Deutscher Buchpreis 2020 – Die Autoren der Shortlist stellten in einer Livesendung im Literaturhaus Frankfurt ihre Werke vor

 (v.l.): Anne Weber, Deniz Ohde, Bov Bjerg, Dorothee Elmiger.© Foto: Diether v. Goddenthow
(v.l.): Anne Weber, Deniz Ohde, Bov Bjerg, Dorothee Elmiger.© Foto: Diether v. Goddenthow

Wegen Corona ein wenig in abgespeckter Version, aber dafür als Live-Stream produziert, präsentierten am27. September 2020 das Kulturamt der Stadt Frankfurt und das Literaturhaus Frankfurt in Kooperation mit der Stiftung Buchkultur und Leseförderung
des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels traditionell die Autoren der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2020. Der stets am Montag vor Eröffnung der Buchmesse verliehene Deutsche Buchpreis sei „die wirkungsmächtigste Auszeichnung für deutschsprachige Literatur seit 15 Jahren“, begrüßte Hauke Hückstädt, Leiter des Literaturhauses, die über 700 Zuschauer in Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie die rund 50 Gäste des Auditoriums, unter ihnen die vier angereisten Shortlist-Nominierten: Dorothee Elmiger, Deniz Ohde, Bov Bjerg und Anne Weber und die Kritiker Miriam Zeh und Christoph Schröder. Christine Wunnicke („Die Dame mit der bemalten Hand“) und Thomas Hettche („Herzfaden“) fehlten wegen der Pandemie.

Vom Glück im Zuckerland

Dorothee Elmiger © Foto: Diether v. Goddenthow
Dorothee Elmiger © Foto: Diether v. Goddenthow

Zum Auftakt des Literaturnachmittags stellte Christoph Schröder, Freier Autor und Kritiker sowie Dozent für Literaturkritik an den Universitäten Frankfurt am Main und Köln, die Schweizer Schriftstellerin Dorothee Elmiger mit ihrem Buch „Aus der Zuckerfabrik“ (Hanser) vor. Elmiger ist gleich zweimal nominiert. Sie steht auch auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises. Zuckerfabrik ist das dritte Buch von ihr. Es trüge keine Gattungsbezeichnung und habe auch keinen ganz so leicht nachvollziehbaren stringenten Plot, eröffnete Schröder das Gespräch. Sehr vereinfacht gesagt, so Schröder, sei die „Zuckerfabrik“ (Hanser) eine hochspannende Mischung aus Essay und erzählenden Text „Das ist der Versuch, Kolonialismus, Kapitalismus. Literaturgeschichte, Lektüre und das eigene Leben, Denken und Erleben der Erzählerin immer wieder in neuen Konstellationen zueinander zu bringen, um daraus selbst wiederum Text zu generieren“. Ausgangspunkt zur ihrer Geschichte, so Elmiger, war eine Reportage über den ersten Schweizer Lottomillionär Werner Bruni 1979, der relativ schnell das Geld wieder verloren hat. In seinen Memoiren, die er zusammen mit einem Ghostwriter verfasst hat, erzählt er, dass die glücklichste Zeit seines Lebens, die er verbracht hat, eine Reise in die Karibik nach Haiti war, nicht um dort Urlaub zu machen, sondern um für eine Bekannte aus der Schweiz in deren Ferienhaus die Duschen und Toiletten zu installieren. Bruni‘s Lebensgeschichte nachzuspüren, und das Aufeinandertreffen seiner glücklichsten Zeit auf Haiti als eine historisch sehr wichtige Insel, der Geschichte von Kolonialismus und des Zuckeranbaus, haben mich interessiert. Hier greifen Kolonialismus, Kapitalismus und Literaturgeschichte unerwartet ineinander.

Die verinnerlichte Abwertung und der erfolgreiche Versuch von Selbstbefreiung

Deniz Ohde  © Foto: Diether v. Goddenthow
Deniz Ohde © Foto: Diether v. Goddenthow

Deniz Ohde, die vor einem Jahr noch am Rande eines feministischen Literaturfestivals ein Buch signierte, hat ihren ersten Roman als erzählerische Bildungsbiografie eines Frankfurter Mädchen mit Migrationshintergrund verfasst. Ihre Gesprächspartnerin ist Miriam Zeh, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungskolleg „Schreibszene Frankfurt“ der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und freie Redakteurin und Moderatorin in der Buchredaktion des Deutschlandfunks, hat Ohde zuvor schon begleitet.

Ohde zeigt am Beispiel ihres eigenen Erfolgs, dass sie, die Tochter eines deutschen Industriearbeiters und einer türkischen Einwanderin, die einst am Identitätsabgrund stand und schmerzhaft das Ausgeschlossensein des „abgehängten Prekariats“ durchlitt, dennoch nicht Opfer wurde. Vielmehr avancierte sie zur Akteurin ihres Schicksals, ihres eigenen Erfolges inmitten  und trotz all der vorhandenen Ungerechtigkeiten unserer Gesellschaft.

