„Plastic World“ Die Materialgeschichte und Ästhetik von Plastik in der Bildenden Kunst in der Schirn Kunsthalle Frankfurt ab 22.06.2023

Die Schirn Kunsthalle Frankfurt widmet vom 22. Juni bis zum 1. Oktober 2023 der bewegten Geschichte von Plastik in der bildenden Kunst erstmals eine große Themenausstellung. Diese eröffnet das breite Panorama der künstlerischen Verwendung und Bewertung des Materials von den 1960er-Jahren bis heute. Das Spektrum reicht von der Euphorie der Popkultur über den futuristischen Einfluss des Space Age und die Trash-Arbeiten des Nouveau Réalisme bis zu ökokritischen Positionen der jüngsten Zeit; es umfasst Architekturutopien ebenso wie Experimente mit Materialeigenschafte. © Foto Diether von Goddenthow
Die Schirn Kunsthalle Frankfurt widmet vom 22. Juni bis zum 1. Oktober 2023 der bewegten Geschichte von Plastik in der bildenden Kunst erstmals eine große Themenausstellung. Diese eröffnet das breite Panorama der künstlerischen Verwendung und Bewertung des Materials von den 1960er-Jahren bis heute. Das Spektrum reicht von der Euphorie der Popkultur über den futuristischen Einfluss des Space Age und die Trash-Arbeiten des Nouveau Réalisme bis zu ökokritischen Positionen der jüngsten Zeit; es umfasst Architekturutopien ebenso wie Experimente mit Materialeigenschafte. © Foto Diether von Goddenthow

Plastik, das „Wundermaterial“, ist in Verruf geraten. Es ist  ein rohölbasierter, synthetischer Werkstoff, welcher wohl wie kaum ein anderer Gesellschaften  in so kurzer Zeit weltweit beeinflusst und verändert hat, nicht zuletzt auch das Schaffen von  Künstlerinnen und Künstlern, die „das“ Plastik seit den 1960er Jahren mehr und mehr  als idealen Werkstoff für sich entdeckten.

Vor diesem Hintergrund   widmet die Schirn Kunsthalle Frankfurt vom 22. Juni bis zum 1. Oktober 2023 der bewegten Geschichte von Plastik in der bildenden Kunst erstmals eine große Themenausstellung. Dabei versammelt die Schirn 100 Werke von über 50 inter­na­tio­na­len Künst­lern und Künstlerinnnen, die auf unter­schied­lichste Weise mit Kunst­stoff arbei­ten, darun­ter Monira Al Qadiri, Archi­gram, Arman, César, Christo, Haus-Rucker-Co, Eva Hesse und Hans Hollein, Niki de Saint Phalle usw.. Es wird sicht­bar, wie sich der erfolg­rei­che viel­sei­tige Werk­stoff Plas­tik in seiner kurzen Geschichte vom Inbe­griff für Fort­schritt, Moder­ni­tät, utopi­schem Geist und Demo­kra­ti­sie­rung des Konsums zu einer Bedro­hung der Umwelt wandelte.
SCHIRN KUNST­HALLE FRANK­FURT am Main GmbH
Römer­berg
D-60311 Frank­furt am Main
Tel +49 69 299882-0
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Einführung:

Plastic World, Otto Piene, Anemones: An Air Aquarium, 1976, Neuproduktion 2023, Installationsansicht, © Foto Diether von Goddenthow
Plastic World, Otto Piene, Anemones: An Air Aquarium, 1976, Neuproduktion 2023, Installationsansicht, © Foto Diether von Goddenthow

Plastik ist eine Substanz, die Kunst und Gesellschaft in einem kurzen Zeitfenster radikal verändert hat. Plastik ist der Wunderstoff, aus dem man beinahe alle erdenklichen Dinge erstellen kann – vom Turnschuh über den Zahnersatz bis zum Computer. Hart oder flexibel, transparent, opak, gemustert, glatt, zart oder bunt, kann Plastik fast jede Form annehmen. Für die Kunst war und ist Plastik ein Vehikel der Innovation. Seinen großen Durchbruch hatte es dort parallel zu den Konsumwellen seit den 1950er-Jahren mit ihrer Massenproduktion und einer Massenkultur, die sich für Nylonhemden und Tupperware begeisterte. Auf der Suche nach dem Neuen wurde in der Kunst mit den jeweils neuesten verfügbaren Stoffen experimentiert, sei es Plexiglas, Styropor, Silikon, Vinyl oder Polyurethan. Das Gebrauchsmaterial der Industriegesellschaft ist im 20. und 21. Jahrhundert der zentrale Rohstoff für die künstlerische Arbeit. Die bildende Kunst erzählt auf diese Weise eine hoch interessante Materialgeschichte mit nie gekannten Möglichkeiten für die Künstlerinnen und Künstler: Arman benutzt Acrylglas, Cesar Polyurethan, ebenso Lynda Benglis. Alina Szapocznikow kaut Kaugummi, HazMatLab produziert Schleim oder wie Monira Al Qadiri Skulpturen mit dem 3D-Drucker. James Rosenquist zeigt seine Motive auf Polyesterfilm, der kurz zuvor von der NASA für die Raumfahrt entwickelt wurde. PVC-Rohre werden ebenso verarbeitet wie Plastikschläuche, zersägte Schaufensterpuppen, Industrielacke, überhaupt industrielle Werkstoffe, banale Alltagsdinge oder auch deren Überreste, etwa alte Rasierapparate, ausrangierte Kabel oder Computerplatinen.

