Die Revolution der Gesten: Vom Handgriff zur Gestensteuerung Interaktive Ausstellung im Museum für Kommunikation Frankfurt befragt die Evolution der „Gesten – gestern, heute, übermorgen“

©  Foto: Diether  v Goddenthow
© Foto: Diether v Goddenthow

Mit dem Daumen nach oben signalisieren wir unser Okay, mit der Scheibenwischergeste unser Unverständnis, und wenn wir eine imaginäre Kurbel betätigen, möchten wir in der Regel, dass jemand sein Autofenster herunterlässt: Mit unseren Händen imitieren wir Objekte und wie wir mit ihnen umgehen. Sie begleiten unser Sprechen und sind ein wichtiger Teil der Alltagskommunikation. In einer zunehmend technisierten Welt revolutionieren Gesten unseren Umgang mit Fahrzeugen, Computern, Haushaltsgeräten und Spielekonsolen.

Die interaktive Ausstellung Gesten – gestern, heute, übermorgen, die das Museum für Kommunikation Frankfurt vom 25. September bis 23. Februar 2020 zeigt, macht Gesten und ihre vielfältigen Bezugspunkte zu aktuellen kulturellen sowie technischen Entwicklungenerfahr- und erlebbar. In dem von der Technischen Universität Chemnitz gemeinsam mit dem Ars Electronica Futurelab (Linz) und dem Sächsischen Industriemuseum entwickelten Projekt treffen interaktive Installationen auf geschichtsträchtige Exponate und Werke Artefakte internationaler Künstler*innen.

Wie hängen Gestik und Sprechen zusammen? Welche Rolle spielen Gesten in der menschlichen Kommunikation? Was teilen uns Gesten über unsere Sprache, Kultur und Technik mit? Neben einem Blick in die Geschichte der Gesten und der Gestenforschung lädt die Ausstellung auf rund 600 Quadratmetern unter anderem dazu ein, mit den Händen virtuell zu töpfern, um den Globus zu fliegen oder ein Kugellabyrinth zu steuern, sich gestikulierend in einer Holzwand zu spiegeln und mit Hilfe von Gesten-Schmuck auszuprobieren, ob zum Beispiel die „Merkel-Raute“ als Powergeste tatsächlich das Selbstbewusstsein stärkt.

„Gesten – gestern, heute, übermorgen“: Drei Themenbereiche
Die Ausstellung gliedert sich in drei Themenbereiche: Im ersten Bereich Von der Geste zum Gestenlexikon werden die Grundlagen der Gestenforschung vorgestellt und Einblicke gegeben, wie man Gesten der zwischenmenschlichen Kommunikation analysieren kann. Objekte, Handhabungen und der aktuelle Einsatz von Gesten stehen im Mittelpunkt des Bereichs Vom Handgriff zur Gestensteuerung. Wie die Hand durch Werkzeuge, Maschinen und Roboter ersetzt oder erweitert wird, beleuchtet der dritte Abschnitt Erweiterung und Reduktion der Hand.

1. Von der Geste zum Gestenlexikon
Wie werden Gesten dokumentiert und analysiert? Der Gestenraum zum Beispiel ist ein in der Gestenforschung grundlegendes Konzept. Dieses teilt den menschlichen Körper in verschiedene Sektoren: Positioniert man die Hand mit dem V-förmig ausgestreckten Zeige- und Mittelfinger neben dem eigenen Körper, wird dieser Geste eine andere Bedeutung zugeschrieben, als wenn man sie hinter dem Kopf, also in einem anderen Sektor des Gestenraums, ausführt. Viele Menschen deuten die V-Form dann nicht mehr als Siegesgeste, sondern sehen vielmehr Hasenohren. In welchem Bereich des Gestenraums unsere Gesten verortet sind, macht das interaktive Exponat Gesture Space Visualizer am eigenen Körper erfahrbar. Das Zusammenwirken von Wörtern und Gesten können die Gäste mit Hilfe eines Gestenlexikons erkunden. Auf einem Touchscreen wählen sie aus einer Wort-Wolke Verben aus, die gestisch von unterschiedlichen Personen umgesetzt in einem Video präsentiert werden. Beim Gestenpuzzle geht es darum, filmisch festgehaltenen Gesten die passende Tonspur zuzuordnen.

