Was ist Liebe? Friedensbuchpreisträger Navid Kermani las auf den 19. Wiesbadener Literaturtagen

Literaturtage-Gastgeber Christian Brückner (m.) begrüsste Friedenspreisträger Navid Kermani (l) und den Moderator des Abends FAZ-Redakteuer Hubert Spiegel im Veranstaltungsraum des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst anläßlich der 19. Wiesbadener Literaturtage.© massow-picture
Literaturtage-Gastgeber Christian Brückner (m.) begrüsste Friedenspreisträger Navid Kermani (l) und den Moderator des Abends FAZ-Redakteur Hubert Spiegel im Veranstaltungsraum des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst anläßlich der 19. Wiesbadener Literaturtage.© massow-picture

„Was ist Liebe?“ fragte der neue Friedens-Preisträger des Deutschen Buchhandels Navid Kermani seine gut 250 Zuhörer im Veranstaltungsraum des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst gestern Abend, 19. Juni 2015, auf seiner Lesung anlässlich der 19. Wiesbadener Literaturtage, um sogleich eine Antwort selbst zu geben: Die Frage mutete seltsam an, „obwohl – nein, nicht obwohl – gerade weil sie zu jenen wenigen Fragen gehört, vielleicht sogar wie sonst nur die Frage nach dem Tod, die jeden Menschen ungeachtet seiner Herkunft oder seines Glaubens, seiner Eigenschaften und Neigungen schon einmal persönlich beschäftigt hat oder fortwährend beschäftigt: Was ist Liebe? Es ist eine Frage, die notwendig das Private berührt, insofern jeder,
der sie ernsthaft zu beantworten sucht, von seinen individuellen und also je spezifischen Erfahrungen bewegt ist. Das ist dann doch anders als bei der Frage nach dem Tod, deren Antworten in der Regel absolut erfahrungslos sind oder jedenfalls in den monotheistischen Traditionen für erfahrungslos gehalten werden. Liebe ist maximal empirisch. Das Sonderbare ist nur: Je mehr wir – nein, schon hier verbietet sich die Verallgemeinerung – je mehr ich erfahre, desto weniger weiß ich. Je länger, tiefer, glücklicher oder schmerzhafter ich sie empfinde, über sie nachdenke, sie in meiner Umgebung beobachte, desto schwerer fällt es mir, die Frage zu beantworten: Was ist Liebe?“

Literaturtage-Gastgeber Christian Brückner (m.) begrüsste Friedenspreisträger Navid Kermani (l) und den Moderator des Abends FAZ-Redakteuer Hubert Spiegel im Veranstaltungsraum des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst anläßlich der 19. Wiesbadener Literaturtage.© massow-picture
Friedensbuchpreis-Träger Navid Kermani. „In allen göttlichen Eigenschaften gibt es Barmherzigkeit, nur nicht in der Liebe!“. © massow-picture

Nein, dieser Text entstammt nicht seinem, im Programm der Literaturtage angekündigten Roman „Große Liebe“. Anlässlich des Friedenspreises, der Kermani zum Abschluss der Buchmesse im Oktober in der Frankfurter Pauls-Kirche verliehen wird, hatte sein langjähriger Freund und Lektor, der FAZ-Redakteur Hubert Spiegel vorgeschlagen, zunächst einen Text aus dem Werk seiner west-östlichen literarischen Erkundungen „Zwischen Koran und Kafka“, zu lesen. Was jedoch mit dem gewählten Kapitel daraus „Schmutz meiner Seele. Kleist und die Liebe“ wiederum schnurstracks zur „Liebe“ führte, so poetisch hinterfragt und beschrieben, wie selten ein Autor, obgleich jedoch die grundlegenden Gedanken von den Klassikern zitiert, komprimiert und aus orientalisch-mystischem Erfahrungsschatz erweitert.

9_Kafka_Koran„Denn“, so der Friedenspreisträger Kermani weiter, „die Antworten der Dichter, so begeistert ich sie als junger Mensch las, befriedigten mich mit den Jahren immer weniger, schlimmer noch: führten mich in die Irre, soweit ich das als Irregeführter zu beurteilen vermag. Die Dichter – nun doch eine Verallgemeinerung, zu allem Überfluß eine, die literaturhistorisch grotesk ist, jedoch in der Not gerade des jungen, des beginnenden Lesers sich unvermeidlich einstellte – die Dichter besangen die Liebe als eine Verheißung. Sie sprachen vom Leiden, ja, beschrieben das Beißen ihrer Sehnsucht, das Brennen ihrer Eifersucht, die Prügel ihrer Enttäuschung. Und doch schien die Liebe über alle Abgründe der Verzweiflung, des Verlassenseins, des unstillbaren Verlangens das herrlichste, das höchststehende aller menschlichen Gefühle zu sein. Des Menschen Glück – noch so ein Wort, das man auf Anhieb zu begreifen glaubt und eben deshalb zwischen den Fingern zerrinnt: Glück – des Menschen Glück schien untrennbar von ihr abzuhängen, genauer: schien mit der Liebe zu korrelieren, deren Erfüllung den Liebenden als Beschwingtheit, als Schweben, als Schwerelosigkeit erhebt und ihn damit geradezu physisch spürbar dem Himmel nähert, während die Liebesnot seine 2 Beine buchstäblich so schwermacht, daß er sich durch den Alltag allenfalls noch schleppt, wenn er nicht gleich im Bett bleibt, niedergedrückt auf die Erde.“

