ausschließlich in der inoffiziellen Literaturszene engagiert. 1989/90 Mitbegründer der Zeitung des Neuen Forums.

 

Kim de l’Horizon „Blutbuch“, Moderation: Christoph Schröder

Christoph Schroeder im Talk mit Kim de l’Horizon- © Foto: Diether von Goddenthow
Christoph Schroeder im Talk mit Kim de l’Horizon- © Foto: Diether von Goddenthow

Die Erzählperson in „Blutbuch“, erschienen bei DuMont Buchverlag, indentifiziert sich als nonbinär, also weder als Mann noch als Frau, so wie die Autor*In Kim de l’Horizon selbst. Mehr noch: Sie sei, erzählt Kim de l’Horizon, auch als „Hexer*In“ unterwegs und mache auch Rituale und habe hier einen Kristall mitgebracht, „um mir ein bisschen Kraft zu geben.“ Im Zusammenhang mit dieser Publikation „seien wahnsinnig viele Dinge auf mich zugekommen, Energien und Geschichten werden an mich herangetragen, liebevolle, aber auch hasserfüllte, und dieser Kristall hilft mir zu klären, was gehört zu mir, und was gehört zu anderen Menschen.“

Kim de l’Horizon- © Foto: Diether von Goddenthow
Kim de l’Horizon- © Foto: Diether von Goddenthow

Blutbuch ist in der grundsätzlichen Form eigentlich ein langer Brief, den die Ich-Erzählperson an ihre/seine die Familie dominierende Großmutter schreibt, als diese an Demenz erkrankt und Erzähler-Ich beginnt, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Wieso vermag sich die Großmutter kaum von ihrer früh verstorbenen Schwester abzugrenzen? Und was geschah mit der Großtante, die als junge Frau verschwand? Die Erzählfigur stemmt sich gegen die Schweigekultur der Mütter und forscht nach der nicht tradierten weiblichen Blutslinie. „Gleichzeitig ist es für mich auch eben nichts Lineares, sondern ich habe versucht, mit diesem Roman einen Hexenkessel zu bauen, in dem alles Platz hat, was irgendwie so an einen herangetragen wird, wenn man irgendwie ein Körper ist auf dieser Welt. Und deshalb ist es nicht binär. Es hat Zirkelbewegungen für mich drin, und es fängt auch nicht an einem Anfang an, sondern wie für mich, so mitten im Satz, und das war das Ziel eigentlich, dass, wenn Menschen das lesen, sie so gerade reingezogen werden in diese Hexensuppe“, so die Autor*In.

Kommentar der Jury:
Die Blutbuche im Garten ist Ursprung und Fluchtpunkt im Leben von Kim, der non-binären Hauptfigur dieses Romans. Gepflanzt wurde sie zur Geburt der Großmutter – der Großmeer, wie sie im Berndeutschen genannt wird. Im Meer dieser Überfigur droht das Kind Kim zu versinken, gleichzeitig ist sie aber von einer magischen Faszination. Als die Großmeer ihr Wissen und ihre Dominanz an die Demenz verliert, beginnt Kim eine eigene Sprache zu bilden: für Identität und Körperlichkeit, für Herkunft und Prägung. Da es in diesem Gemenge keinen geraden Weg gibt, kann die Form des Romans nicht linear sein. Sie ist experimentell und gewagt, in einem Moment jäh derb und obszön, im nächsten wieder zart und intensiv. Sie nutzt überraschende Ebenen und Sichtweisen. Ein Roman, der berührt und bewegt.

