„Code Kaputt“ – Anna Wiener entlarvt in ihrem neuesten Buch die toxisch-gierige Parallelwelt des Silicon-Yalley

code-kaputt-coverWer Anna Wieners Job-Tour durch die Silicon-Valley-Parallelwelt des goldrauschgetriebenen Hightech-Kapitalismus gelesen hat, dürfte nicht länger unkritisch profitorientierter und blinder Digitalisierungswut gegenüberstehen,  gerade nicht in Zeiten von Corona, wo oftmals mit angeblichem „Schutz vor der Pandemie“ digitalem Missbrauch Tür und Tor geöffnet wird: Stichwort „Abschaffung des Bargelds“. Dies bedeutete totale Konto-Kontrolle und NegativZins-Zwang.  Wer weiß, dass solche Dinge wie „Abschaffung des Bargelds“ von  Finanzdienstleistern à la Wirecard durch gezielte Lobby-Arbeit bis hin zum Bundesfinanzministerium vorangetrieben werden, durchschaut rasch, dass es oftmals eben nicht um die eigentlichen Bedürfnisse von Menschen geht, sondern schlichtweg um Profit,  Kontrolle, Markt- und Verbraucher-Manipulation, oftmals auf Kosten  breiter Gesellschaftsgruppen, etwa älterer, kranker, bildungsferner oder wenig technikaffiner Menschen, die mit all den digitalen Segnungen vielfach selbständig kaum zurechtkommen oder sich auch von diesen nicht entmündigen lassen möchten.

So segensreich verantwortungsvoll verwendete „Algorithmen“ das Leben vereinfachen und bereichern können, so toxisch kann jedoch auch ihr Missbrauch wirken.

Wiener versammelt in ihrer literarisch brillianten Coming-of-Age-Geschichte nicht nur unzählige Beispiele solcher dysfunktionaler IT-Monster. Vielmehr entlarvt die Autorin die oftmals menschenverachtende Machtbesessenheit und die Dekadenz jener Start-up-Elite mit zum Teil tendenziell autistischen Chefs, die unseren digitalen Alltag bestimmen. Dabei erzählt sie nicht nur präzise von der Geburt des Start-up-Kapitalismus aus dem Geist der Überheblichkeit. Sie protokolliert, wie eine Generation ihre Illusionen verlor.

Gleich in ihrem ersten Beispiel legt Wiener den Daumen in die Wunde eines zum weltweiten Monopolisten avancierten digitalen „Online-Kaufhaus“, welches wir alle wohl kennen „das in den Neunzigern angefangen hatte, Bücher übers Internet zu verkaufen – nicht etwa aus Liebe zur Literatur, sondern aus Liebe zum Kunden und zum effektiv organisierten Konsum -, hatte sich zu einem digitalen Schnäppchenmarkt ausgewachsen, auf dem Haushaltsgeräte, Elektrotechnik, Lebensmittel, Massenmode, Spielwaren, Essbesteck und allerlei Unnützes made in China verkauft wurde. Nachdem das Onlinekaufhaus den gesamten Einzelhandel erorbert hatte, besann es sich wieder auf seine Wurzeln und probierte offenbar verschiedene Wege aus, die Verlagsbranche in den Ruin zu treiben (…) Innerhalb weniger Jahre sollte der Gründer, ein schildkrötenähnlicher ehemaliger Hedgefonds-Manager, zum reichsten Mann der Welt werden (…). Ich wusste nicht, dass das Onlinekaufhaus in der Tech-Branche für seine gnadenlose, datengetriebene Unternehmenskultur verehrt wurde oder dass die proprietären Algorithmen, die neben Romanen über dysfunktionale Familien Kaufempfehlungen für Staubsaugerbeutel und Windeln anzeigten, als hochmodern, bewundernswert und Avantgarde in Sachen angewandtes maschinelles Lernen galten. Ich wusste nicht, dass ein lukratives Schwesterunternehmen dieses Onlinekaufhauses außerdem Cloud-Computing-Services verkaufte – die gebührenpflichtige Nutzung eines weitläufigen internationalen Netzwerkes von Serverfarmen – und damit die Back-End-Infrastruktur für die Websites und Apps anderer Firmen bereitstellte. Ich wusste nicht, dass man das Internet praktisch nicht mehr nutzen konnte, ohne dieses Onlinekaufhaus und seinen Gründer noch reicher zu machen“ (Auszug aus Anna Wiener, CODE KAPUTT, München 2020, SS.11 u. 12) Es dürfte sich hierbei wohl um das Online-Kaufhaus handeln, welches bekanntermaßen zunächst den Namen „Relentless“, „unerbittlich“, erhalten sollte, bevor die Wahl auf Amazon fiel. „Amazone“ war übrigens der Spitzname, den Jeff Bezos seiner Frau MacKenzie gab, weil er es wohl ihrer Hartnäckigkeit verdankt hatte, nicht aufzugeben, als sein  Online-Kaufhaus in den Anfangszeiten kurz vor der Pleite stand.