KURATORIN Dr. Martina Weinhart, Schirn hat gemeinsam mit ihrer Assistentin  Anna Huber eine wunderbare Überblicks-Schau geschaffen. © Foto Diether von Goddenthow
KURATORIN Dr. Martina Weinhart, Schirn hat gemeinsam mit ihrer Assistentin Anna Huber eine wunderbare Überblicks-Schau geschaffen. © Foto Diether von Goddenthow

Die Ausstellung „Plastic World“ widmet sich diesem zentralen Material der zeitgenössischen Kunst. Es ist Symptom und Symbol unserer Massengesellschaft, die spätestens seit den 1950erJahren auch eine Wegwerfgesellschaft ist. Dabei eröffnet die Ausstellung ein breites Panorama der künstlerischen Verwendung und Bewertung von Plastik, die den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext spiegelt und nicht selten Überraschungen birgt. Sie reicht von der Euphorie der Popkultur in den 1960er-Jahren über den futuristischen Einfluss des Space Age und die Trash-Arbeiten des Nouveau Realisme, Architekturutopien, Experimente mit Materialeigenschaften bis zu ökokritischen Positionen der jüngsten Zeit. Die Bestandsaufnahme unseres Plastikzeitalters zeigt in mehreren Kapiteln die Vielfalt der Stoffe, Formen und Materialien in der Kunst, die dieser omnipräsente Stoff in seiner kurzen Geschichte seit den 1960er-Jahren durchlaufen hat. Damals wurde das Plastic Age geboren und damit auch eine Materialkultur, die noch heute dominiert und von der wir uns unter ökologischem Druck gerade zu befreien suchen. Als geschichtsloser Alleskönner war Plastik einmal das Material der Zukunft, inzwischen schaut man eher auf die synthetische Ewigkeit, die wir mit ihm verbringen werden. Plastik ist gekommen, um zu bleiben. Insgesamt hat sich Kunststoff zu einer kulturellen Kraft mit fundamentalem Einfluss entwickelt. Also begeben wir uns auf die Suche nach seiner Ästhetik, denn Plastik ist, um mit Roland Barthes zu sprechen, ,,im Grunde ein Schauspiel, das entziffert werden muss“.

PLASTIC POP
Plastik ist Pop, in Kunst und Design gleichermaßen beliebt und steht in den 1960er-Jahren für den neuen Lifestyle der Jugend, die sich von der konservativen Elterngeneration absetzen will. Plastik ist bunt, hat grelle Farben. Plastik ist schlichtweg das ikonische Material der Zeit. „Everybody’s plastic – but I love plastic. I want to be plastic“, schreibt Andy Warhol und lässt synthetische Silver Clouds (1966) durch den Raum schweben. Merce Cunningham tanzt mit ihnen und baut sie 1968 kongenial in seine Choreografie RainForest ein. James Rosenquist bannt seine Motive auf riesige Vorhänge aus Polyesterfilm, experimentiert spektakulär mit den Materialeigenschaften der Mylar-Folie und erweitert auf diese Weise gleichermaßen die Malerei und den traditionellen Kanon der Kunstgeschichte. Fasziniert von den Banalitäten der Konsumkultur und den Dingen des täglichen Lebens, baut Claes Oldenburg Waschbecken, Eisbeutel oder Lichtschalter aus Vinyl. Thomas Bayrle spiegelt mit seiner Tassentasse (1969/96) die Begeisterung der Pop Art für das neue Material, das auch er als Fetisch der Alltagskultur karikiert. Oyvind Fahlströms raffinierte Umkodierung des Markenzeichens ESSO in LSD persifliert 1967 auf spielerische und provokante Weise die Logokultur der Werbung – und reflektiert nicht zuletzt die Allgegenwärtigkeit der Petrochemie als Basis dieser Kultur.