„Im nachhinein habe ich den Eindruck“, sagte Navid Kermani, „daß viele Dichter gar nicht von der Liebe sprachen, sondern von der Verliebtheit, deren Symptome so viel leichter zu benennen sind – nachweislich waren es schon vor fünftausend Jahren dasselbe Leeregefühl im Magen, der beschleunigte Pulsschlag, das rasante Auf und Ab der Stimmung, und auch in Zukunft werden es dieselben Torheiten sein, zu denen sich der Liebende hinreißen läßt, die Schwüre, die sämtlich für die Ewigkeit gegeben werden, um häufig doch nur ein paar Wochen zu halten. Wohl deshalb sprachen die Dichter zu mir, der ich auch erst die Verliebtheit kennengelernt hatte. Überhaupt hat die Literatur einen durchaus beträchtlichen Anteil daran, daß sich eine Vorstellung von immerwährender Bezauberung herausgebildet hat, die in der engen Bezogenheit zweier Menschen in der bürgerlichen Kleinfamilie beinah zwangsläufig überfordert und eben irreführt. Die meisten Ehen – auch das gehört zu den Beobachtungen, die mich verwirren – die meisten Ehen scheinen keineswegs an einem Zuwenig an Liebe zu scheitern, sondern einem Zuviel an Erwartungen.“

„Daß die Liebe selbst ein Abgrund sein kann und gerade ihr Übermaß zerstört, das fand ich in der Literatur nirgends“, sagte Navid Kermani, weswegen er diese Lücke literarisch schließen wollte. „Allerdings“, räumte der Orientalist ein „gehörte Heinrich von Kleist nicht zu den Dichtern, die ich als junger Mensch las; oder wenn ich ihn las, dann konnte ich ihn noch nicht auf das eigene Erleben beziehen. Heute glaube ich, daß in deutscher Sprache niemand das Wesen der Liebe tiefer, umfassender, auch illusionsärmer bezeichnet hat als jener Dichter, der mit dem 3 „Ach!“ der Alkmene den berühmtesten Ausdruck für die totale Verwirrtheit der Liebenden geschaffen hat.“ Und so entstand unter anderem auch sein Essay „Schmutz meiner Seele. Kleist und die Liebe“, zu finden in Zwischen Koran und Kafka, 2. Aufl. Beck-Verlag, München 2015.

navid-kermani-liebeEine wunderbare Überleitung zu Kermanis Werk „Große Liebe“, Hanser-Verlag, München 2014, welches vor allem nicht nur über die – eigentlich hoffnungslose – große Lebens-Liebe eines 15jährigen pubertierenden Friedensaktivisten Anfang der 80er Jahre zu einer 19jährigen Studentin handelt, sondern in 100  Kapiteln etliche Facetten von Liebe – mitunter  aus dem Blickwinkel orientalischer gewitzter Weisheit – erscheinen lässt.

Aus Kapitel 1:

Ein König reist durchs Land, in seinem Gefolge Minister, Generale, Soldaten, Beamte, Diener und die Damen seines Harems. Am Wegrand sieht er einen alten, zerlumpten Mann kauern, einen Narren vielleicht. ≫Na, du wurdest wohl auch gern ich sein≪, ruft der Konig spottisch von seinem Elefanten herab. ≫Nein≪, antwortet der Alte, ≫ich mochte nicht ich sein.≪

Aus Kapitel 3

Weshalb denke ich seit vorgestern an den Fünfzehnjahrigen, nein, weshalb schrieb ich gestern über ihn, denn gedacht habe ich seiner oft, vielleicht sogar täglich, seit ich vor dreißig Jahren der Junge war, der die Pausen in der Raucherecke verbrachte, obwohl er weder rauchte noch einen der älteren Schüler kannte, verzagt, sehnsüchtig und mit einem Herzen, das so laut schlug, das er an manchen Tagen erschrocken seine rechte Hand auf die Brust legte? Als ich vorgestern bei dem persischen Dichter Attar die Anekdote von dem Alten las, der nicht ich sein mochte, überfiel mich der Gedanke, das eben darin, in dem Wunsch, sich loszuwerden, meine erste, niemals grössere Liebe gegründet sei.  Später nämlich, später, wenn man sich gefunden zu haben meint, will man sich doch oder wollte jedenfalls ich mich behalten, bestand ich auf mir und erst recht in der Liebe. Der Leser wird einwenden, ein unbedarfter Junge sei nicht mit einem heiligen Narren zu vergleichen, der Ichverlust, den er als Pubertierender womöglich anstrebe – einmal beiseite gelassen, dass man die Pubertät gewöhnlich gerade im Gegenteil als eine Ichsuche beschreibt –, der Ichverlust grundsätzlich anderen Gehalts als auf dem mystischen Weg, gänzlich banal. In der Hoffnung habe ich gestern zu schreiben begonnen, das ich den Leser widerlege.

