FREI. SCHAFFEND. Die Malerin Ottilie W. Roederstein – Umfassende Retrospektive im Städel Museum Frankfurt

Ausstellungsansicht „FREI. SCHAFFEND. Die Malerin Ottilie W. Roederstein Foto: Städel Museum – Norbert Miguletz
Ausstellungsansicht „FREI. SCHAFFEND. Die Malerin Ottilie W. Roederstein Foto: Städel Museum – Norbert Miguletz

Frankfurt am Main, 19. Juli 2022. Die deutsch-schweizerische Malerin Ottilie W. Roederstein (1859–1937) zählte zu den erfolgreichsten Künstlerinnen der Zeit um 1900. Diesen Sommer präsentiert das Städel Museum eine umfassende Retrospektive, die mit 75 Gemälden und Zeichnungen einen Überblick über die künstlerische Entwicklung der stilistisch vielseitigen Malerin gibt. Nach Ausbildungsstationen in Zürich, Berlin und Paris lebte Roederstein ab 1891 in Frankfurt am Main. 1909 ließ sie sich mit ihrer Lebensgefährtin, der Gynäkologin Elisabeth H. Winterhalter, im benachbarten Hofheim am Taunus nieder. Roederstein war als freischaffende Porträtmalerin eine feste Größe im männlich dominierten Kunstbetrieb und setzte sich selbstbewusst über die vorherrschenden gesellschaftlichen Normen hinweg. Ihre Werke wurden in zahlreichen nationalen und internationalen Ausstellungen, von Zürich über Paris und Frankfurt bis nach London und Chicago, gezeigt und fanden große Anerkennung. Heute ist die Malerin trotz ihrer regen Ausstellungstätigkeit und ihres einstigen Renommees einem größeren Publikum nahezu unbekannt.

Das Schaffen von Ottilie Roederstein ist von der Geschichte des Städel Museums und der Stadt Frankfurt nicht zu trennen. Nur wenige Meter lagen zwischen ihrem Atelier in der Städelschule und dem Museum, das sie regelmäßig besuchte und von dessen Sammlung sie sich inspirieren ließ. Ihre eigenen Werke fanden schon zu Lebzeiten Eingang in die Sammlung. 1902 erwarb das Städel Museum Roedersteins Gemälde Lesende alte Frau als erstes Werk einer zeitgenössischen Künstlerin. Die Grundlage der Ausstellung bildet demnach die Sammlung des Städel Museums, die mit 28 Werken der Künstlerin neben dem Stadtmuseum Hofheim am Taunus und dem Kunsthaus Zürich über einen der bedeutendsten Bestände verfügt.

Die Ausstellung wird durch die Gemeinnützige Kulturfonds Frankfurt RheinMain gGmbH gefördert und zusätzlich unterstützt von der Friede Springer Stiftung, der Ernst Max von Grunelius-Stiftung sowie von der Damengesellschaft des Städelschen Museums-Vereins e. V.

Seit Jahren widmen wir uns mit unserem Ausstellungsprogramm zu wegweisenden Künstlerinnen der Erweiterung des kunsthistorischen Kanons. Mit der Retrospektive über die große Porträtmalerin Ottilie Roederstein fügen wir der Kunstgeschichte nun ein weiteres Kapitel hinzu. Ottilie Roederstein war eine wichtige Person des Frankfurter Kunst- und Kulturbetriebs. Der Ruhm, den sie hier zu Lebzeiten genossen hat, ist weitgehend verblasst. Damit teilt sie das Schicksal zahlreicher erfolgreicher Künstlerinnen, die nach dem Zweiten Weltkrieg zusehends in Vergessenheit gerieten. Ein größeres Publikum wieder mit ihrem Schaffen vertraut zu machen, ist uns ein besonderes Anliegen“, so Philipp Demandt, Direktor des Städel Museums.