2. Vom Handgriff zur Gestensteuerung
Gesten haben sich über die Jahrhunderte immer wieder verändert, auch deshalb, weil sich Technologien geändert haben. Der Wandel von händischer Arbeit hin zur Maschinensteuerung bedingt, dass die menschlichen Handhabungen auf die Maschinen selbst übertragen wurden. Zugleich sind zahlreiche Formen alter handwerklicher Tätigkeiten wie etwa das Töpfern noch in unseren Köpfen verankert und können damit auch bei zukünftigen Anwendungen weiterverwendet werden. Viele Gesten der zwischenmenschlichen Kommunikation stellen zudem Abstraktionen und Stilisierungen solcher grundlegenden Basishandlungen des Objektgebrauchs dar. Entsprechend ist die Steuerung von Objekten über Gesten für die meisten Menschen einfach und intuitiv. So zum Beispiel beim virtuellen Töpfern oder beim virtuellen Flug: Hier können die Besucher*innen mit zwei Händen einen virtuellen Tonkrug modellieren oder mit der flachen Hand als Flugzeuggeste virtuell um den Globus navigieren Dass bestehende Handhabungen schnell durch andere intuitive Gesten ersetzt werden können, zeigt das Kugellabyrinth. Das traditionell über zwei Achsen bewegte Geschicklichkeitsspiel ist mit einer Gestensteuerung versehen, bei der nur die Handfläche gekippt werden muss.

3. Erweiterung und Reduktion der Hand
Mit der Industrialisierung änderte sich die Funktion der Hand: Werkzeuge erweiterten ihre Fähigkeiten, Automatisierung reduzierte sie auf einförmige Handgriffe, und Roboter ersetzten schließlich die menschliche Hand. Weiterführende technologische Entwicklungen zielen darauf ab, die haptische Lücke zwischen digitaler und analoger Welt zu schließen: Was als „real“ gilt, bestimmt sich in unserem Alltagsverständnis noch immer weitgehend aus der Erfahrung des Anfassenkönnens. In der Ausstellung können die Besucher*innen genau diese Erfahrung mit dem Ultrahaptics Interface machen. Das für die Gestensteuerung in Autoinnenräumen entwickelte System ist mit einer Ultraschalltechnik ausgestattet. Diese macht dreidimensionale Oberflächen kontaktlos wahrnehmbar und somit ein haptischen Feedback der ausgeführten Geste möglich.

Ausgewählte Werkzeuge und Maschinen des Industriemuseums Chemnitz lassen schließlich erkennen, wie sich Herstellungsprozesse und damit auch Handhabungen und Arbeitsgesten im Laufe der Jahrhunderte verändert haben. Ein Videodokumentationsprojekt zum Töpfern, Spinnen und Hämmern zeigt Exponate im Kontext ihres Gebrauchs und macht die Beziehung von Objektgebrauch und Objektgebrauchsgesten für die Besucher*innen sichtbar.

Kunst trifft Forschung
Neben der wissenschaftlichen Perspektive werden experimentelle und künstlerische Herangehensweisen aus der Forschung in das Projekt hineingetragen. Zu diesem Zweck hat das Ars Electronica Futurelab international renommierte Künstler*innen eingeladen, Positionen zur Ausstellung beizusteuern:

Der interaktive Wooden Mirror des New Yorker Künstlers Daniel Rozin verwandelt ein nichtreflektierendes Material in einen Spiegel. Bei dem Auftaktexponat der Ausstellung werden Hand- und Körperbewegungen der Betrachtenden von Kameras digital erfasst und von 830 einzeln ansteuerbaren Holzplättchen „gespiegelt“. Jennifer Crupis elegant gearbeitete Gesture Jewelry ist mehr als nur Körperschmuck. Die handgefertigten Einzelstücke der amerikanischen Künstlerin und Kunstschmiedin machen bestimmte Haltungen und Gesten, die wir im täglichen Leben ganz selbstverständlich einnehmen oder ausführen, als statische Posen bewusst. In der Ausstellung können mit den handgefertigten Einzelstücken verschiedene Positionen ausprobiert werden, darunter auch die an die „Merkel-Raute“ erinnernde „Power Gesture“. Die Gestenskulpturen von Hannah Groninger und dem Natural Media Lab von Irene Mittelberg an der RWTH Aachen übersetzen digital gespeicherte Bewegungsverläufe in Skulpturen, die als materialisierte Gesten aus dem 3D-Drucker vollkommen neue Perspektiven auf ansonsten flüchtige Zeichen ermöglichen. Am Ende lädt die interaktive Installation Shadow Gestures die Gäste ein, eine Geste zu hinterlassen – und diese zumindest für einen gewissen Zeitraum als Schattenprojektion festzuhalten und somit Teil der Ausstellung zu werden.