PLASTIK KÖRPER

In der männlich dominierten Kunst der 1960er-Jahre ist der nach eigenen Wünschen formbare weibliche Körper omnipräsent, etwa bei Tom Wesselmann oder John de Andrea. Dieser Körper findet durch seine direkte Abformung mittels Silikons und in der Ausführung in Polyester eine kongeniale Materialität. Nun ist ein vorher nie gekannter Realismus – der Hyperrealismus – möglich. Zunächst weniger prominent, nehmen sich im Umfeld der Pop Art aber auch Künstlerinnen wie Nicola L., Evelyne Axell, Niki de Saint Phalle und Lourdes Castro der Formen des Körpers an. Kiki Kogelnik dreht den Spieß um. Für ihre Cut-outs schneidet sie häufig die Konturen ihrer männlichen Künstlerkollegen aus. Am Boden liegend dienen sie ihr dafür als Modelle. Nicola L. setzt sich offensiv damit auseinander, wie der weibliche Körper zum Objekt wird. Augenzwinkernd und provokativ macht sie ihn zum variablen Sofamöbel. Evelyne Axell schließlich schafft selbstbewusst weibliche Akte in erotischer Pose. Niki de Saint Phalle macht mit ihren Nanas üppige Frauenfiguren jenseits körperlicher Normen zu Ikonen einer feministischen Kunstgeschichte.

Ausstellungsansicht Plastic World - im Vordergrund: Monira Al Qadiri, Orbital 1, 2022 © Foto Diether von Goddenthow
Ausstellungsansicht Plastic World – im Vordergrund: Monira Al Qadiri, Orbital 1, 2022 © Foto Diether von Goddenthow

OTTO PIENE, ANEMONES: AN AIR AQUARIUM

Nicht selten wird Plastik zu begehbaren Environments geformt. Otto Pienes Anemones: An Air Aquarium (1976) macht die Unterwasserwelt in Form von riesigen aufblasbaren und durchsichtigen Seeanemonen und anderen Unterwasserwesen erfahrbar. Es wurde zuerst 1976 für die Organisation Creative Time in New York produziert. Die zu ihrer Entstehungszeit rein poetische und spielerische Arbeit erhält in ihrer heutigen Rekonstruktion oder Wiederaufführung eine Erweiterung der Perspektive: Die historische Sichtweise von Plastik als gefeiertem Werkstoff für die Kunst wird durch den Diskurs um die Verschmutzung der Meere durch Plastik und Mikroplastik überlagert. Pienes Arbeit veranschaulicht die Ambivalenz des Materials Plastik. Exemplarisch wird in ihr auch die Zeitgebundenheit von Plastik, die es notwendig macht, historische Arbeiten wie diese neu zu produzieren, da die Ursprungsversion durch den Verfall des Vinyls mittlerweile nicht mehr funktionstüchtig und präsentabel ist. Auch dies ist ein Aspekt des Verhältnisses von Natur und Künstlichkeit.

NATUR UND KÜNSTLICHKEIT

Industrielle Werkstoffe werden zur Darstellung oder gar für ein Ersatz-Erlebnis der Natur genutzt – der Gegensatz könnte nicht größer sein. Er beschäftigt eine ganze Reihe von Künstler*innen. In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre erkunden Arbeiten im Umfeld der italienischen Arte Povera das Verhältnis von Natur und Künstlichkeit. Man interessiert sich für „arme“, gewöhnliche Materialien, und auch Banales soll zum Kunstwerk werden. Gleichzeitig sind in Italien die neuen synthetischen Materialien durch die Innovationsschübe des überaus lebendigen Designsektors besonders präsent. Dies führt zu einer lebendigen Überschneidung und gegenseitigen Befruchtung der Bereiche Kunst und Design. Vor diesem Hintergrund betreiben Künstler wie Gina Marotta oder Piero Gilardi die Subversion traditioneller Konzepte von Mimesis in der Darstellung der Natur. Wie aus einem riesigen Modellbaukasten fügt Marotta ein künstliches Paradies zusammen: Eden Artificiale (1967-1973). Für seine alternative Natur verwendet er transparentes Acrylglas, den wohl haltbarsten Kunststoff überhaupt. In spielerischer Leichtigkeit präsentiert uns Marotta keimfreie und nüchterne Acrylglas-Abstraktionen einer offensiven NichtNatur. Das genaue Gegenteil ist die ästhetische Strategie des Arte-Povera- Künstlers und Umweltaktivisten Piero Gilardi, der mit seinen Tappeti Ausschnitte aus der Natur entwirft. Sie bestehen aus Polyurethanschaum und erscheinen so täuschend echt, dass sie mit dem bloßen Auge kaum als künstlich zu enttarnen sind. In perfekter Mimikry entstehen ein synthetischer Dschungel oder ein artifizieller Strand. Die „Tappeto-Natura“ zielt in ihrer hyperrealistischen Nachbildung auf die Erfahrung der Betrachter*innen. Sie ist einer relationalen Ästhetik verbunden und auch dem sozialen Anliegen, dem Publikum drängende umweltpolitische Probleme nahezubringen.
Andere greifen die Idee der offensiven Künstlichkeit auf. Der französische Maler Bernard Rancillac bannt das Bild eines Dschungels auf eine gefärbte Acrylglasscheibe. Die Belgierin Evelyne Axell kombiniert für Le Pre (1970) eine Clartex-Platte mit grünem Kunstfell und vereint in flachem Relief eine Frau mit einer Wiese. 1987 verbindet der US-Amerikaner Mike Kelley eine ganze Reihe von niedlichen Plüschtieren zu einem ironischen Plush Kundalini Chakra Set.