In ihrem Werk geht die Autorin weit zurück in ihre Kindheit, und während sie die alten Wege geht, so beschreibt es der Klappentext, „erinnert sie sich: an den Vater und den erblindeten Großvater, die kaum sprachen, die keine Veränderungen wollten und nichts wegwerfen konnten, bis nicht nur der Hausrat, sondern auch die verdrängten Erinnerungen hervorquollen. An die Mutter, deren Freiheitsdrang in der Enge einer westdeutschen Arbeiterwohnung erstickte, bis sie in einem kurzen Aufbegehren die Koffer packte und die Tochter beim trinkenden Vater ließ. An den frühen Schulabbruch im Gymnasium und die Anstrengung, im zweiten Anlauf Versäumtes nachzuholen, an die Scham und die Angst – zuerst davor, nicht zu bestehen, dann davor, als Aufsteigerin auf ihren Platz zurückverwiesen zu werden. Deniz Ohde erkundet in ihrem Debütroman die feinen Unterschiede in unserer Gesellschaft. Satz für Satz spürt sie den Sollbruchstellen im Leben der Erzählerin nach, den Zuschreibungen und Erwartungen an sie als Arbeiterkind, der Kluft zwischen Bildungsversprechen und erfahrener Ungleichheit, der verinnerlichten Abwertung und dem Versuch, sich davon zu befreien.“
„Keiner ist nur depressiv“

Bov Bjerg © Foto: Diether v. Goddenthow
Bov Bjerg © Foto: Diether v. Goddenthow

Bov Bjerg, insbesondere durch seinen früheren Bestseller „Auerhaus“ bekannt, las zunächst aus seinem Roman „Serpentinen“ (Claassen-Verlag) der – nach dem Leipziger Buchpreis – in diesem Jahr bereits zum zweiten Mal für einen Buchpreis nominiert ist. In seiner Geschichte, in der ein Vater von Berlin aus mit seinem kleinen Sohn seine Heimat, die schwäbische Alb bereisen, geht es vor dem Hintergrund einer vom Fluch der Depression verfolgten Familie, um die Bodenlosigkeit dieser Krankheit, auch als Metapher für die Serpentinen gesellschaftlicher Abgründe deutscher Vergangenheit. Urgroßvater, Großvater, Vater des Erzählers haben sich allesamt das Leben genommen: „ertränkt, erschossen, erhängt“, und dennoch, so Christoph Schröder, habe dieser Roman immer wieder auch heitere Passagen.– „Es gibt keinen Menschen, der nur depressiv und suizidgefährdet ist – ich wollte keinen Roman schreiben, der nur aus Düsterkeit besteht“, betonte Bjerg, der es mit seiner Erzählweise sehr gut versteht,“ finster-komische Momente“ so zu setzen, dass er es schafft  vom eigentlich Unaussprechlichen zu erzählen.

Über die Wichtigkeit des Ungehorsams

Anne Weber  © Foto: Diether v. Goddenthow
Anne Weber © Foto: Diether v. Goddenthow

Den Abschluss im Reigen der Buchvorstellungen bestritten Miriam Zeh und Annette Weber mit „Annette, ein Heldinnenepos“ (Matthes & Seitz), worin sie die Lebensgeschichte der 96-jährigen französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir als Epos erzählt und in ein grandioses Stück Literatur verwandelt. . „Das Buch ist mein Blick auf ihr Leben, es ist nicht ihr Leben“ betont sie. Die Protagonistin war Weber durch ein Zuhörer-Redebeitrag bei einem NS-Gedenksymposium in Südfrankreich aufgefallen, als sie merkte, dass diese alte Frau viel mehr über all das wusste, als sie selbst. Und sie bemühte sich, später beim Dinner den Platz neben ihr zu bekommen. Aus diesem Gespräch entstand die Idee zu diesem Buch. Unzählige Male besuchte sie Anne Beaumanoir zu Interviews und setzte ihr mit „Annette, ein Heldinnenepos“ ein literarisches Denkmal. Obgleich ein Roman, verzichtete Weber darauf, ihrer Protagonistin irgendwelche erfundenen Wörter oder Sätze in den Mund zu legen. „Ziel war es, fiktiv zu bleiben und nur zu erzählen, was ich von ihr weiß“, unterstrich die Autorin.
Anne Beaumanoir wurde 1923 in der Bretagne geboren, wuchs auf in einfachen Verhältnissen und wurde schon als Jugendliche Mitglied der kommunistischen Résistance. Sie rettete zwei jüdische Jugendliche, wofür sie von Yad Vashem später den Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“ erhält. Sie arbeitete nach dem Krieg als Neurophysiologin in Marseille. 1959 wurde Beaumanoir zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wegen ihres Engagements auf Seiten der algerischen Unabhängigkeitsbewegung. Sie ist noch heute an Schulen ein lebendiges Beispiel für die Wichtigkeit des Ungehorsams. In „Annette, ein Heldinnenepos“ erzählt Anne Weber das turbulente Leben der Anne Beaumanoir in einem biografischen Heldinnenepos, wobei die geschilderten Szenen viele Fragen aufwerfen, unter anderem: „Was treibt jemanden in den Widerstand? Was opfert er dafür? Wie weit darf er gehen? Was kann er erreichen?“

Informationen Deutscher Buchpreis

Literaturhaus Frankfurt – Seit 30. September wieder geöffnet