KOLLWITZ – Städel Museum Frankfurt widmet Deutschlands berühmtestem Künstler vom 20. März bis 9. Juni 2024 eine große Schau

Käthe Kollwitz, Selbstbildnis mit aufgestütztem Kopf, 1889/91 © Städel Museum
Käthe Kollwitz, Selbstbildnis mit aufgestütztem Kopf, 1889/91 © Städel Museum

„Es gibt neben Käthe Kollwitz wohl keine andere Künstlerin in Deutschland, die sich so selbstbestimmt und zielstrebig eine derart frühe und anhaltende Karriere erstritt. Ihr Schaffen wirkte bis in die USA und nach China – und wurde von vielen gesellschaftlichen wie politischen Ismen instrumentalisiert, gerade auch im Nachkriegsdeutschland. Sie ist die berühmteste deutsche Künstlerin des 20. Jahrhunderts und doch eine Ausnahmeerscheinung: Käthe Kollwitz (1867– 1945)“, unterstreicht Philipp Demandt, Direktor des Städel Museums beim Pressegespräch.

Deutschlands berühmtester Künstler ist eine Frau namens Käthe Kollwitz

Käthe Kollwitz ist nicht nur Deutschlands berühmteste Künstlerin, sondern auch Deutschlands berühmtester Künstler. „Kein anderer deutscher Künstler und keine andere Künstlerin, haben im 20. Jahrhundert eine auch nur annähernd so breite künstlerische, soziale und politische Rezeption erfahren, wie Käthe Kollwitz.“, so Philipp Demandt.  Keinem anderen Künstler seien allein drei monographische Museen in einem und demselben Land gewidmet. Nach keinem anderen Künstler würden 46 Schulen, 327 Straßen, 75 Wege, 13 Ringe, 11 Plätze, 2 Alleen , 2 Siedlungen, 2 Ufer, und je ein Hof, ein Park, eine Promenade sowie eine Brücke bekannt wie im Fall Käthe Kollwitz, hat der Städeldirektor nachgewiesen. Ausnahme, so Demandt: Bei Straßennamen läge Albrecht Dürer im Ranking  vorn. „Ohne Zweifel und Übertreibung“, so Demandt, „war und ist Käthe Kollwitz die berühmteste bildende Künstlerin der deutschen Geschichte. Das Gesicht dieser Frau, hier schmollend, Sie kennen es alle, in rund 100 Selbstporträts verewigt und auf Millionen von Postkarten, Plakaten und Publikationen und Briefmarken verbreitet, war schon lange vor 1989 zu der moralisch geistigen Ikone angesichts der Wechselfälle des 20. Jahrhunderts geworden, und, das ist wichtig zu betonen, in beiden Teilen des lange geteilten Deutschlands, das, wenn auch unter unterschiedlichen Vorzeichen rezipiert.“

Die große Kollwitz-Schau vom 20. März bis 9. Juni 2024

Das Städel Museum Frankfurt präsentiert vom  20. März bis 9. Juni 2024 mit "KOLLWITZ" Deutschlands berühmteste Künstlerin. © Foto Diether von Goddenthow
Das Städel Museum Frankfurt präsentiert vom 20. März bis 9. Juni 2024 mit „KOLLWITZ“ Deutschlands berühmteste Künstlerin. © Foto Diether von Goddenthow

Das Städel Museum Frankfurt widmet dieser wichtigen Künstlerin der Klassischen Moderne nach bald 60 Jahren nicht gezeigter Kollwitz-Schätze im Städel-Archiv die große Sonderausstellung „Kollwitz“ vom 20. März bis 9. Juni 2024. Auf zwei Etagen im Ausstellungshaus werden die  Vielfalt, Sprengkraft und Modernität von Käthe Kollwitz Werks präsentiert. Dabei soll dieser deutsche ‚Mythos Kollwitz‘ beleuchtet und vermittelt werden. „Für unser Haus gilt dies erst recht, als das Städel Museum Werke von Käthe Kollwitz bereits zu ihren Lebzeiten erwarb und seit dem Ankauf der Sammlung Goedeckemeyer durch die Stadt Frankfurt 1964 einen fundierten Bestand vor allem ihrer Druckgrafik bewahrt. Unsere Besucherinnen und Besucher erwartet mit dieser Ausstellung die Begegnung mit einer Künstlerin, deren Werk bis heute nichts an Aktualität verloren hat.“, so der Museumsdirektor beim Pressegespräch.