Anna Wiener legt mit „Code Kaputt“ ein sehr empfehlenswertes Insider-Buch vor, das nicht nur sprachlich wunderbar zu lesen ist, sondern als wichtiger Diskussionsbeitrag über Chancen und Grenzen von Digitalisierung und die Gefahren unregulierter Überwachung gute Argumente liefert.

(Diether v. Goddenthow /Rhein-Main.Eurokunst)

Anna Wiener. Code kaputt. Macht und Dekadenz im Silicon Valley,
Droemer/Knaur, München (2020),Kartoniert, 320 Seiten, 18,00 Euro, ISBN 9783426277737

 

Interview mit Anna Wiener

Anna Wiener © Droemer Knaur GmbH & Co. KG
Anna Wiener © Droemer Knaur GmbH & Co. KG

Anna, Ihr Buch “Code kaputt” ist kein reines Sachbuch über die Technik-Industrie des Silicon Valley – es ist in erster Linie Ihre ganz
persönliche Geschichte. Wieso haben Sie sich entschieden, dass Buch in dieser Form zu schreiben und haben Sie je daran gezweifelt?

 

Die meisten Geschichten, die über die Tech- Industrie erzählt wurden, handelten von Gründern, Investoren, Führungskräften – triumphale Erzählungen, Geschäftsbüchern. Mein Interesse galt dem Silicon Valley aus der Sicht eines Angestellten. Ich wollte die Bräuche, Werte und das Lexikon dieser Kultur
dokumentieren, aber ich wollte auch erklären, wie es sich anfühlte, dort zu sein – mein eigener Kreislauf aus Verführung und Ernüchterung.
Arbeit kann emotional sein, insbesondere in einer Branche, die junge Menschen dazu ermutigt, ihr persönliches und berufliches Leben vollständig in den Dienst des Unternehmens zu stellen. Ich hoffe, dass meine persönlichen Geschichte einen Teil der strukturellen Dynamiken im Silicon Valley zu diesem speziellen Zeitpunkt der Geschichte in ein anderes Licht rücken kann.

Noch immer träumen viele junge Menschen vom Silicon Valley. Was glauben Sie, woher rührt diese Faszination?

Es ist natürlich verführerisch zu hören, dass Sie die Zukunft gestalten. Einige Menschen haben eine echte Begeisterung für die Transformationsfähigkeit der Technologie oder eine intellektuelle Neugier für die Arbeit selbst; Das möchte ich gar nicht kleinreden. Andere möchten vielleicht dort sein, wo die Action stattfindet, sei es aus dem Wunsch nach Wohlstand oder Macht. Ich denke, für viele Menschen ist die Arbeit in der Tech-Branche einfach eine Möglichkeit, in einem Land, in
dem das soziale Sicherheitsnetz in Trümmern liegt, zahlungsfähig zu bleiben. Persönlich wollte ich das Gefühl haben, einen Platz auf der Welt und eine gewisse Dynamik zu finden: Ich wollte Sicherheit im Moment und Sicherheit für eine Zukunft.

Was war für Sie die größte Ernüchterung des Start-up-Hypes? Gab es einen speziellen Auslöser?

Es gab für mich keinen bestimmen Wendepunkt – es war eher ein langsames Verbrennen. Einiges davon war persönlich und einiges hatte mit den Werten der Branche zu tun. Der tollwütige Individualismus und die allgegenwärtige Vorstellung, dass deine Wirtschaftsleistung deinem Wert als Person entspricht, haben mich sehr getroffen und mir geschadet. Ich habe nie wirklich daran geglaubt, dass das Wichtigste, das eine Person zur Gesellschaft beitragen kann, ein Start-up ist. Ich hatte viele Zweifel und Bedenken – wozu das alles, was ist das Ziel.

Über die Autorin
Anna Wiener ist Journalistin und schreibt für den New YorkerThe Atlantic und Wired über das Silicon Valley, Start-Up-Kultur und die digitale Welt. Sie lebt und arbeitet in San Francisco, Code kaputt ist ihr erstes Buch und sorgt seit Erscheinen in den USA und Großbritannien für Furore.