„Ottilie Roedersteins Stil war vor allem in den frühen Jahren geprägt durch die französische akademische Malerei. Sie arbeitete bewusst für den Kunstmarkt und richtete sich mit Bildnissen und Stillleben nach den Wünschen ihrer Auftraggeberschaft. In ihren freien Kompositionen überschritt sie jedoch gezielt das für malende Frauen übliche thematische Terrain, indem sie religiöse Bilder und gar Akte schuf. Sie wandte sich der altmeisterlichen Temperamalerei zu und experimentierte mit impressionistischen, symbolistischen und neusachlichen Stilmitteln, wobei ihre individuelle Handschrift stets erkennbar blieb. Unsere Ausstellung macht es sich zur Aufgabe, Ottilie Roedersteins beeindruckende Karriere als Malerin gebührend zu würdigen und sie im Kontext ihrer Zeit zu verorten“, erläutern Alexander Eiling und Eva-Maria Höllerer, die Kuratoren der Ausstellung.

Der Fokus der Ausstellung liegt auf Roedersteins spezifischer Malweise, doch auch ihre Rolle als Netzwerkerin und Lehrerin wird beleuchtet. Ihre enge Verbindung mit Frankfurt und der Region zeigt sich darüber hinaus eindrücklich anhand einer Fülle historischer Dokumente, Fotografien und Briefe aus dem Nachlass der Künstlerin, die dem Städel Museum 2019 von den Erben ihres Biografen Hermann Jughenn übereignet wurden. Jughenn lebte in Hofheim am Taunus und war mit beiden Frauen über Jahre hinweg befreundet. Nach dem Tod Roedersteins 1937 initiierte Elisabeth Winterhalter die Arbeit an einem Verzeichnis der Werke Roedersteins und einer Biografie. Zu diesem Zweck übergab sie Jughenn den brieflichen Nachlass der Künstlerin sowie zahlreiche historische Fotografien und Werkbesprechungen. Er bearbeitete diesen Bestand über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren und ergänzte ihn durch seine eigene Korrespondenz, Werkaufnahmen und Aufzeichnungen. Nach seinem Tod im Jahr 1967 ging sein mit Roedersteins Nachlass verbundenes Archiv in den Besitz seiner Familie über und wird in seinem Hofheimer Haus untergebracht. Im Städel Museum wird das RoedersteinJughenn-Archiv nun wissenschaftlich erschlossen – erste Ergebnisse sind in die Ausstellung und den begleitenden Katalog eingeflossen.

 

Rundgang durch die Ausstellung

Die Ausstellung beginnt mit Roedersteins frühen Werken der 1880er- und 1890er-Jahre und nimmt vor allem ihre Ausbildungszeit in Paris in den Fokus. Wie die meisten ihrer Malerkolleginnen konnte sie ihre Ausbildung nicht strategisch planen. Frauen waren an den Kunstakademien noch nicht zugelassen, und der Beruf der Kunstmalerin war gesellschaftlich nicht akzeptiert. Roederstein studierte in sogenannten Damenklassen oder Damenateliers in Zürich, Berlin und schließlich Paris. Dort zeigte sie ihre Werke fünf Jahre lang regelmäßig in den Salons. Einen großen, internationalen Erfolg erzielte sie auf der Pariser Weltausstellung 1889, wo sie mit einer Silbermedaille prämiert wurde. Sie zeigte dort die Porträts Miss Mosher oder Sommerneige (um 1887), Helene Roederstein mit Schirm (1888) und mit Ismael (1880) erstmals eine Aktdarstellung und eine biblische Historie – Genres, die ausschließlich männlichen Künstlern vorbehalten waren.

1891 zog Roederstein zusammen mit Elisabeth H. Winterhalter nach Frankfurt. Die in der Schweiz approbierte Ärztin konnte in der Stadt eine gynäkologische Praxis eröffnen. Roederstein hielt die Profession ihrer Lebensgefährtin beispielhaft in dem Bildnis Dr. Elisabeth Winterhalter (1887) fest. Das als liberal und der emanzipatorischen Bewegung gegenüber aufgeschlossen geltende Frankfurt bot günstige Rahmenbedingungen, sich privat wie beruflich zu entfalten. Als freischaffende Porträtmalerin konnte Roederstein direkt nach ihrer ersten Ausstellung im Frankfurter Kunstverein 1891 schnell in der bürgerlichen Gesellschaft Fuß fassen. Sie war teilweise über Jahrzehnte hinweg mit den Porträtierten und deren Familien befreundet. Die Ausstellung präsentiert u. a. die Bildnisse Auguste Andreas, geb. Walluf (1892), Hanna Bekker vom Rath (1923) und Lilly von Schnitzler (1929).