Kollwitz ging als Künstlerin eigene Wege: Sie entschied sich ebenso kühn wie zielstrebig nicht für Malerei, sondern vor allem für Druckgrafik und Zeichnung und fand darin zu einer eigenständigen Bildsprache von eindringlicher Unmittelbarkeit. In ihrer Kunst verhandelte sie aus neuer Perspektive existenziell menschliche Fragen, auch unbequeme Themen, und wollte damit auf die Gesellschaft einwirken.
Künstlerin und Werk wurden nicht zuletzt deshalb in Deutschland nach 1945 politisch vereinnahmt – eine Rezeption, die in der breiten Öffentlichkeit bis heute nachwirkt.

Ausstellungs-Impresseion, hier im Bereich "Käthe Kollwitz politisch"  © Foto Diether von Goddenthow
Ausstellungs-Impresseion, hier im Bereich „Käthe Kollwitz politisch“ © Foto Diether von Goddenthow

Ausgehend von dieser komplexen Rezeptionsgeschichte sowie dem umfangreichen, eigenen Bestand und bereichert um Werke aus führenden Museen und Privatsammlungen zeigt die Ausstellung mehr als 110 eindrucksvolle Arbeiten auf Papier, Plastiken und frühe Gemälde der Künstlerin, darunter herausragende Leihgaben unter anderem aus dem Berliner Kupferstichkabinett, dem Käthe Kollwitz Museum Köln, dem Art Institute of Chicago, dem Sprengel Museum Hannover oder der Staatsgalerie Stuttgart. Pointiert bezeugen diese Werke Kollwitz’ Entscheidung für das Medium Grafik sowie ihre Experimentierfreude und Unangepasstheit. Sie offenbaren die Besonderheit ihrer Themen, ihres Formenvokabulars und ihrer kompositorischen Dramaturgie. Darüber hinaus befasst sich die Ausstellung mit dem Spannungsfeld zwischen Ästhetik und Politik in ihrem Werk. Ein Überblick über die deutsch-deutschen Lesarten der Künstlerin nach 1945 reflektiert abschließend die Wirkmacht kulturpolitischer Erzählungen.

Käthe Kollwitz, das deutsche politische Gewissen nach dem Kriege. © Foto Diether von Goddenthow
Käthe Kollwitz, das deutsche politische Gewissen nach dem Kriege. © Foto Diether von Goddenthow

Regina Freyberger, Leiterin der Graphischen Sammlung ab 1800 am Städel Museum und Kuratorin der Ausstellung: „Es ist äußerst herausfordernd, völlig unvoreingenommen zu bleiben, denn wir tragen immer – bewusst oder unbewusst – unsere eigenen Vorstellungen und Erfahrungen mit uns. Dies gilt besonders bei einer Künstlerin wie Kollwitz, die durch Schul- oder Straßennamen, Briefmarken und Reproduktionen ihrer Werke seit Jahrzehnten zu unserem Alltag gehört. Dass sie zu den großen Ausnahmeerscheinungen in der Kunst der Klassischen Moderne zählt, kann dadurch schnell in Vergessenheit geraten. Dabei ist das Werk von Kollwitz experimentierfreudig, unkonventionell und außerordentlich konsequent. Kollwitz weigerte sich, Kunst nur um ihrer selbst willen zu schaffen, und traf daher die radikale Entscheidung, vor allem grafisch zu arbeiten. Sie wählte anti-bürgerliche, letztlich auch politische Themen und verhandelte sie aus neuen Blickwinkeln in einer einprägsamen, bis heute packenden Bildsprache. Ihre Kunst ist, wie große Kunst immer, zeitlos und zeitlos aktuell.“

