Filmmuseum Frankfurt ermöglicht große Retrospektive des Deutschen Films beim Filmfestival Locarno – Erste Kostproben im Filmmuseum am 29. u. 30. April

Einen Vorgeschmack auf die Retrospektive des Kinos der jungen BRD gibt es heute und morgen noch im Filminstitut Frankfurt.

Geliebt und verdrängt: Das Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1963

Retrospektive und Katalog als Kooperation des Festival del film Locarno und des Deutschen Filminstituts

vl.Carlo Chatrian, Künstlerischer Leiter des Festivals, Claudia Dillmann, Direktorin des Deutschen Filminstituts, Olaf Möller, Kurator auf der Pressekonferenz. © massow-picture
vl.Carlo Chatrian, Künstlerischer Leiter des Festivals, Claudia Dillmann, Direktorin des Deutschen Filminstituts, Olaf Möller, Kurator auf der Pressekonferenz. © massow-picture

Dem Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1963 ist die umfassende Retrospektive der 69. Ausgabe des Festival del film Locarno im August 2016 gewidmet, die in enger Kooperation mit dem Deutschen Filminstitut ausgerichtet wird. Damit wendet sich die Locarno-Retrospektive einer Phase des bundesdeutschen Kinos zu, auf der noch immer das Verdikt lastet, „es sei restaurativ, angepasst, unkünstlerisch und deshalb belanglos gewesen“, erläuterte Claudia Dillmann, Direktorin des Deutschen Filminstituts, auf der Pressekonferenz zur Retrospektive am Donnerstag in Frankfurt. Ein Verdikt das sich aus dem typisch deutschen Gegensatzpaar von „Kunst oder Kasse“ speist. „Und das ist womöglich auch Ausdruck einer Verachtung von Populärkultur, die mit dazu geführt hat, dass das Autorenkino und das populäre Kino heute so weit voneinander entfernt sind, wie nie. Wir fragen uns: Tut das dem deutschen Kino gut?“, so Dillmann. Dabei erweise sich das Kino der Adenauer-Ära bei genauerem Hinsehen „als spannungsreich und formal vielgestaltig. Selbst die oft belächelten Heimatfilme, Musikfilme und Komödien sind gar nicht so konfliktscheu, wie man denken könnte. Hier gibt es viel zu entdecken über Männer- und Frauenbilder, individuelle Ängste und nationale Traumata. Und auch in künstlerischer Hinsicht vermögen diese Filme heute zu verblüffen. Sie haben jede Aufmerksamkeit verdient.“

Das betonte auch Carlo Chatrian, Künstlerischer Leiter des Festival del film Locarno. „Wir richten unsere Scheinwerfer auf eine Zeit des bundesdeutschen Kinos, die unseres Erachtens zu Unrecht vernachlässigt wurde. Denn nicht alles, was die Väter und Großväter gemacht haben, ist bedeutungslos. Weil dieses Kino von der Nouvelle Vague verdrängt wurde, wissen wir nur wenig darüber, auch ich selbst nicht. Dabei ist es das Ziel des Festivals von Locarno verschüttete Kinoschätze zu heben und für die jüngeren Generationen zu erschließen.“ Bei der aktuellen Retrospektive stehe im Mittelpunkt, „das Kino der Adenauer-Ära mit der Rekonstruktion von Identität in Verbindung zu bringen und es einer jungen Generation von Filminteressierten zu erschließen“. „Nachdem 2014 Italien im Mittelpunkt der Retrospektive stand, wenden wir uns nun der Tradition des deutschen Kinos zu. Wir werden unsere Scheinwerfer auf einen Teil seiner Filmografie richten, die unseres Erachtens zu Unrecht vernachlässigt wurde. Die Kooperation mit dem Deutschen Filminstitut in Frankfurt war für diese Wahl und für die Definition der Inhalte entscheidend.“

Die „Adenauer-Ära“ in Deutschland war bestimmt von Auseinandersetzungen um große Themen: Westbindung, Aussöhnung mit Frankreich und Beginn des europäischen Einigungsgedankens zur dauerhaften Friedenssicherung, NATO-Mitgliedschaft, Blockdenken, Wiederbewaffnung und Kalter Krieg. Sie war geprägt von erbittertem Antikommunismus und Verhandlungen im Kreml über die „Heimholung“ der letzten Deutschen aus sowjetischer Gefangenschaft, von Debatten über die „Wiedergutmachung“ an Israel und über alte Nazis, die schon wieder an den Schaltstellen des bundesdeutschen Machtapparats saßen, über soziale Marktwirtschaft, Restauration, autoritären Regierungsstil und junge Demokratie.