Biografie:

Kim de l’Horizon- © Foto: Diether von Goddenthow
Kim de l’Horizon- © Foto: Diether von Goddenthow

Kim de l’Horizon, 1992 bei Bern geboren, studierte Germanistik, Film- und Theaterwissenschaften in Zürich sowie Literarisches Schreiben in Biel. Zurzeit Masterstudiengang Transdisziplinarität an der ZHdK. They ist Mitglied des Kollektivs e0b0ff und der Redaktion des Literaturmagazins delirium, außerdem Gewinner*in des Treibhaus- und OpenNet-Wettbewerbs der Solothurner Literaturtage für Prosa, des Textstreich-Wettbewerbs für Lyrik, des Dramatiker*innenförderpreises Dramenprozessor 2020 und eines Kurzfilmwettbewerbs der HAZ. Publikationen in verschiedenen Literaturmagazinen.

 

Daniela Dröscher „Lügen über meine Mutter“, Moderation: Sandra Kegel

Sandra Kegel- im Talk mit Daniela Droescher © Foto: Diether von Goddenthow
Sandra Kegel- im Talk mit Daniela Droescher © Foto: Diether von Goddenthow

Als vierte der Nominierten betritt Daniela Dröscher mit ihrem bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Roman „Lügen über meine Mutter“, die Bühne. Auch das sei ein Roman, der, so Moderatorin Sandra Kegel, aus einer autobiographischen Wunde heraus geschrieben sei. Die Autorin wuchs wie ihr Alter Ego, die kindliche Protagonistin Ela, in der örtlichen Welt des Hunsrücks auf. Vordergründig geht es um  das übermäßige Körpergewicht ihrer Mutter. Ist diese schöne, eigenwillige, unberechenbare Frau zu dick? Muss sie dringend abnehmen? Ja, das muss sie, entscheidet ihr Ehemann. Und die Mutter ist dem ausgesetzt, Tag für Tag, wobei sie sich selbst nicht als zu dick empfindet, ihre größte Lebenslüge, gleich zu Romanbeginn.
Eigentlich hatte die Mutter, Tochter schlesischer Flüchtlinge, mehr vom Leben gewollt, doch der karrierebewusste Ehemann, dessen Vorankommen sie aber ständig  selbst befeuert, kontrolliert mittlerweile alles: die Haushaltsfinanzen, den tagtäglichen Streit, ihr Übergewicht, für das sich selbst das eigene Kind schon schämt. Die Fassade der kleinbürgerlichen Aufsteigerfamilie zerbröckelt endgültig, als die Mutter in einem skurrilen Akt der Notwehr ihr unverhofftes größeres Erbe, von dem sie jedoch völlig überfordert ist und es auch nicht nutzt, um sich vom Mann zu befreien, verschleudert.

Hintergründig geht es in Dröschers Roman um die destruktiven Auswirkungen eines unbedingten Aufstiegswillen einer kleinbürgerlichen Familie. Es geht um ewiges Vergleichen mit anderen, um Konkurrenz und um das Patriarchat in den 80er Jahren einer westdeutschen Landschaft. Als Daniela Dröscher 1977 geboren wurde, wurde erst in Deutschland Frauen das Recht zugestanden, ohne Zustimmung des Ehemannes erwerbstätig sein zu können.

 Daniela Droescher © Foto: Diether von Goddenthow
Daniela Droescher © Foto: Diether von Goddenthow

Vor diesem Hintergrund erzählt die Autorin auf zwei Ebenen: aus kindlicher Perspektive einer Zehnjährigen und, strukturierend, aus der einer Erwachsenen. Erzählt wird  vom Aufwachsen in dieser dysfunktionalen Familie im Hunsrück der 1980er Jahre, die immer stärker beherrscht wird von der fixen Idee des Vaters, das Übergewicht seiner Frau wäre verantwortlich für alles, was ihm versagt bleibt: die Beförderung, der soziale Aufstieg, die Anerkennung in der Dorfgemeinschaft. Es ist diese zum  Tunnelblick verkommene fixe Idee von Prestige- und  Wohlstandsmehrung, der die Seelen abgestumpft hat: Da lässt niemand dem anderen  auch nur irgendwie einen Zentimeter. Es gibt nur Konkurrenz. Erbarmungslos sind alle gefangen in dieser unheilvollen Struktur des Aufstiegs. „Es geht darum: ‚Was hat der Nachbar?‘, ‚Wer hat überhaupt?‘, ‚Wessen Wohlstand ist eigentlich legitim?‘, und ‚Weswegen sind die, die zugezogen sind, wohlhabender, als wir?‘. Es gibt den gesellschaftlichen Druck, unter dem auch der Vater steht, oder er steckt in diesem Aufstiegsmärchen fest und ich meine, dieses System, das Wirtschaftssystem ist ja kein Geheimnis, das produziert halt Ellbogen und Konkurrenz. Davon zehrt es ja. Es ist das Lebenselixier“, so die Autorin.