Die Selbstbildnisse der Künstlerin bilden einen weiteren Schwerpunkt der Ausstellung. Sie entstanden in allen Phasen ihres Schaffens in verschiedenen Medien und boten der Malerin die Möglichkeit der künstlerischen Positionierung und Selbstbefragung. Außerdem spielten sie bei der Erprobung neuer Stilrichtungen und Maltechniken eine wichtige Rolle. Die Ausstellung vereint u. a. das Selbstbildnis mit roter Mütze (1894), das Selbstbildnis mit Hut (1904) und das Selbstbildnis mit Pinseln (1917). Meist inszenierte sich Roederstein mit verschränkten Armen und abweisendem Blick in geradezu maskuliner Attitüde als ernst zu nehmende und erfahrene Künstlerin, die sich Respekt und Erfolg erarbeitet hatte. Bereits zu Lebzeiten wurde Roederstein öffentlich als schöpferische Künstlerin wahrgenommen, eine Rolle, die man zuvor nur den männlichen Kollegen zugestanden hatte. Um 1900 wurden Frauen in der Malerei als Dilettantinnen und Kopistinnen akzeptiert, nicht aber als „frei“ schaffende Künstlerinnen mit eigener Erfindungsgabe. Roederstein gelang es jedoch, sich mit ihrem Werk einen Freiraum zu erobern, von dem viele ihrer Zeitgenossinnen kaum zu träumen wagten.

Roedersteins Malerei erfuhr in Frankfurt innerhalb weniger Jahre einen stilistischen Wandel. 1892 bezog sie ein Atelier in der Städelschule. Ab der Mitte des Jahrzehnts orientierte sie sich intensiv an Werken der deutschen und italienischen Renaissance, wie z. B. Die Verlobten (1897) oder Mila von Guaita (1896) zeigen. Sie führte ihre Malerei nicht mehr in Öl auf Leinwand, sondern in Tempera auf Holz aus und weitete ihre Themen zudem auf allegorisch-heroische Stoffe und religiöse Motive aus. Diese waren im späten 19. Jahrhundert noch vorwiegend den männlichen Kollegen vorbehalten.

Roedersteins Lebensgefährtin Elisabeth Winterhalter war eine der ersten Chirurginnen Deutschlands und forschte ab 1895 am Dr. Senckenbergischen Institut. Sie engagierte sich aktiv in der Frankfurter Frauenbewegung und beteiligte sich federführend an der Gründung des Vereins „Frauenbildung – Frauenstudium“. Dessen Zielsetzung war es, Mädchen den Weg zum Abitur zu ebnen, um ihnen damit den Zugang zu einem Hochschulstudium zu ermöglichen. Roederstein war Mitglied des Hauptvorstands im Frauenkunstverein Frankfurt, der sich für professionelle Ausbildungs- und Ausstellungsmöglichkeiten für Künstlerinnen einsetzte. In ihrem Atelier in der Städelschule bot sie Mal- und Zeichenkurse für Frauen an, da bis 1919 Frauen nicht an deutschen Kunstakademien zugelassen wurden. Mit Privatunterricht förderte Roederstein ihr weibliches Umfeld und erweiterte dadurch auch ihre Auftraggeberschaft.

Zeitlebens hatte die Malerin den Kunstmarkt fest im Blick und war über erfolgreiche Kompositionen und Trends bestens informiert. Als freischaffende Künstlerin ohne großen finanziellen Rückhalt durch ihre Familie war sie auf den Verkauf ihrer Werke angewiesen und orientierte sich daher an gefragten Themen und Stilen. Sie wandte sich etwa dem Frankfurt-Cronberger Künstler-Bund zu, einer sezessionistischen Bewegung, die als Ausstellungsgemeinschaft die aus Frankreich kommende impressionistische Freilichtmalerei in Deutschland etablieren wollte – sichtbar etwa in dem Werk Bildnis des Malers Jakob Nussbaum (1909).