 

PLASTIKUTOPIEN

Weltraumforschung, Raumfahrttechnologie und nicht zuletzt die Mondlandung selbst hinterlassen einen tiefen Eindruck in der Popkultur, dem Design und dem utopischen Geist der 1960er-Jahre. Inspirierend wirkt vor allem die Apollo-Mission der NASA mit eigens entwickelten High-TechMaterialien wie etwa der Mylar-Folie für die Raumanzüge mit integriertem Helm. Vor allem die Jugend ist von der coolen technoiden Asthetik fasziniert. Filme wie Barbarella oder 2001: Odyssee im Weltraum (beide 1968) begeistern das breite Publikum. Gleichzeitig prägt eine Atmosphäre des Aufbruchs die Gesellschaft. Im Space-Age-Style kommuniziert das Material Kunststoff einen unerschütterlichen Glauben an die Zukunft und den gesellschaftlichen Wandel. Futuristische, aber auch spielerische und hedonistische Formen scheinen die Regeln der Schwerkraft hinter sich zu lassen. Schwerelosigkeit, Leichtigkeit, Mobilität, Flexibilität und nicht zuletzt das Arbeiten im Kollektiv stehen für diese Zeit.

Die britische Gruppe Archigram entwirft assoziative Bildmontagen mit einer gewisse Nähe zur Pop Art wie etwa Instant City, Glamour (1969), die sie ab 1961 im Magazin Archigram publizieren. Bei ihren Utopien und visionären Modellen geht es um die Idee, nicht um die Ausführung. So ist Air Hab (1966) der Entwurf für eine Klimakapsel, in der die High-TechFantasie durch Kunstgras und Picknickdecke ironisiert wird. In San Francisco gründen Chip Lord und Doug Michels 1968 die Gruppe Ant Farm, Ausdruck einer Gegenkultur, in der die Künstler eher eine Rockband als herkömmliche Architekten sein wollen. Im selben Jahr kommen in Wien Wolf Prix, Helmut Swiczinsky und Michael Holzer zu Coop Himmelb(l)au zusammen. Ein Jahr zuvor schließen sich dort Günter Zamp Kelp, Laurids Ortner und Klaus Pinter zu Haus-Rucker-Co zusammen, später stößt noch Manfred Ortner hinzu.

Utopische Objekte erweitern Körper und Räume und öffnen neue Wege der Wahrnehmung und Kommunikation. Neue Körpererfahrungen im urbanen Raum gehören ebenso dazu wie bewegliche Raumhüllen aus Kunststoff. Hans Hollein schlägt 1969 ein aufblasbares Mobiles Büro vor, Walter Pichler 1964 einen Kleinen Raum, den man mit sich herumtragen kann, fast wie ein Astronaut seinen Helm. Temporäre Architekturen und aufblasbare Strukturen wie bei Graham Stevens spielen eine große Rolle. Erfindungsreich und nonkonformistisch setzt man die Leichtigkeit des Materials gegen verstaubte Traditionen. Wegweisend war der US-Amerikaner Richard Buckminster Fuller, der ein systematisches Zusammenwirken von Technik und sozialen Aspekten unter Verwendung von neuen Materialien untersuchte. Seine geodätischen Kuppeln prägten ganze Generationen. Auch der Niederländer Constant hat mit seinen utopischen Entwürfen für ein ,,Neues Babylon“ entscheidende Impulse geliefert. Die Nähe zwischen Architektur und bildender Kunst zeigt sich in seinen architektonischen Skulpturen wie Konstruktion mit durchsichtigen Flächen (1955), die das synthetische Material für ein freies Spiel utopischer Ideen nutzen.