Kommentar der Jury:
Daniela Dröscher erzählt ihre von essayistischen Einschüben unterbrochene literarische Mikrosoziologie aus der Kinderperspektive. Beendet ist die Geschichte vom nicht mehr wunschlosen Unglück der Mutter erst, wenn ein neues Spiel beginnt – das der eigenen Familie.

Biografie:

 Daniela Droescher © Foto: Diether von Goddenthow
Daniela Droescher © Foto: Diether von Goddenthow

Daniela Dröscher, 1977 geboren, aufgewachsen in Rheinland-Pfalz, lebt in Berlin. Sie schreibt Prosa, Essays und Theatertexte. Studium der Germanistik, Philosophie und Anglistik in Trier und London, Promotion im Fach Medienwissenschaft an der Universität Potsdam. Ihr Romandebüt „Die Lichter des George Psalmanazar“ erschien 2009 im Berlin Verlag, es folgten der Erzählband „Gloria“ und der Roman „Pola“ sowie das Memoir „Zeige deine Klasse“ bei Hoffmann & Campe. Sie wurde unter anderem mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet.

 

Kristine Bilkau „Nebenan“, Moderation: Alf Mentzer

Alf Mentzer im Talk mit Kristine Bilkau © Foto: Diether von Goddenthow
Alf Mentzer im Talk mit Kristine Bilkau © Foto: Diether von Goddenthow

Als Vorletzte der Shortlist-Matinee präsentiert Kristine Bilkau im Talk mit Alf Mentzer ihr bei Luchterhand erschienenes Werk „Nebenan“. Die Geschichte spielt in einem kleinen Ort am Nord- Ostsee-Kanal, zwischen Natur, Kreisstadt (Rendsburg) und Industrie, kurz nach dem Jahreswechsel. Mitten aus dem Alltag heraus verschwindet eine Familie spurlos. Das verlassene Haus wird zum gedanklichen Zentrum der Nachbarn: Julia, Ende dreißig, die sich vergeblich ein Kind wünscht, die mit ihrem Freund erst vor Kurzem aus der Großstadt hergezogen ist und einen kleinen Keramikladen mit Online-Shop betreibt. Astrid, Anfang sechzig, die seit Jahrzehnten eine Praxis in der nahen Kreisstadt führt und sich um die alt gewordene Tante sorgt.

Kristine Bilkau © Foto: Diether von Goddenthow
Kristine Bilkau © Foto: Diether von Goddenthow

Und dann ist da das mysteriöse Kind, das im Garten der verschwundenen Familie auftaucht. Sie alle kreisen wie Fremde umeinander, scheinbar unbemerkt von den Nächsten, sie wollen Verbundenheit und ziehen sich doch ins Private zurück. Und sie alle haben Geheimnisse, Sehnsüchte und Ängste. Ihre Wege kreuzen sich, ihre Geschichten verbinden sich miteinander, denn sie suchen, wonach wir alle uns sehnen: Geborgenheit, Zugehörigkeit und Vertrautheit. „Wir haben alle Sehnsüchte, ich finde es hochinteressant“, so die Autorin, „sich mit Sehnsüchten zu beschäftigen, weil sie auch eben so brisant sein können:“ Sehnsüchte können kommerziell ausgebeutet werden, wie zum Beispiel in der Werbung, aber auch politisch, „und da kann es richtig problematisch werden, finde ich, wenn Sehnsucht nach häuslichem Glück, nach einen einfachen Leben, einer vermeintlich besseren Vergangenheit, die es mal gegeben hat“, Menschen so beherrschten, dass sie von ihrem eigentlichen Leben abkommen.