Ihrem Umzug 1909 nach Hofheim zusammen mit Winterhalter folgten außerordentlich produktive Jahre, in denen Roederstein erneut mit unterschiedlichen Stilen experimentierte. In Hofheim kam sie zudem mit zahlreichen Vertretern des Expressionismus in Kontakt. Die Künstlerin nahm jedoch nur wenige expressive Anklänge in ihrem Werk auf. Sie blieb ihrem eigenen, von Linearität und einer dekorativen Flächigkeit geprägten Stil weitgehend treu, der in den 1920er-Jahren angesichts der aufkommenden Malerei der neuen Sachlichkeit wieder en vogue war. 1929 veranstaltete der Frankfurter Kunstverein aus Anlass ihres 70. Geburtstags eine Sonderausstellung; sie erhielt die Ehrenplakette der Stadt Frankfurt und wurde Ehrenbürgerin von Hofheim. Die letzte Phase von Roedersteins Schaffen fiel in die Zeit des Nationalsozialismus. Sie war nun staatlicher Reglementierung durch die Reichskammer der bildenden Künste unterworfen, um weiterhin ausstellen und verkaufen zu können. Nach Roedersteins Tod richtete der Frankfurter Kunstverein 1938 eine große Gedächtnisausstellung aus, die anschließend im Kunsthaus Zürich und in der Kunsthalle Bern gezeigt wurde. Bis Kriegsende war Roedersteins Werk noch in ihrem Atelierhaus zu sehen, das Winterhalter und Hermann Jughenn zu einer Gedenkstätte für die Künstlerin machten. Danach waren ihre Arbeiten lange Zeit nicht mehr in größerem Umfang zu sehen. Erst in den 1980er-Jahren wurde die Kunst von Ottilie Roederstein durch Ausstellungen im Stadtmuseum Hofheim wieder einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht, erlangte aber nicht mehr die einstige internationale Reichweite.

Die Ausstellung des Städel Museums entstand in Zusammenarbeit mit dem Kunsthaus Zürich.

FREI. SCHAFFEND. DIE MALERIN OTTILIE W. ROEDERSTEIN Kuratoren: Dr. Alexander Eiling (Sammlungsleiter Kunst der Moderne, Städel Museum), Eva-Maria Höllerer (Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Sammlung Kunst der Moderne, Städel Museum) Archiv: Dr. Iris Schmeisser (Leiterin Provenienzforschung und historisches Archiv, Städel Museum) Ausstellungsdauer: 20. Juli bis 16. Oktober 2022

Ort: Städel Museum, Schaumainkai 63, 60596 Frankfurt am Main Information: www.staedelmuseum.de

Besucherservice: +49(0)69-605098-200, info@staedelmuseum.de Öffnungszeiten: Di, Mi, Fr, Sa, So + Feiertage 10.00–18.00 Uhr, Do 10.00–21.00 Uhr Sonderöffnungszeiten: Aktuelle Informationen zu besonderen Öffnungszeiten an Feiertagen unter www.staedelmuseum.de

Überblicksführungen: Vom 20. Juli bis 16. Oktober: Do 18.00 Uhr / Sa 14.00 Uhr / So 11.00 Uhr sowie am Mo 3. Oktober, 14.00 Uhr; Überblicksführung mit ausführlicher Bildbeschreibung So 21. August, 11.00 Uhr; Überblicksführung mit Gebärdensprachdolmetscherin So 4. September, 11.00 Uhr Tickets für die Überblicksführungen sind im Online-Shop unter shop.staedelmuseum.de erhältlich, Restkontingente je nach Verfügbarkeit an der Kasse. Aktuelle Informationen zu den Überblicksführungen und besonderen Angeboten an den Feiertagen sowie zu den Öffnungszeiten unter staedelmuseum.de.