Käthe Kollwitz. Turm der Mütter vor einem Gräberfeld, Verdun, erster Weltkrieg. © Foto Diether von Goddenthow
Käthe Kollwitz. Turm der Mütter vor einem Gräberfeld, Verdun, erster Weltkrieg. © Foto Diether von Goddenthow

Die Ausstellung wird gefördert durch die DZ BANK, die Gemeinnützige Kulturfonds Frankfurt RheinMain GmbH und den Städelschen Museums-Verein e. V. mit den Städelfreunden 1815. Weitere Unterstützung erfährt das Vorhaben durch die Georg und Franziska Speyer’sche Hochschulstiftung, die Wolfgang Ratjen Stiftung und die Aventis Foundation.

„Wir freuen uns sehr, mit der Unterstützung der Kollwitz-Ausstellung erneut unsere langjährige Verbundenheit mit dem Städel Museum auszudrücken, die bereits vor mehr als 15 Jahren mit der Übergabe eines Konvoluts von 220 Fotografien aus der renommierten Fotosammlung der DZ BANK für die Sammlung Gegenwartskunst im Städel ihren Anfang nahm. Kollwitz’ Druckgrafiken und Zeichnungen lassen mit ihrer forcierten Nahsicht und der betonten Ausleuchtung bisweilen an Fotografien denken, ein Medium, das die Entwicklung der Künste im 19. Jahrhundert nachhaltig beeinflusste. Kollwitz, die in einer Zeit radikaler Umbrüche lebte und arbeitete, schuf zudem Werke, die, wie Fotografien häufig auch, Ausdruck gesellschaftlicher Veränderung sind. Wir wünschen allen Besucherinnen und Besuchern dieser Ausstellung einen neuen, anregenden Blick auf Käthe Kollwitz“, so die Co- Vorstandsvorsitzenden der DZ BANK AG Uwe Fröhlich und Dr. Cornelius Riese.

Sammlung Goedeckemeyer im Städel Museum

© Foto Diether von Goddenthow
© Foto Diether von Goddenthow

Das Städel Museum verdankt seine umfangreichen Bestände zu Käthe Kollwitz dem Frankfurter Kunstkenner und Grafiksammler Helmut Goedeckemeyer (1898–1983). Als Zeitgenosse der Künstlerin begann er nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Sammeln ihrer Werke und baute über Jahrzehnte eine der größten deutschen Privatsammlungen von Arbeiten der Künstlerin auf. Sie umfasst die meisten ihrer in Auflage erschienen Druckgrafiken sowie einzelne überarbeitete Zustandsdrucke, Zeichnungen und Bronzeskulpturen: im Ganzen mehr als 200 Werke. Da Goedeckemeyer seine Sammlung der Forschung und für zahlreiche Kollwitz- Ausstellungen aktiv zur Verfügung stellte, ermöglichte er nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen westdeutschen Städten eine erneute Auseinandersetzung mit der in der NS- Zeit verfemten Künstlerin. Im Städel, dem er seit den 1920er-Jahren eng verbunden war, wurde die Sammlung 1958 und 1965 gezeigt. Sie wurde 1964 von der Stadt Frankfurt für die Städtische Galerie im Städelschen Kunstinstitut erworben und ergänzt seitdem den Kollwitz-Bestand, der bereits unter dem damaligen Städel Direktor Georg Swarzenski ins Museum kam. Im Städel zählt die Kollwitz-Sammlung heute zu den umfangreichsten Werkkomplexen der klassischen Moderne.