Kommentar der Jury:
Die Keramikkünstlerin Julia führt eine liebevolle Partnerschaft, leidet aber unter ihrem unerfüllten Kinderwunsch. Astrid, Mutter von drei erwachsenen Söhnen, will sich langsam aus dem Berufsleben als Ärztin zurückziehen. Meisterhaft zeigt Kristine Bilkau anhand der Schicksale zweier Frauen in der norddeutschen Provinz, welche Abgründe in einem scheinbar alltäglichen Leben lauern. Die Stärke dieses subtil erzählten Romans liegt in den Details und den kleinen Kippmomenten – zwischen Fruchtbarkeitskliniken und verschwundenen Müttern, traumvergessenen Landschaften und illegalen Müllkippen. Nicht nur den Figuren, auch den Lesenden wird immer wieder der scheinbar sichere Grund unter den Füßen weggezogen. Doch dass Leben ohne Vertrauen nicht gelingen kann, auch davon erzählt „Nebenan“.

Biografie:

Kristine Bilkau © Foto: Diether von Goddenthow
Kristine Bilkau © Foto: Diether von Goddenthow

Kristine Bilkau, 1974 geboren, studierte Geschichte und Amerikanistik in Hamburg und New Orleans. Ihr erster Roman „Die Glücklichen“ wurde mit dem Franz-Tumler-Preis, dem Klaus-Michael-Kühne- Preis und dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Vor „Nebenan“ erschien „Eine Liebe, in Gedanken“ im Luchterhand Literaturverlag. Kristine Bilkau lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

 

Eckhart Nickel „Spitzweg“, Moderation: Christoph Schröder

Christoph Schroeder im Talk mit Eckhart Nickel. © Foto: Diether von Goddenthow
Christoph Schroeder im Talk mit Eckhart Nickel. © Foto: Diether von Goddenthow

Als letzter in der Runde stellt Moderator Christoph Schröder den   Autor Eckhart Nickel mit seinem im Piper Verlag erschienen Roman „Spitzweg“ vor. Man könne sich fragen, so Schröder, ob das ein Roman sei, der die Kunst feiere, in dem junge Menschen in der Kunst aufgingen oder erst sie selbst würden, indem sie sich eine Kunstwelt schüfen. Es geht um drei junge Menschen kurz vor dem Abitur, um ein Selbstporträt, das von einer Lehrerin geschmäht wird, um Bilder, wie man sie anschaut, und immer wieder um den Gegensatz von Künstlichkeit und Natur. Das sei etwas, was Eckhard Nickel schon in seinen vorangegangenen Roman „Hysteria“ rumgetrieben habe. „Man kann sich in diesem Buch wunderbar verlieren“, schwärmt der Moderator. Bereits den Einband ziere ein Bild von Karl Spitzweg: „Der Hagestolz“. Auf diesen werde im Roman ein Loblied gesungen:  „Was hat der Hagestolz mit diesem Roman zu tun? Wer singt dieses Loblied? Wie kommt der Hagestolz in das Buch?“, fragt Schröder.