Das Kino der „Adenauer-Ära“ war nicht frei von diesen politischen Wertungen und Auseinandersetzungen und dabei häufig reduziert auf eine ideologische „Funktion“. Hatte dieses Kino mit der NS-Zeit gebrochen? Fand es eine neue Bildsprache? Thematisierte es den Holocaust? Hielt es den Deutschen Schuld und Verstrickung vor Augen? Kriegsverbrechen? Lebenslügen? Die junge Nachkriegs-Generation verneinte diese Fragen und erklärte kurz vor Ende der Adenauer-Zeit dieses Kino für tot.

Dabei lohnt ein Blick zurück: Wovon handelte eigentlich das populäre Kino der jungen Republik, wie adressierte es sein Publikum? Wie drückt sich das Lebensgefühl der unmittelbaren Nachkriegszeit aus – in Gesten, Blicken, Körpersprache, in Gesagtem und Ungesagtem, Andeutungen und Anspielungen, inmitten zerstörter Städte und heiler Landschaften? Welche Experimente und Wagnisse gab es, stilistisch wie inhaltlich? Die Filme zeigen sich offen für verschiedene Lesarten, für neue Interpretationen und Zugänge. Diese wollen die Retrospektive des Festival del film Locarno 2016 und der begleitende Katalog eröffnen und so den Blick lenken auf ein geliebtes, verachtetes, verdrängtes Kino.

Das Deutsche Filminstitut hat sich mit dem deutschen Nachkriegskino schon früh intensiv auseinandergesetzt. Seit den 1980er Jahren sind in Frankfurt wichtige Ausstellungen und Publikationen zum Thema entstanden, darunter „Zwischen Gestern und Morgen“ (1989) und „Abschied vom Gestern“ (1991/92). Mit dem Archiv der Produktionsfirma CCC Film von Artur Brauner oder dem Nachlass von Maria Schell werden für das deutsche Nachkriegskino bedeutende Sammlungen im Filminstitut bewahrt und aufbereitet. So wurde der Nachlass von Curd Jürgens kürzlich als virtuelle Ausstellung online zugänglich gemacht.

Die fast 80 Titel umfassende Retrospektive, zusammengestellt von den Kuratoren Olaf Möller und Roberto Turigliatto, versammelt lange und kurze Formate, Spiel- und Dokumentarfilme, Werke des Animations- und des experimentellen Films. Einen Schwerpunkt bildet das Genrekino, in dem sich, so Olaf Möller, „die politisch wirklich interessanten Filme finden. Wer etwas darüber erfahren will, wie schizophren die BRD in vielerlei Hinsicht war, der muss Heimatfilme, Krimis und Melodramen schauen.
Als „ein großes Missverständnis“ bezeichnete es Kurator Olaf Möller, „dass der Neue Deutsche Film wirklich etwas Neues gewesen wäre: Viele Unterzeichner haben ja schon seit Anfang der 50er Jahre Filme gemacht. Viele Regisseure des Neuen Deutschen Films erhielten eben genau von den vielgescholtenen Produzenten der Populärfilm-Industrie die Chance, etwas Neues zu wagen. Viele dieser wunderbaren Filme werden in der Retrospektive zu sehen sein.“

Denn im Gegensatz zum Klischee, der BRD-Film der 1950er Jahre sei harmoniesüchtig und zahm gewesen, brodelt es da vor Aggression und – auch sexueller – Subversion.“ So erweisen sich Filme wie DIE SPUR FÜHRT NACH BERLIN von Franz Cap (1952) oder VIELE KAMEN VORBEI von Peter Pewas (1955/56) als Thriller über die Ausweglosigkeit der von den Alliierten verordneten Freiheit; DAS BEKENNTNIS DER INA KAHR von Georg Wilhelm Pabst (1954) verhandelt im Heimatgewand den Geschlechterkrieg der 1950er Jahre. Ein „Überläufer“ wie Rolf Hansens in Nazi-Deutschland verbotener EINE FRAU FÜRS LEBEN (1938/50) erzählt von der Wohnungsnot Ende der 30er Jahre.