MATERIALEXPERIMENTE

Im 20. Jahrhundert fanden Kunststoffe den Weg in die Kunst, anfangs in engen Grenzen, verstärkt seit den 1960er-Jahren. Voller Begeisterung für das Neue wurde mit den jeweils aktuellsten verfügbaren Stoffen experimentiert. Plastik kann fast jede Form annehmen, hart oder flexibel sein, transparent, opak, gemustert, glatt oder strukturiert. Die Wahl des Materials ist ein entscheidender Faktor bei der Entstehung eines Werks, und so werden Kunststoffe in ungeheurer Experimentierfreude genutzt: Der französische Bildhauer Cesar faltet MethacrylatFolien zu einer Compression (1970) oder gießt in seinen Expansions Polyurethan in freie Formen. Die Amerikanerin Lynda Benglis integriert die Fragilität von Polyurethanschaum in das Konzept der performativen Schüttungen ihrer Frozen Gestures. Von den Arbeiten bleibt oft nur die Dokumentation. Das gleiche gilt für die Photosculptures (1971) der polnischen Künstlerin Alina Szapocznikow, performativen Skulpturen aus gekauten Kaugummis. Eva Hesse wiederum entwickelt Mitte der 1960er-Jahre ein singuläres künstlerisches Werk zwischen Minimal Art, Surrealismus und Konzeptkunst, in dem der Materialität ein zentraler Platz zukommt. Mit der Bereitschaft der Künstlerinnen, gänzlich neue Wege zu gehen, nehmen die radikalen Experimente von Eva Hesse und Lynda Benglis eine Vorreiterrolle ein, nicht zuletzt im Rahmen einer feministischen Kunstgeschichte.

In Deutschland ,,malt“ Gerhard Hoehme seine informellen Kastenobjekte mit Nylonschnüren oder arrangiert diese zu einem Strahlenfall (1968). Ferdinand Spindel, der sich ganz auf Kunststoff als Material konzentriert, nutzt die Flexibilität von Schaumstoff für Objekte seiner Soft Art. Sein Kollege Joachim Bandau verwendet in seinen Parodien einer Gebrauchsästhetik Materialien wie aus dem Baumarkt-Armaturen, PVC-Rohre, Plastikschläuche, aber auch zersägte Schaufensterpuppen, die er mit Industrielacken überzieht. Hans Haacke schließlich untersucht in Welle mit Unterbrechung (1965) die physikalischen Eigenschaften von Acrylglas und verweist nicht zuletzt auf dessen Nutzung in Forschung und Technik.

Heute trägt das Frankfurter Künstlerinnenkollektiv HazMatLab (Sandra Havlicek, Tina Kohlmann und Katharina Schücke) das Experiment bereits mit einiger Ironie in seinem Namen. Die Künstlerinnen nutzen ungewöhnliche Substanzen wie synthetischen Schleim, industrielle Nagellacke, aber auch das neuere 3D-Druck-Verfahren für ihre kreative Materialforschung.

PLASTIC TRASH

Niki de Saint Phalle © Foto Diether von Goddenthow
Niki de Saint Phalle © Foto Diether von Goddenthow

Bereits in den 1960er-Jahren interessieren sich Künstler des Nouveau Réalisme wie etwa Cesar oder Arman weniger für das glatte, schöne Material als für das, was am Ende übrig bleibt. In ihren Assemblagen nehmen sie den Konsumrausch der westlichen Welt in den Jahrzehnten nach dem Krieg ins Visier. Dabei spiegeln sie aber eher die dunkle Seite der Wegwerfgesellschaft. Anfang der 1960er-Jahre häuft Arman in seinen Poubelles (Mülleimern) aus Acrylglas das AbfallSammelsurium seiner Zeit an. Er stellt einen Kasten voller alter Rasierapparate aus und konterkariert auf diese Weise die Plastikbegeisterung der Popkultur. Die Nouveaux Réalistes nehmen eine grundsätzliche Umwertung tradierter Vorstellungen vom Kunstwerk und seiner Materialität vor.