Gesten im Museum für Kommunikation Frankfurt
„Die Ausstellung „Gesten – gestern, heute übermorgen“ stellt einen wichtigen Aspekt der nonverbalen Kommunikation vor. Er spielt im Alltag eine große Rolle bei der Verständigung, findet aber nur selten Beachtung und macht kulturelle Unterschiede, historische Entwicklungen und so manche Eigenart des Sprechers oder der Sprecherin sichtbar. Woran wenige denken und was viele überraschen wird: die Fertigkeiten der Finger und Hände wird für die zukünftige Arbeitswelt eine bedeutende Rolle spielen. Maschinen werden zunehmend mehr mit feinen Gesten gesteuert, Bewegungen lösen Reaktionen aus, die Geste wird zum Kommunikationsmittel mit der Maschine und darüber zum Produktionsmittel. Die Zuschreibung „handgemacht“ erhält so eine neue Bedeutung. Ich freue mich sehr, dass wir die Ausstellung zeigen können, die von unseren Kooperationspartnern aus Chemnitz und Linz erstellt wurde, die unseren Besucher*innen gewohnt viele Angebote zum Erkunden und Ausprobieren macht.“(Dr. Helmut Gold, Direktor Museum für Kommunikation Frankfurt, Kurator der Museumsstiftung Post und Telekommunikation)

MANUACT-Forschungsprojekt
Gesten bilden seit jeher einen Teil der menschlichen Kommunikation – manche Forscher*innen halten sie für älter als die Lautsprache selbst. Dennoch wird Gestik erst seit einigen Jahrzehnten intensiv erforscht. An der Professur Germanistische Sprachwissenschaft, Semiotik und Multimodale Kommunikation (Prof. Dr. Ellen Fricke) der Philosophischen Fakultät der TU Chemnitz liegt einer der Schwerpunkte auf dem Zusammenwirken von Gesten und Lautsprache in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Ein wesentliches Ziel besteht in einer multimodalen Sprachbeschreibung, die beide Bereiche miteinander verbindet. Die Ausstellung „Gesten – gestern, heute, übermorgen“, die erstmal vom 17. November 2017 bis zum 4. März 2018 im Industriemuseum Chemnitz gezeigt wurde, bildet den Abschluss des Forschungsprojekts „Hands and Objects in Language, Culture, and Technology: Manual Actions at Workplaces between Robotics, Gesture, and Product Design“. (MANUACT) www.manuact.org Ars Electronica Futurelab (Linz)

Das Ars Electronica Futurelab, ein transdisziplinäres und vielfach preisgekröntes Medienkunstlabor, wurde 1996 gegründet. Es gilt international als eines der führenden außeruniversitären Forschungs- und Entwicklungsinstitute auf den Gebieten der Medienkunst, Informationsästhetik, Interaktionsdesign, Persuasive Technology, Robotik oder Virtual Environments. Wissenschaftler/innen, Techniker/innen und KünstIer/innen aus aller Welt und aus unterschiedlichsten Disziplinen entwerfen im Ars Electronica Futurelab innovative Konzepte, Projekte und Prototypen in den Bereichen Medienkunst, Architektur, Design, interaktive Ausstellungsgestaltung oder Echtzeitgrafik. www.ars.electronica.art/futurelab

Gesten – gestern, heute, übermorgen
25. September 2019 bis 23. Februar 2020
Eine wissenschaftlich-künstlerische Kooperation der TU Chemnitz und des
Ars Electronica Futurelab (Linz) mit dem Sächsischen Industriemuseum
Gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung

Museum für Kommunikation Frankfurt
Schaumainkai 53
D-60596 Frankfurt am Main
Telefon +49 (0)69 60 60 0
www.mfk-frankfurt.de

Eintritt
Bis 18 Jahre: 1,50 EUR
Eintritt ab 18 Jahre: 5 EUR