Kollwitz – Eine Einführung in die Ausstellung

Impression, Bereich "Sonderweg Grafik". © Foto Diether von Goddenthow
Impression, Bereich „Sonderweg Grafik“. © Foto Diether von Goddenthow

Die künstlerische Vielfalt von Kollwitz veranschaulicht zu Beginn der Ausstellung eine Reihe außergewöhnlicher Selbstbildnisse. Kollwitz, die in den rund 55 Jahren ihrer Schaffenszeit in Zeichnung, Druckgrafik und Plastik über 100 Selbstporträts schuf, setzte sich in diesen Werken nicht nur mit ihrer eigenen Person oder der Rolle als Künstlerin, Frau und Mutter auseinander, sondern erprobte hier auch technische Verfahren sowie Haltungen und Mimik für spätere Kompositionen (vgl. Selbstbildnis mit vorgestreckter Hand, ca. 1900).

Käthe Kollwitz. Skulptur Die Klage. Modell 1938 /40. Guss von 1960. © Foto Diether von Goddenthow
Käthe Kollwitz. Skulptur Die Klage. Modell 1938 /40. Guss von 1960. © Foto Diether von Goddenthow

Die Ausstellung richtet den Blick in den folgenden Kapiteln auf das Kühne und Moderne im Schaffen von Kollwitz und befasst sich zunächst mit ihrer Entscheidung für die Druckgrafik. Trotz einer Ausbildung zur Malerin wandte sich die junge Künstlerin im Winter 1890/91 konsequent diesem Medium zu – ein riskanter Schritt, denn Druckgrafik wurde damals zwar wieder verstärkt als eigenständige künstlerische Ausdrucksform geschätzt, doch behielt die Malerei ihre Vorrangstellung. In der Ausstellung sind – neben frühen Gemälden – erste Radierwerke sowie Studienblätter aus dieser Schaffensphase zu sehen, die eindrücklich die Wechselwirkung zwischen Zeichnung und Radierung nachvollziehbar machen.

Käthe Kollwitz "Vergewaltigt" (Ausstellungsbereich Bauernkriege) von 1907 /8  © Foto Diether von Goddenthow
Käthe Kollwitz „Vergewaltigt“ (Ausstellungsbereich Bauernkriege) von 1907 /8 © Foto Diether von Goddenthow

Schon in ihren frühen Werken verhandelte Kollwitz aktuelle, existenziell menschliche Themen. Von Schriftstellern wie Gerhart Hauptmann oder Émile Zola inspirierte Grafiken befassen sich etwa mit dem Verhältnis der Geschlechter. Zeichnungen wie Frauenschicksal (Martyrium der Frau) (ca. 1889) behandeln anhand der Gretchen- Figur aus Goethes Faust das schwierige Schicksal unverheirateter schwangerer Frauen. Auch später reflektierte Kollwitz den Erfahrungshorizont von Frauen – eine damals für das Werk einer Künstlerin ungewöhnliche und emanzipierte Perspektive.

Kollwitz erarbeitete sich ihre einprägsame, unmittelbar packende Bildsprache über einen teils langwierigen Werkprozess. Ihre stärksten Kompositionen zeichnen sich durch große Nahsicht, dynamische Zuspitzungen und eine Konzentration auf die menschliche Figur aus. In der Ausstellung werden diese dramaturgischen Mittel durch die Gegenüberstellung von einzelnen Blättern aus der Folge Ein Weberaufstand (1893–1897) mit Werken Max Klingers verdeutlicht, den Kollwitz sehr schätzte. Außerdem werden der Entstehungsprozess und die Zuspitzung einer Komposition anhand der Radierung Beim Dengeln (1905), dem dritten Blatt der Folge Bauernkrieg (1902/03–1908), nachvollzogen. Die siebenteilige Radierfolge, die Kollwitz’ Erfolg als Grafikerin begründete, offenbart schließlich den unkonventionellen Umgang der Künstlerin mit der Erzählform des Zyklus und eine spürbar politische Haltung.