So auch Christo. Seine Arbeit lebt aus dem Paradox, banale Dinge des Alltags gerade durch ihre Verhüllung sichtbar zu machen. Ein frühes Beispiel ist Look (um 1965): Einen Stapel von Ausgaben des gleichnamigen Magazins umschließt eine Hülle aus Synthetikmaterial. Die Verpackung nimmt in der kapitalistischen Wirtschaft eine zentrale Rolle ein, die Verpackungsindustrie ist ein Motor der Wegwerfgesellschaft. Indem er die Gewichtung von Verpackung und Inhalt austauscht, macht Christo die Verpackung selbst zum Hauptakteur seiner Kunst. Auf diese Weise enthüllt er die Mechanismen unserer Konsumgesellschaft. Heute ersticken wir mehr denn je in Plastikmüll, und so nehmen Künstler*innen den gesamten Lebenszyklus von Plastik ins Visier. Francis Alÿs zeigt in seinem Film Barrenderos (2004) Straßenkehrer bei ihrer nächtlichen Arbeit in Mexico City. Der Müll, den sie entsorgen, besteht hauptsächlich aus Plastikflaschen und anderen Plastikverpackungen. Der Äthiopier Elias Sime fertigt großformatige Materialcollagen aus Dingen, die man auf den Märkten in Addis Abeba oder an anderen Orten des globalen Südens finden kann. Bei näherer Betrachtung enthüllen die abstrakten Arbeiten, dass sie aus Zivilisationsabfall zusammengebaut wurden. Elektroschrott, Computerplatinen aus Kunststoff oder plastikummantelte Kabel fügen sich zu einer besonderen Kartografie unserer Gegenwart zusammen.

ÖKOKRITIK

Das Anthropozän hat seine Spuren hinterlassen. Plastik hat alle Lebenswelten durchdrungen: die Meere ebenso wie die Strände, die Wälder, die Landschaft, den Stadtraum, die Körper der Menschen wie der Tiere. Plastik ist unaufhaltbar und kaum einzugrenzen. Mikroplastik und Nanoplastik findet man in der Tiefsee, in der Arktis und in den Organen von Lebewesen. Die naive Begeisterung für Plastik in all seinen Erscheinungen hat ein Ende gefunden. Die Ölkrisen der 1970er-Jahre, Massenkonsum und Wegwerfgesellschaft sowie deren lnfragestellung bewirkten im Laufe der Zeit eine Umwertung. Vom Symbol für Fortschritt, Modernität, utopischen Geist und Demokratisierung des Konsums wandelte sich Plastik zur ökologischen Zeitbombe. Diesen nachhaltigen Mentalitätswandel der Gesellschaft spiegeln Werke einer jüngeren Künstlergeneration wider. Ihre ökokritischen Arbeiten formulieren Einwände vor allem gegen den übermäßigen Gebrauch von Plastik im Alltag.

Monira Al Qadiri befasst sich mit der Dominanz der Ölindustrie, die ihr aus ihrer Kindheit in Kuwait vertraut ist. Die Petrokultur und ihre globalen Auswirkungen durchdringen ihr gesamtes Werk. Sie hat die unterschiedlichen Formen von Bohrköpfen für Ölbohrungen zum Vorbild für eine Reihe von Skulpturen genommen, die sich wie Preziosen in der Auslage eines Juweliers auf Sockeln drehen. Mit ihrer irisierenden, perlmuttähnlichen Oberfläche erscheinen die Objekte wie majestätische Kronen – Fetische der Golfregion, Trophäen des Anthropozäns. Dennis Siering wiederum hat aus Pyroplastik ein künstlerisches Projekt gemacht. Dabei handelt es sich um an Stränden, auf Schiffen oder in Mülldeponien verbrannte Plastikteile, die auf verschiedenen Wegen in die Ozeane geraten sind. Sie sind durch jahrzehntelange Erosion so geformt, dass sie mit dem bloßen Auge kaum von natürlichen Steinen zu unterscheiden sind. Der dänische Künstler Tue Greenfort, der sich in zahlreichen Projekten mit der Ökologie, der Natur und unserem Umgang mit ihr beschäftigt hat, wirft in seiner jüngsten Arbeit einen Blick auf die Entdeckung von Studierenden der Yale-University, die im Amazonas-Regenwald feststellten, dass ein Pilz mit dem Namen Pestalotiopsis microspora offenbar tatsächlich in der Lage ist, Plastik zu verstoffwechseln. Er konsumiert Polyurethan und wandelt es in organisches Material um. Pinar Yoldaş, die an der Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft tätig ist, entwickelt seit 2014 An Ecosystem of Excess. Im Zentrum stehen die Ozeane – einstmals Ursprung des Lebens und heute von Plastik durchseucht. Ausgehend vom Great Pacific Garbage Patch, einem riesigen Müllteppich zwischen Hawaii und Kalifornien, kreiert sie ein posthumanes Ökosystem. Dort leben spekulative Organismen, die sich diesen Bedingungen evolutionär angepasst haben und Kunststoffe verarbeiten können. An Ecosystem of Excess ist im Senckenberg Naturmuseum Frankfurt zu sehen.

