„Verborgene Schönheit – Kunstformen der Natur“ 18. Feb. – 16. Mai 2016 im Landesmuseum Darmstadt

Dr. Jutta Reinisch, wissenschaftliche Voluntärin, erläutert die erotische Haar-Symbolik  von Quallen-Tentakeln im Jugendstil. Foto © massow-picture
Dr. Jutta Reinisch, wissenschaftliche Volontärin, erläutert die erotische Haar-Symbolik von Quallen-Tentakeln im Jugendstil. Foto © massow-picture

Ernst Haeckel wollte in seinen allgemeinverständlichen Schriften der bereiteren Öffentlichkeit die Schönheit der Meereslebewesen näher brinen, die er jahrzehntelang auf seinen Reisen und am Mikroskop erforschte. Er prägte auch den Begriff der Ökologie und verbreitete im deutschsprachigen Raum die Evolutionslehre Darwins. Sein Vermächtnis innheralb der Biologie ist gewaltig. Er entdeckte über 3.500 neue Arten, darunter zwei Quallen-Arten, die er nach seiner jung verstorbenen Ehefrau Anna (geb. Sethe) benannte: „Desmonema annasethe“ und „Mitrocoma annae“, was so viel wie Annas Haarband bedeutete. Denn er verglich die wehenden Quallenarme mit dem Haar seiner geliebten Verstorbenen. Diese Symbolik von Quallenzotteln (Tentakeln) als weibliches wehendes Haar fanden später Eingang in Kunst und Jugendstil,  die Frauen der Natur und dem fließenden Elementen zuordneten. Auf zahlreichen Darstellungen und Mustern wehen ihre langen Haare  wie Quallenarme oder locken sich wie Tentakel.

© Landesmuseum Darmstadt
© Landesmuseum Darmstadt

Nun hat das Hessische Landesmuseum Darmstadt über diese und viele andere „Kunstformen der Natur“ eine sensationelle Ausstellung zusammengestellt. Aus eigenen Beständen zeigt es in seiner Karl Freund-Galerie der Graphischen Sammlung die komplette Folge der „Kunstformen der Natur“, die der Biologe Ernst Haeckel (1834 – 1919) um 1900 schuf. Die Ausstellung stellt die hundert Tafeln in den kunst-, kultur- und naturgeschichtlichen Kontext und fragt, woraus sich die Ästhetik der „Kunstformen“ speist. Ornamentstiche seit dem 15. Jahrhundert, Druckgraphik und Kunstobjekte des Jugendstils sowie modernes Design und naturwissenschaftliche Objekte treten in einen Dialog.

Mit Martin Schongauer, Meister E. S., Emile Gallé, Joseph Maria Olbrich, Hans Christiansen und vielen weiteren sind herausragende Künstler der Darmstädter Sammlung vertreten. Kunst- und Naturobjekte verbinden sich seit der Wiedereröffnung des Hauses zum ersten Mal in einer übergreifenden Ausstellung.

Er holte verborgene Schätze aus den Meerestiefen ans Licht: Der Zoologe Ernst Haeckel veröffentlichte 1899 bis 1904 seine „Kunstformen der Natur“. Dieses Mappenwerk mit erklärenden Texten und hundert farbigen Lithographien winziger Meereslebewesen und anderer Tiere sollte Künstlern und Publikum das näher bringen, was sonst dem Auge unsichtbar bleibt.
In den kunstvollen Lithographien sind Radiolarien (mikroskopisch kleine Einzeller), Quallen und andere Lebewesen symmetrisch und in strengen, linearen Formen auf Papier gebannt.

Foto © massow-picture
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Ernst Haeckel wollte mit seinen „Kunstformen der Natur“ einen Wegweiser und neue Vorbilder für die Künstler seiner Zeit schaffen, aber sein Werk ist auch beeinflusst von der Kunst vergangener Jahrhunderte. Schon lange zuvor hatten Künstler die Natur als Inspirationsquelle gewählt und natürliche Formen in Kunst verwandelt. Haeckel wollte die Natur selbst als die größte Künstlerin zeigen; in seinen minutiös abgezeichneten stereometrischen Formen bildete sich für ihn Schönheit und Gesetzmäßigkeit aller Natur ab.