Käthe Kollwitz "Zertretene", 1900. Auf Holbeins radikales Gemälde "Der tote Christus im Grab von 1521/22 (Kunstmuseum Basel) griffen im späten 19. Jahrhundert auch Kollwitz' ehemaliger Lehrer Karl Stauffer-Bern und Max Klinger zurück - allerdings unter Aufgabe der ursprünglich religiösen Bedeutung. © Foto Diether von Goddenthow
Käthe Kollwitz „Zertretene“, 1900. Auf Holbeins radikales Gemälde „Der tote Christus im Grab von 1521/22 (Kunstmuseum Basel) griffen im späten 19. Jahrhundert auch Kollwitz‘ ehemaliger Lehrer Karl Stauffer-Bern und Max Klinger zurück – allerdings unter Aufgabe der ursprünglich religiösen Bedeutung. © Foto Diether von Goddenthow

Den menschlichen Körper, ihr eigentliches Motiv, inszenierte Kollwitz als zeitlos gestisch-emotionale Ausdrucksform: Alles ist auf den Körper konzentriert, vollzieht sich an ihm und durch ihn. Selbst für das klassische Bildthema von Mutter und Kind fand die Künstlerin auf diese Weise unkonventionelle neue Formulierungen, wie die körperlich-leibliche ‚Verklammerung‘ in Frau mit totem Kind (1903) oder wie die tänzerische Bewegung in Tod und Frau (1910).

Käthe Kollwitz Frau mit Orange, 1901. Für Kollwitz eine ungewöhnlich lyrische Darstellung. © Foto Diether von Goddenthow
Käthe Kollwitz Frau mit Orange, 1901. Für Kollwitz eine ungewöhnlich lyrische Darstellung. © Foto Diether von Goddenthow

Kollwitz’ Umgang mit den technischen Möglichkeiten von Druckgrafik und Zeichnung ist stark experimentell geprägt. Besonders deutlich wird dies in ihren Arbeiten nach der Jahrhundertwende, als unter dem Einfluss der französischen Moderne sowie zweier Parisaufenthalte die Farbe in ihrem Schaffen wieder an Bedeutung gewann. Für kurze Zeit entstanden Zeichnungen und Radierungen von hoher malerischer Qualität, die zum Teil auch technisch äußerst innovativ sind, wie Frau mit Orange (1901), Weiblicher Rückenakt auf grünem Tuch (1903) oder das Pariser Kellerlokal (1904).

Immer wieder erweist sich außerdem das gesamte Schaffen von Kollwitz als kontinuierlicher Prozess, in dem einzelne Motive und Bildlösungen über Jahrzehnte hinweg durch alle Medien immer wieder neu reflektiert und formuliert werden. Die Ausstellung spürt diesem Aspekt anhand des Holzschnittzyklus Krieg (1921/23) nach, den Kollwitz in Trauer um den im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohn Peter schuf.
Wechselwirkungen mit der Bildhauerei zum Beispiel zeigen sich hier nicht nur in den geschlossenen, monumental wirkenden Formen, sondern auch in der Weiterentwicklung kompositorischer Ideen. Das dritte Blatt Die Eltern (1921/22) variiert das für den eigenen Sohn geschaffene Denkmal Trauernde Eltern (vollendet 1932, heute Deutscher Soldatenfriedhof, Vladslo).

Impression: Käthe Kollwitz politisch © Foto Diether von Goddenthow
Impression: Käthe Kollwitz politisch © Foto Diether von Goddenthow

Im Gegensatz zur damals verbreiteten Vorstellung einer „l’art pour l’art“ vertrat Kollwitz zeitlebens selbstbewusst die Ansicht, Kunst könne und müsse Zwecke verfolgen. Sie sah sich als etablierte Künstlerin geradewegs in der Verantwortung, an einer gesellschaftlichen Veränderung mitzuwirken. In der krisenhaften Zeit der Weimarer Republik übernahm sie konkrete politische Aufträge, wobei nicht der Auftraggeber ausschlaggebend war, sondern das Anliegen, für das sie ihr Bildvokabular dem Medium entsprechend anpasste und schärfte. Zeichnungen, mit denen sie die soziale Not des Industrieproletariats anprangerte, entstanden außerdem für die satirische Zeitschrift Simplicissimus (vgl. Wärmehallen, 1908/09).