Eckhart Nickel  © Foto: Diether von Goddenthow
Eckhart Nickel © Foto: Diether von Goddenthow

Der Bildausschnitt wäre bewusst so ausgewählt, „weil darauf eigentlich nur noch drei Figuren zu sehen sind, und damit auch schon sozusagen die Vielbezüglichkeit dieses Gemäldes eigentlich ganz gut repräsentiert wird“, erklärt Eckhart Nickel. Denn beim Hagestolz ginge es eigentlich um eine Familientragödie als Figur. „Der Solitär des Hagestolz, das ist der zweitgeborene Sohn, der dann leider nicht den Hof erbt, sondern für den zwar noch genügend übrig bleibt, dass er sich ganz ordentlich anziehen kann, wie man auf dem Bild sieht, der sich auch ein Zeitungs-Abonnement leisten kann. Aber für alles andere reicht es nicht mehr, und wie jedes Gemälde in diesem Roman, ist auch dieses nicht nur ein Bild, sondern auch ein Bilderrätsel, ein Imaginationsraum, in den sich Figuren hineinversetzen“, so der Autor, der sich einstmals eigentlich nie viel aus Kunst gemacht hatte, bis ihn  Carl, ein bewunderter Freund mit seiner Spitzweg-Begeisterung angesteckt habe. In der Mitte des Geschehens: eine Dreiecksbeziehung, ein hochbegabtes Mädchen und der verräterische Diebstahl eines Gemäldes. Durch raffinierte Rachepläne wird die Schülerfreundschaft auf ihre schwerste Probe gestellt.

Kommentar der Jury:
Eckhart Nickel gelingt mit seinem Roman „Spitzweg“ Großes: was als Schülergeschichte beginnt, wandelt sich zu einer meisterhaften Reflexion über die Beziehung von Kunst und Leben. Sehr bewusst setzt er sich mit ästhetischen Fragen auseinander, und indem er die Leser*innen zu Schüler*innen macht, werden auch komplexe Diskurse verständlich. Sprachlich souverän und voller Ironie spielt „Spitzweg“ mit einer übertriebenen Gelehrsamkeit, mit verschachtelten Satzkonstruktionen und einem antiquiert anmutenden Vokabular. Dabei ist der Roman aller philosophischen Tiefe zum Trotz äußerst temporeich, in manchen Passagen gar komödiantisch. Ein großes intelligentes Lesevergnügen, das uns veranschaulicht, wie auch über Kultur diskutiert werden kann.

Biografie:

Eckhart Nickel  © Foto: Diether von Goddenthow
Eckhart Nickel © Foto: Diether von Goddenthow

Eckhart Nickel, geboren 1966 in Frankfurt am Main, studierte Kunstgeschichte und Literatur in Heidelberg und New York. Er gehörte zum popliterarischen Quintett „Tristesse Royale“ (1999) und debütierte 2000 mit dem Erzählband „Was ich davon halte“. Nickel leitete mit Christian Kracht die Literaturzeitschrift „Der Freund“ in Kathmandu. Heute schreibt er vorwiegend für die FAS, die FAZ und ihr Magazin. 2019 erhielt er den Friedrich-Hölderlin-Förderpreis der Stadt Bad Homburg.

(Diether von Goddenthow /Rhein-Main.Eurokunst)

Weitere Informationen zum Deutschen Buchpreis.

Deutscher Buchpreis 2022: Die Preisverleihung live erleben

Literaturbegeisterte können online dabei sein, wenn der Roman des Jahres gekürt wird: Die Verleihung des Deutschen Buchpreises wird am 17. Oktober 2022 um 18 Uhr auf www.deutscher-buchpreis.de live aus dem Frankfurter Römer übertragen.
Gleichzeitig senden Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur die Veranstaltung live über den Sonderkanal „Dokumente und Debatten“ im Digitalradio und als Stream auf https://www.deutschlandradio.de/dokumente-und-debatten-102.html.

Der Stream der Preisverleihung ist auch über die Webseite der Frankfurter Buchmesse www.buchmesse.de erreichbar.

Der Deutsche Buchpreis begleitet die Veranstaltung außerdem auf Twitter: www.twitter.com/buchpreis, Hashtag: #dbp22.

Mit dem Deutschen Buchpreis zeichnet die Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels den deutschsprachigen Roman des Jahres aus. Hauptförderer des Deutschen Buchpreises ist die Deutsche Bank Stiftung, weitere Partner sind die Frankfurter Buchmesse und die Stadt Frankfurt am Main.