Geschichte von der Gefangenen Prinzession, 1842. Aus einer Wurzel (Rübe) erwächst die ganze Geschichte. Foto © massow-picture
Geschichte von der gefangenen Prinzessin, 1842. Aus einer Wurzel (Rübe) erwächst die ganze Geschichte. Foto © massow-picture

Die Ausstellung verortet die „Kunstformen der Natur“ im zeitgenössischen Kontext von Naturwissenschaft und Kunst. Sie präsentiert ausgewählte zoologische und geologische Präparate sowie stilbildende naturwissenschaftliche Illustrationen der Zeit ebenso wie ornamentale Graphik vom 15. Jahrhundert bis zum Jugendstil, die Naturformen in Kunst verwandelte. Die Ausstellung bietet aber nicht nur einen Rückblick auf den langen Weg der Kunst und Wissenschaft bis zu Haeckels Blättern, sondern beleuchtet in einem Ausblick auch den Einfluss von Haeckels „Kunstformen“ auf die spätere Kunst: Seit der Jahrhundertwende orientieren sich Künstler, Architekten und Designer weltweit an den „Kunstformen der Natur“. Objekte aus der reichen Jugendstil-Sammlung des Hauses, aber auch Klassiker des modernen Designs illustrieren den starken Einfluss der „Kunstformen“ bis heute.

Die Ausstellung erstreckt sich über vier Säle. Der Rundgang kann von beiden Seiten her erfolgen.

Foto © massow-picture
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Raum 1: Haeckels „Kunstformen der Natur“
Die hundert „Kunstformen der Natur“ wurden zwischen 1899 und 1904 in zehn Lieferungen zu je zehn Blatt publiziert. Die Hängung folgt dieser Publikationsform und ermöglicht zugleich einen Überblick über das gesamte Mappenwerk. Die Besucher und Besucherinnen können hier verweilen und die Gesamtschau auf sich wirken lassen.

Raum 2: Die Tradition der Ornamentstiche und die „Kunstformen der Natur“

Vierblätter aus "Anweisung zur Zeichnung neuen Laubwerks" von Johann Baur, Augsburg 1681 - 1760. Foto © massow-picture
Vierblätter aus „Anweisung zur Zeichnung neuen Laubwerks“ von Johann Baur, Augsburg 1681 – 1760. Foto © massow-picture

Schon seit Anbeginn setzten sich Menschen mit Naturformen auseinander, zeichneten sie ab oder stilisierten sie und nutzten sie zu Dekorationszwecken. Auch Ernst Haeckel wollte mit seinen „Kunstformen der Natur“ dem Kunstgewerbe seiner Zeit Vorlagen bieten, an die Künstler ohne die Hilfe der Wissenschaft nicht herangekommen wären. Er steht in dieser didaktischen Absicht in der viel älteren Tradition der Ornamentstiche und Musterbücher. Der zweite Raum der Ausstellung ist deshalb Ornamentstichen und ornamentaler Druckgraphik vom 15. bis zum 19. Jahrhundert gewidmet, beginnend mit Israhel van Meckenem und Martin Schongauer über Augsburger Ornamentstecher des Rokoko bis zur Druckgraphik vom Biedermeier bis zum Jugendstil. Frühe Figurenalphabete kombinierten natürliche Formen zu Grotesken und verbanden sie zu neuen Abstrakta, zu Schrift. Über die Jahrhunderte hinweg blieben einige stilisierte Naturformen besonders populär, darunter bestimmte Rankenformen, Grotesken und Arabesken.

Muschel-Ei mit zwei Flakons um 1830, Perlmutt. Foto © massow-picture
Muschel-Ei mit zwei Flakons um 1830, Perlmutt. Foto © massow-picture

Die Ornamentstiche, meist Vorlagen für Möbel und Gebrauchsgegenstände, werden mit ausgewählten kunstgewerblichen Objekten konfrontiert, die einen Blick auf die Umsetzung solcher Vorlagen und den Vergerlauben. Schon in  Rennaissance und Barock wurden Nautilus- und Schneckengehäuse zu Gefäßen verarbeitet. Die äußere Schicht wurde mit Säuren abgebeizt oder abgeschliffen, damit das glänzende Perlmutt (siehe Abbildung Muschel-Ei) zutage trat. Im Anschluss wurden die Gefäße golden montiert.

Kleine Judendstil- Tischlampe, Kreiselschnecke, Messing, versilbert, Wien um 1900 Foto © massow-picture
Kleine Judendstil- Tischlampe, Kreiselschnecke, Messing, versilbert, Wien um 1900 Foto © massow-picture

Oft zeigen diese Einfassungen den Meeresgott Neptun und Wassertiere und verbinden die Muschelhülle auch motivisch mit dem Meer. Im Jugendstil wurden Schneckenschalen ebenfalls als Dekor genutzt, hier ist die Verbindung aber eher organisch: Das Kleid der zarten Nymphe und die Silbermontierung erinnern an Algen, lange Haarflechten oder Winden, wie bei der kleinen Wiener Tischlampe (siehe Abbildung) aus einer Kreiselschnecke, in Messing gefasst versilbert, um 1900.