Käthe Kollwitz: "Arbeiter kommend vom Bahnhof", 1897/99 © Foto Diether von Goddenthow
Käthe Kollwitz: „Arbeiter kommend vom Bahnhof“, 1897/99 © Foto Diether von Goddenthow

Kollwitz’ bereits früh getroffene Entscheidung, Motive und Themen aus dem Milieu der Arbeiter zu gestalten, war auch ästhetisch motiviert. Das vermeintlich Direkte, Ungekünstelte dieser Menschen reizte sie; später kamen die Erfahrungen aus der Kassenarztpraxis ihres Mannes hinzu und führten zu sozialem Engagement und zu einfühlsamen Werken wie Brustbild einer Arbeiterfrau mit blauem Tuch (1903) oder Zwei Studien einer Arbeiterfrau (1910). Im Kern war die Motivwahl, also das künstlerische Interesse an der Arbeiterschaft, anti-bürgerlich und widersprach der klassischen Ästhetik. Dadurch und aufgrund des späteren sozialkritischen, praktisch-politischen Ansatzes entwickelte ihr Werk eine unvergleichliche Sprengkraft, die für die Moderne und darüber hinaus wegweisend war.

Käthe Kollwitz: Mutter Krauses Fahrt ins Glück. 1929. © Foto Diether von Goddenthow
Käthe Kollwitz: Mutter Krauses Fahrt ins Glück. 1929. © Foto Diether von Goddenthow

Heute ist in Deutschland kaum ein anderer Künstlername – im Positiven wie Negativen – stärker mit Vorstellungen und Emotionen besetzt als der von Käthe Kollwitz. Schon zu Lebzeiten rankten sich um die Künstlerin einseitige Stereotype: Sie galt als „pessimistische Elendsmalerin“, als „religiöse Künstlerin“ oder als „sozialdemokratische Agitatorin“. Durch die politische Vereinnahmung von Kollwitz in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg klingen diese teils noch immer nach. Die im Nationalsozialismus verfemte Künstlerin diente nach 1945 als Vorbild für den kulturellen wie geistigen Neuanfang. Es setzte ein öffentliches, identitätsstiftendes Kollwitz-Gedenken ein, das ab 1946 zur Gründung von Kollwitz-Schulen und der (Um-)Benennung von Straßen führte. Während des Kalten Krieges wurde die Künstlerin beiderseits der deutschen Grenze politisch funktionalisiert: Ihre Werke wurden vereinfachend entweder als „realistisch-revolutionär“ (Ost) oder „ethisch- humanistisch“ (West) gedeutet. Die Forschung hat diese Lesarten zwar längst korrigiert, doch wirken sie bis heute nach.

Kollwitz-Denkmal „Pietà“ in der „Neuen Wache“, Berlin

 