VERFÜHRERISCHES PLASTIK
Was fasziniert uns eigentlich an dem Material Plastik? Vielleicht die Farben – Rot, Gelb, Grün, Lila –, leuchtend in allen möglichen Schattierungen oder zart, pastellig, transparent? Oder auch die plakative Künstlichkeit der Oberflächen, die Glätte, wenn es neu und unberührt ist, die Reinheit suggeriert, Unschuld, Sauberkeit? Die Welt der cleanen Oberflächen erschlossen die sogenannten Finish Fetish Artists im Kalifornien der späten 1960er-Jahre – inspiriert durch Surfboards, Autolacke und das grelle Licht, das alles bescheint. Craig Kauffman ist einer von ihnen und der erste Künstler, der die industrielle Technik des Vakuumformens von Duroplast in der Kunst anwendet, nachdem er sich 1964 bei Planet Plastics mit dem Verfahren vertraut gemacht hat. Mit seinen minimalistischen Reliefs aus transluzenten und transparenten Materialien ist er ein perfekter Vertreter des L.A.-Look, passend zum sleeken Image der WestCoast-Metropole. Wegen der Perfektion seiner glänzenden, beinahe feucht schimmernden Oberflächen wird diesen Objekten nicht selten eine nahezu erotische sensuelle Qualität bescheinigt.

John de Andrea, Woman Leaning Against Wall, 1978. © Foto Diether von Goddenthow
John de Andrea, Woman Leaning Against Wall, 1978. © Foto Diether von Goddenthow

Ähnliches gilt für die Skulpturen von Berta Fischer, die in Transparenz und Leichtigkeit im Raum schweben. Die Künstlerin verwendet nahezu ausschließlich normierte und handelsübliche Plexiglasplatten in unterschiedlichen Farbtönen, nicht selten Neonfarben, die sich durch die makellose Glätte ihrer Oberflächen auszeichnen. Fischer nutzt die Formbarkeit der Platten durch Hitzeeinwirkung und schickt die einzelnen Segmente durch eine riesige Mangel. Dabei entstehen komplexe Konstruktionen in formalem Reichtum. Künstlichkeit als Konzept bewegt auch Richard Artschwager in seiner Arbeit zwischen Pop Art, Konzeptkunst und Minimalismus. Er ist bekannt für seine möbelähnlichen Objekte, die Materialien wie Resopal oder andere Imitate nutzen – künstliche und billige Baustoffe, die häufig in amerikanischen Haushalten verwendet werden. Dieser Materialfamilie entstammt auch Exclamation Point (Chartreuse) (2008), für das er grüngelbe Plastikbürsten zu einem riesigen, demonstrativ im Raum platzierten Ausrufezeichen kombiniert. Der amerikanische Objektkünstler Paul Thek schließlich konfrontiert in seinen Technological Reliquaries spannungsreich die organische Textur des als Reliquie eingeschlossenen Fleischstücks aus Wachs mit der Glätte des umschließenden Behälters, der in seiner Form und dem neongrünen Plastik so gar nicht zu den üblichen Vorstellungen von einem traditionellen Reliquienschrein passt. Paul Theks Reliquiare schreien den Gegensatz der Materialien geradezu heraus, zwischen dem verrottenden Fleisch und seiner schrillen neonfarbenen Umhüllung in brillanter, scheinbar unverrottbarer Künstlichkeit.

PASCALE MARTHINE TAYOU, L’ARBRE A PALABRES

In seinen oft monumentalen Installationen verwendet Pascale Marthine Tayou aus Kamerun, der heute in Belgien lebt, dünne bunte Plastiktüten, wie man sie zuhauf in seiner afrikanischen Heimat benutzt, oder auch Plastikwannen, -eimer oder -schüsseln, die die Krone eines verstörend schönen künstlichen Baumes formen. Vor dem Hintergrund seiner postkolonialen Erfahrung verweist Tayou plakativ auf den üblichen massenhaften Gebrauch des günstigen Materials (nicht nur) in Afrika und liefert zugleich einen Kommentar über den Zustand unserer Ökosysteme.

Kooperation mit Senckenberg-Naturmuseum  – Pınar Yoldaş zeigt im Saal der Wale die Installation An Ecosystem of Excess