Formale Experimente sind mit JONAS von Ottomar Domnick (1957) oder Harald Brauns DER GLÄSERNE TURM (1957) vertreten. Im Programm der Retrospektive sind natürlich auch Werke der wenigen bisher als Meister anerkannten Regisseure wie Helmut Käutner und Wolfgang Staudte zu finden, ebenso wie Filme der Remigranten Robert Siodmak, Frank Wisbar und Fritz Lang. Das DEFA-Kino als Korrektiv, das Themen aufgriff, die in der BRD tabu waren, ist mit Titeln wie dem NATO-skeptischen Anti-Atomkriegs-Thriller WEISSES BLUT (Gottfried Kolditz, 1959) präsent.

Der von Olaf Möller und Claudia Dillmann herausgegebene Katalog versammelt Essays und Porträts von rund 30 Autorinnen und Autoren. Dominik Graf entwirft eine Typologie der Film-Männer und großen Stars jener Jahre: O.W. Fischer, Carl Raddatz, Rudolf Prack, Mario Adorf und viele andere. Rainer Knepperges plädiert in seinem Text über „Mamas Kino“ dafür, die erotischen Unter- und Obertöne im Kino der Adenauer-Ära zur Kenntnis zu nehmen. Marco Grosoli, Chris Fujiwara und Hannu Nuotio blicken aus der Perspektive Italiens, der USA und Finnlands auf das Kino der Bundesrepublik jener Zeit. Darüber hinaus finden sich Reflexionen über Genres wie das Melodram, den Kriegs- und den Kriminalfilm, Porträts zu Victor Vicas und Robert Siodmak sowie eine Vielzahl weiterer Artikel zu thematischen und stilistischen Tendenzen in dem rund 400 Seiten starken Katalog.

Mit ihrer Vielfalt tragen Retrospektive und Katalog dazu bei, eine Lücke zu schließen, sagt Kurator Olaf Möller: „Die Babyboomer-Generation wuchs mit der Idee auf, dass das sogenannte Nachkriegskino bloß politisch fragwürdige kommerzielle Massenware produzierte. Die sogenannte Stunde Null des bundesdeutschen Kinos, das Manifest von Oberhausen im Jahr 1962, hatte eben auch diese fatale Folge: dass alles, was davor kam, eine Leerstelle blieb. Es ist Zeit, dass wir ein paar Vorurteile loswerden und uns die widersprüchliche Schönheit dieser frühen Phase des bundesdeutschen Nachkriegskinos erschließen.“

Nach Lorcano auf Tournee – ab Herbst im Kino des Filmmuseum und im Caligari Filmbühne Wiesbaden

Nach der Premiere beim Festival del film Locarno (3. bis 13. August 2016) wird die Retrospektive auf internationale Tournee geschickt. Bisher sind folgende Stationen bestätigt: In der Schweiz wird die Retrospektive in der Cinémathèque suisse in Lausanne, dem Kino Rex in Bern und dem Filmpodium in Zürich laufen.

In Deutschland wird das Programm außer im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt am Main auch im Zeughauskino in Berlin, im Filmmuseum Düsseldorf, im Metropolis Kino Hamburg und in der Caligari FilmBühne in Wiesbaden zu sehen sein, in Portugal in der Cinemateca Portuguesa und in Italien vom Festival I Mille Occhi in Triest und vom Museo Nazionale del Cinema in Turin übernommen. „Geliebt und verdrängt” beendet seine Reise nach gegenwärtigem Stand 2017 in den USA, wo die Filmreihe von der Film Society of Lincoln Center in New York und der National Gallery of Art in Washington präsentiert werden wird. Die internationale Resonanz sei ein „klares Zeichen für die Qualität unseres Angebots“, sagt der künstlerische Festivalleiter Carlo Chatrian.

Heute und morgen noch einen kleinen Vorgeschmack auf die Retrospektive

Einen Vorgeschmack auf die Retrospektive des Kinos der jungen BRD von 1949 bis 1963 können Sie heute und morgen noch im Filminstitut Frankfurt bekommen. Insgesamt laufen sieben Titel zum Themenkomplex des Holocaust und des jüdischen Lebens in Nachkriegsdeutschland, die selbst nicht Bestandteil der Retrospektive sind. Einführungen zu den Filmen hält Olaf Möller.

In Arbeit: Begleit-Katalog „Gliebt und verdrängt“:
herausgegeben von Olaf Möller und Claudia Dillmann
Essays und Porträts von 30 Autorinnen und Autoren
deutsche und englische Ausgabe
400 Seiten
erscheint zur Festivaleröffnung im August 2016