Käthe Kollwitz Pietà  Modell 1937/40, Guss Anfang 1940. In dieser kleinen Bronze (stattliche Museen zu Berlin, neue Nationalgalerie), die auch Mutter und Sohn genannt wird, verhandelte Kollwitz nach mehr als zwanzig Jahren erneut den Tod ihres im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohnes, für dessen Verpflichtung an die Front sie sich  eine Mitschuld gab. Diese  "Schuld" und Verzweiflung über den gefallenen Sohn sollte sie nie mehr verlassen, was auch stark in ihren Werken immer wieder durchscheint. Helmut Kohl, dessen Bruder Walter im Krieg gefallen war,  verband ein Leben lang eine große Nähe zu Kollwitz Werk. Nach der Widervereinigung beschloss er - praktisch im Alleingang - die Skulptur in Berlins "Neue Wache" als Mahnmal gegen den Krieg installieren zu lassen.Seit 1993 dient Pietè dort in ihrer vierfachen Vergrößerung dem zentralen "Gedenken der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft". Kohls einsame Entscheidung löste eine komplexe Diskussion aus. Allerdings herrscht mittlerweile Einigkeit darüber, dass es wohl keine bessere mahnende Skulptur für diesen Ort gibt wie "Pietà". © Foto Diether von Goddenthow
Käthe Kollwitz Pietà Modell 1937/40, Guss Anfang 1940. In dieser kleinen Bronze (stattliche Museen zu Berlin, neue Nationalgalerie), die auch Mutter und Sohn genannt wird, verhandelte Kollwitz nach mehr als zwanzig Jahren erneut den Tod ihres im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohnes, für dessen Verpflichtung an die Front sie sich eine Mitschuld gab. Diese „Schuld“ und Verzweiflung über den gefallenen Sohn sollte sie nie mehr verlassen, was auch stark in ihren Werken immer wieder durchscheint. Helmut Kohl, dessen Bruder Walter im Krieg gefallen war, verband ein Leben lang eine große Nähe zu Kollwitz Werk. Nach der Widervereinigung beschloss er – praktisch im Alleingang – die Skulptur in Berlins „Neue Wache“ als Mahnmal gegen den Krieg installieren zu lassen. Seit 1993 dient Pietà dort in ihrer vierfachen Vergrößerung dem zentralen „Gedenken der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“. Kohls einsame Entscheidung löste eine komplexe Diskussion aus. Allerdings herrscht mittlerweile Einigkeit darüber, dass es wohl keine bessere mahnende Skulptur für diesen Ort gibt wie „Pietà“. © Foto Diether von Goddenthow

Als bekanntestes Kollwitz-Denkmal dient eine vierfach vergrößerte Nachbildung ihrer Bronze Pietà (Mutter mit totem Sohn) (1937–1939), mit der sie nach über zwanzig Jahren erneut den Tod ihres im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohnes thematisierte, seit 1993 in der Neuen Wache in Berlin dem zentralen „Gedenken der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“. Die Ausstellung gibt abschließend einen Überblick über die einzelnen Phasen der komplexen Rezeptionsgeschichte der Künstlerin in Deutschland und will über dieseVergegenwärtigung einen unverstellten Blick auf Kollwitz und ihre Kunst ermöglichen.

Katalog: Zur Ausstellung erschien im Verlag Hatje Cantz ein von Regina Freyberger herausgegebener Katalog. Mit einem Vorwort von Philipp Demandt und Texten von Linda Baumgartner, Regina Freyberger, Gudrun Fritsch, Alexandra von dem Knesebeck, Katharina Koselleck, Andreas Schalhorn und Iris Schmeisser. Deutsche Ausgabe, 283 Seiten, 207 Abb., 48 Euro (Museumsausgabe). Der Katalog kann im Städel-Shop, im Buchhandel oder online unter shop.staedelmuseum.de erworben werden.

Tickets: Di–Fr, Sa, So + Feiertage 16 Euro, ermäßigt 14 Euro; ab 20.3.24 Di–Fr 16 Euro, ermäßigt 14 Euro, Sa, So + Feiertage 18 Euro, ermäßigt 16 Euro; jeden Dienstag ab 15.00 Uhr 9 Euro; freier Eintritt für Kinder unter 12 Jahren. Gruppen ab 10 regulär zahlenden Personen: 14 Euro pro Person; ab 20.3.24 16 Euro pro Person. Für alle Gruppen ist generell eine Anmeldung unter Telefon +49(0)69-605098-200 oder info@staedelmuseum.de erforderlich.