Pathologisch-anatomischen Präparaten zum Verwechseln echt,  präsentiert die Künstlerin Pınar Yoldaş ihre Arbeiten "An Ecosystem of Excess, 2023" im Saal der Wale des Senckenberg-Museums als Beitrag zur Ausstellung „Plastic-World“ (22.Juni bis 01.Oktober 2023) in der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Man sieht hier schwebend in einer Flüssigkeit präsentiert, künstlerisch kreierte Organsysteme, die Plastik aufnehmen, verdauen, ausscheiden und umwandeln können. Leider können sich Meerestiere  noch nicht von Plastikmüll ernähren, viele Fische und Seevögel verhungern oftmals qualvoll mit einem plastikmüllgefüllten Magen. Die Werke sollen aufrütteln.© Foto Diether von Goddenthow
Pathologisch-anatomischen Präparaten zum Verwechseln echt, präsentiert die Künstlerin Pınar Yoldaş ihre Arbeiten „An Ecosystem of Excess, 2023″ im Saal der Wale des Senckenberg-Museums als Beitrag zur Ausstellung „Plastic-World“ (22.Juni bis 01.Oktober 2023) in der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Man sieht hier schwebend in einer Flüssigkeit präsentiert, künstlerisch kreierte Organsysteme, die Plastik aufnehmen, verdauen, ausscheiden und umwandeln können. Leider können sich Meerestiere noch nicht von Plastikmüll ernähren, viele Fische und Seevögel verhungern oftmals qualvoll mit einem plastikmüllgefüllten Magen. Die Werke sollen aufrütteln.© Foto Diether von Goddenthow

Der Wandtext beschreibt Yoldas Werk: „Das Anthropozän hat seine Spuren hinterlassen. Plastik hat alle Lebenswelten durchdrungen: die Meere ebenso wie die Strände, die Wälder, die Landschaft, den Stadtraum, die Körper der Menschen wie der Tiere. Mikroplastik und Nanoplastik findet man in der Tiefsee, der Arktis und den Organen von Lebewesen. Plastik ist unaufhaltbar, kaum einzugrenzen – und hat sich zudem als ökologische Zeitbombe herausgestellt. Eine jüngere Generation von Künstler*innen formuliert in ökokritischen Arbeiten Einwände gegen den übermäßigen Gebrauch von Plastik im Alltag und reflektiert die Folgen für unsere Umwelt. An der Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft entwickelt Pınar Yoldaş seit 2014 die Arbeit An Ecosystem of Excess. Im Zentrum ihrer Installation stehen die Ozeane – einstmals Ursprung des Lebens und heute von Plastik durchseucht. Yoldaş’ Ausgangspunkt ist der Great Pacific Garbage Patch, ein riesiger Müllteppich zwischen Hawaii und Kalifornien. Immer häufiger verenden Meereslebewesen in Fangnetzen der Fischerei oder verwechseln Plastikmüll mit Nahrung. Die verschluckten Kunststoffteile verletzen oder verstopfen ihren Verdauungstrakt. Als Folge verhungern sie trotz voller Mägen. Hier präsentiert Pınar Yoldaş neu entstandene Lebewesen, die auf biologischen Annahmen basieren. Diese erdachte Spezies kann die Energie aus dem künstlichen Material für sich nutzen und Kunststoff verstoffwechseln. Das Werk Plastic Eating Mammal zeigt eine Verschmelzung aus Kalifornischem Schweinswal und den Amazonas-Flussdelfinen. Die neu entstandene Kreatur hat veränderte Körperteile. So haben sich ihr Schädel, Gliedmaßen und die Wirbelsäule weiterentwickelt. Dadurch besitzt das Wesen die Fähigkeit, den Plastikmüll zu verdauen und Fischernetze mit den Zähnen zu durchschneiden. Somit kann es im mit Plastik gefüllten Ozean überleben. Die Künstlerin kreiert ein posthumanes Ökosystem, in dem spekulative Organismen leben. Sie schlägt vor, wie zukünftiges Leben aussehen könnte, wenn es aus den von Plastik verschmutzten Meeren entstehen würde. Das Plastic Eating Mammal kann als Mahnmal für die Belastungen und Herausforderungen gelesen werden, denen die Meeresbewohner im 21. Jahrhundert ausgesetzt sind. Dieser Raum entstand in Kooperation mit der Schirn Kunsthalle Frankfurt im Rahmen der Ausstellung Plastic World (22.6.– 1.10.2023). Die Themenausstellung beleuchtet die Geschichte der Kunststoffe in der Kunst und eröffnet ein breites Panorama der künstlerischen Verwendung und Bewertung von Plastik im Spiegel der Gesellschaft.“

Siehe Senckenberg-Museum

 

Direktor Sebastian Baden © Foto Diether von Goddenthow
Direktor Sebastian Baden © Foto Diether von Goddenthow

KATALOG PLASTIC WORLD, herausgegeben von Martina Weinhart, mit Beiträgen von Heather Davis, Anna Huber, Dietmar Rübel, Pamela Voigt, Friederike Waentig und Martina Weinhart, sowie einem Vorwort des Direktors der Schirn Kunsthalle Frankfurt Sebastian Baden, deutschenglische Ausgabe, 256 Seiten, ca. 190 Abbildungen, 22 × 28 cm, Hardcover, Hatje Cantz Verlag, ISBN 978-3-7757-5467-5, 39 € (Schirn), 48 € (Buchhandel)

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