Der Leser darf sich den Jungen nicht eigentlich befangen, verwirrt, schwachmutig vorstellen. In seiner eigenen Klasse bewegte er sich mit breiter Brust, galt manchen Mitschülern als überheblich, den Lehrern als aufmüpfig, das Wort der Eltern missachtete er oft. Auch war er nicht ganz ohne Erfahrung, zog mit seinen langen dunklen Locken durchaus die Blicke auf sich. Mit gleichaltrigen Mädchen war er schon mehrmals ≫gegangen ≪, wie es noch hieß. Das er mit keiner geschlafen hatte, war für das Alter nicht ungewöhnlich, beunruhigte ihn jedenfalls kaum. Sosehr ihn das Geheimnis beschäftigte, das die Vereinigung zweier Körper ihm war, ahnte er zugleich dessen Bedeutung im Leben und hatte sich vorgenommen, auf eine Verbindung zu warten, die den Namen Liebe verdiente. An die Schönste des Schulhofs dachte er nicht. Als er die Pausen bereits in der Raucherecke verbrachte, dachte er nicht im Traum oder genau gesagt ausschließlich unter der Bettdecke daran, sie jemals zu küssen, sie nackt vor sich zu sehen. So viel Wirklichkeitssinn besaß er, um zu erkennen, das die Schönste sich nicht für jemanden interessieren wurde, der noch zu jung für die Raucherecke war. Der Leser darf eine plausible Erklärung erwarten, warum es den Jungen dennoch zwischen die breiteren Rucken zog, wo er sich tatsachlich so befangen, verwirrt und schwachmutig fühlen musste, wie ich es auf der gestrigen Seite beschrieb. Seit vier Tagen versuche ich mir den Hergang zu erklären, meine Erinnerung ähnelt hier einem Film, aus dem ein Zensor die entscheidenden Szenen herausgeschnitten hat. Ich habe vor Augen, wie der Junge in einem langen Gang, der zwei Gebäude des Gymnasiums verband, auf die Schönste zulief, wie ihre Blicke sich trafen und sofort wieder trennten, sich ein zweites und drittes Mal begegneten; ich vergesse nie das Lächeln, das er auf ihren Lippen wahrzunehmen meinte, bevor sie aus dem Sichtfeld trat; ich erinnere mich vage der süßlichen Phantasien, denen er sich auf den restlichen Metern des Gangs und noch im Unterricht überlies, ohne länger als Sekunden an die Erfüllung zu glauben, er als ihr Geliebter, sie beide Hand in Hand, die erstaunten Blicke seiner Klassenkameraden. Danach steht er im Film, den der Zensor geschnitten hat, bereits zwischen den breiteren Rücken. Nur mutmaßen kann ich, wieviel Überwindung es ihn kostete, sich in die Raucherecke zu stellen und, mehr noch: jede Pause wiederzukehren, sofern keiner der strengen Lehrer Aufsicht führte, jede Pause die Blicke zu ertragen, die über die Schultern geworfen wurden, jede Pause dem getuschelten Spott zu trotzen, den er zu hören glaubte, zwei oder drei Schritte von der Schönsten entfernt, unter dem Schattendunkel ihres Haars – gut, sie war blond – ihr Gesichtchen eine Lampe oder war auch eine Fackel, umflattert von Rabengefieder, wie der Dichter Nizami im 12. Jahrhundert über die sagenhafte Leila schrieb: ≫Wessen Herz hatte beim Anblick dieses Mädchens nicht Sehnsucht gefühlt? Aber Madschnun fühlte mehr! Er war ertrunken im Liebesmeer, noch ehe er wusste, dass es Liebe gibt. Er hatte sein Herz schon an Leila verschenkt, ehe er noch bedenken konnte, was er da weggab.≪“

Gelesen aus Navid Kermani: „Große Liebe“, Hanser-Verlag, München 2014,

Andrea Volland kommt kaum nach beim Verkauf Navid Kermanis Werke © massow-picture
Andrea Volland kommt kaum nach beim Verkauf Navid Kermanis Werke © massow-picture

Bücher und Hörbücher, gesprochen von Christian Brückner und Schauspielerin Eva Mattes (am 21.6.15 in Villa Clementine), fanden über einen Büchertisch der Alpha-Buchhandlung,  Schwalbacher Strasse 9, 65185 Wiesbaden(hier Andrea Volland voll in Action) reißenden Absatz.