3. Raum: Natur in der Kunst des Jugendstils und im Design 

Jugendstil-Schmuckentwürfe. Foto © massow-picture
Jugendstil-Schmuckentwürfe. Foto © massow-picture

Ausgewählte Druckgraphik und Kunstobjekte – Keramik, Glas, Schmuck, darunter Objekte Emile Gallés und der Darmstädter Jugendstilkünstler Joseph Maria Olbrich und Hans Christiansen  lassen die motivischen und stilistischen Bezüge zu Haeckels „Kunstformen“ anschaulich werden: Die „Kunstformen“ strahlten auch auf die Mathildenhöhe aus. Schmuckentwürfe Joseph Maria Olbrichs können die Tendenz des Jugendstils zur Symmetrisierung und Stilisierung natürlicher Formen verdeutlichen, Entwürfe Hans Christiansens belegen die Aufnahme maritimer Wesen in die Dekoration. Zu den jüngsten Exponaten gehört zeitgenössisches Design, das sich explizit auf Haeckel beruft; die Leuchten des preisgekrönten Designstudios Bernotat & Co. nehmen Radiolarienformen auf. Die Designer werden im Rahmen des Begleitprogramms zur Ausstellung am 8.5. einen Vortrag zum Thema „Design und Natur“ halten.

4. Raum: Die naturwissenschaftliche Basis

Modell von Chrysaora Mediterranea, 2015, Susann Steinmetzger, zeigt sehr anschaulich die haarhafte Symbolik der Tentakeln, wie sie insbesondere in die Frauendarstellungen im Jugendstil einflossen. Foto © massow-picture
Quallen-Skulptur 2015 von Susann Steinmetzger aus Kunstharz meisterhaft nachgebildet, teilweise gefasst,. Es handelt sich um ein Modell der Desmonema Annasethe. Verbreitungsgebiet: nördlicher Atlantik und Pazifik. Ernst Haeckel benannte die von ihm entdeckte Quallenart nach seiner an ihrem 30. Geburtstag verstorbenen Ehefrau. In „Kunstformen der Natur“ schrieb er: „Der Speziesname dieser prachtvollen Discomeduse – verewigt die Erinnerung an Anna Sethe, die hochbegabte feinsinnige Frau, welcher der Verfasser dieses Tafelwerkes die glücklichsten Jahre seines Lebens verdankt.“ Foto © massow-picture

Der letzte Raum dieser Folge, den der Besucher als ersten betritt, ist naturwissenschaftlichen Präsentationsformen gewidmet. Echte Präparate werden stark stilisierenden zoologischen Lehrtafeln gegenübergestellt, so dass der Einfluss zeitgenössischer naturwissenschaftlicher Illustration auf die Ästhetik der „Kunstformen“ deutlich wird. Eigens angefertigte Quallennachbildungen treten in einen Dialog mit dem Natur- und Frauenbild des Jugendstils.
Der Blick auf Haeckels letzte Publikation, „Kristallseelen“, die sein Lebenswerk abrunden sollte, und auf seinen Bezug zur Geologie bildet den Abschluss. Kristalle im Urzustand werden dem künstlerischen Endprodukt, den Schmuckstücken, gegenübergestellt.

Verantwortlich:

(v.l) Dr. Mechthild Haas, Leiterin der Graphischen Sammlung Die wissenschaftlichen Volontäre: Dr. Davide Dossi, Kunst, Dr. Jutta Reinisch, Kunst Dr. Karen Ziaja, GeologieFoto © massow-picture
(v.l) Dr. Mechthild Haas, Leiterin der Graphischen Sammlung Die wissenschaftlichen Volontäre: Dr. Davide Dossi, Kunst, Dr. Jutta Reinisch, Kunst Dr. Karen Ziaja, Geologie, Foto © massow-picture

Dr. Mechthild Haas, Leiterin der Graphischen Sammlung
Die wissenschaftlichen Volontäre:
Dr. Davide Dossi, Kunst
Dr. Katrin Friedemann, Zoologie
Dr. Jutta Reinisch, Kunst
Dr. Karen Ziaja, Geologie

Veranstaltungsort:
Hessisches Landesmuseum Darmstadt
Friedensplatz 1, 64283 Darmstadt

 

Laufzeit:
18. Februar – 16. Mai 2016
Öffnungszeiten
Dienstag, Donnerstag, Freitag 10.00 – 18.00 Uhr
Mittwoch 10.00 – 20.00 Uhr
Samstag, Sonn- und Feiertag 11.00 – 17.00 Uhr
Montag geschlossen

Ticket
Erwachsene 6, ermäßigt 4 Euro
Das Ticket berechtigt auch zum Besuch der Ständigen Sammlung.
Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren haben freien Eintritt.

Katalog
Im Eigenverlag erscheint ein Katalog zu 10 Euro.