Wiesbadener Biennale startet bei herrlichem Wetter – EU-Retrospektive im Alten Gericht, Beerdigungs-Happening und Burnout-Performance

Rund 500 Besucher feierten im Festivalzentrum hinter dem Theater am Warmen Damm die Eröffnung der Wiesbadener Biennale 2016.  Foto: Diether v. Goddenthow © massow-picture
Rund 500 Besucher feierten im Festivalzentrum hinter dem Theater am Warmen Damm die Eröffnung der Wiesbadener Biennale 2016. Foto: Diether v. Goddenthow © massow-picture

Am Donnerstag-Abend eröffnete bei bestem Sommerwetter Intendant Eric Laufenberg am Warmen Damm das Wiesbadener Theater-Festival Biennale. Grußworte sprachen unter anderem Ruth Wagner, Hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst a.D. und Rose-Lore Scholz, Kultdezernentin der Landeshauptstadt Wiesbaden. Einen ersten Überblick über Entstehung, die bisherige gewaltige Vorbereitungsarbeit und weitere Station der Wiesbadener Theater-Biennale gaben Kuratorin Maria Magdalena Ludewig und Kurator Martin Hammer.

Abends im Festival-Zentrum leuchten die Lettern der Schriftgirlande  Foto: Diether v. Goddenthow © massow-picture
Abends im Festival-Zentrum leuchten die Lettern der Schriftgirlande Foto: Diether v. Goddenthow © massow-picture

Das Open-Air-Festival-Zentrum mit seinen von Studenten im Geiste und nach den Entwürfen Enzo Maris hergestellten Weichholzbänken, Tischen und Stühlen ist offen für alle Interessenten und lädt zum Verweilen, Diskutieren und ab Mittag auch zu leckeren Gerichten ein. Links und rechts ist es umrahmt von Streetfood– und Getränke-Containern und überspannt mit einer Schrift- Girlande von Rainer Casper mit dem widersprüchlichen und nachts leuchtenden Biennale-Motto „This is not Europe“.

Altes Gericht wird pikanterweise zum „Haus der Geschichte im Exil“

Das Haus der Europäischen Geschichte im Alten Gericht. Für ein paar Wochen hat Wiesbaden ein Europa-Museum erhalten. Foto © massow-picture
Das Haus der Europäischen Geschichte im Alten Gericht. Für ein paar Wochen hat Wiesbaden ein Europa-Museum erhalten. Foto © massow-picture

Bereits ab Mittag hatte der belgische Künstler Thomas Bellinck eingeladen ins „Haus der Europäischen Geschichte im Exil“. Dabei handelt es sich um ein skurriles Museum im Jahr 2060, welches Bellinck und seine Helfer seit Monaten im leerstehenden Alten Gericht, in der Gerichtsstrasse, auf vier Etagen eingerichtet hatten. Es gibt einen fiktiven Rückblick auf den Untergangs der Europäischen Union . Besucher können, quasi  aus der Zukunft zurückblickend, das dunkle Gebäude voller merkwürdiger Exponate, Schrifttafeln und angestaubter Landkarten  durchstreifen und auf unsere Gegenwart schauen.  13 bizarre Museumsstationen erörtern Entwicklung und Untergang der Europäischen Union der offenen Grenzen, des freien Geistes, gemeinsamer Währung und eines gemeinsamen Parlaments. Pikanterweise ist wurde  „Haus der Europäischen Geschichte im Exil“ im Alten Gericht untergebracht, dessen Zukunft selbst ungewiss und derzeit eher vom eigenen baulichen Untergang geprägt ist, was die apokalyptische Atmosphäre zusätzlich verdichtet. Thomas Bellincks Ausstellung ist über die Dauer des Biennale-Festivals hinausgehend noch bis zum 18. September 2016 täglich zwischen 11 und 18 Uhr geöffnet. Karten erhalten Sie an der Theaterkasse oder vor Ort.

Totenfeier und Erdbestattung der multikulturellen Gesellschaft – Mit Schwarzem Humor für mehr Menschlichkeit

Auszug aus der Kirche: vorneweg die Messdiener mit Weihrauchschwenker, gefolgt vom niederländischen Künstler Dries Verheoven, den Sargträgern mit der verstorbenen "Multikulti-Gesellschaft" entlang der Wilhelmstrasse zum Schillerdenkmal Foto: Diether v. Goddenthow © massow-picture
Auszug aus der Kirche: vorneweg die Messdiener mit Weihrauchschwenker, gefolgt vom niederländischen Künstler Dries Verheoven, den Sargträgern mit der verstorbenen „Multikulti-Gesellschaft“ entlang der Wilhelmstrasse zum Schillerdenkmal Foto: Diether v. Goddenthow © massow-picture

Ganz in der Nähe des Festivals-Zentrum, in der zur „Kirche der Beerdigung“ umfunktionierten Anglikanischen Kirche, hatte Dries Verhoeven die multikulturelle Gesellschaft im Rahmen eines Beerdigungs-Happenings zu Grabe getragen. Die Gäste flanierten  am Sarg eines  aufgebahrten Jünglings mit offenstehenden Augen vorbei, bevor sie auf den Kirchenbänken Platz nehmen konnten. Zuletzt war die Kirche bis auf den letzten Sitz- und Stehplatz gefüllt, als der Trauerzug einzog mit Messdienern und „Pfarrer“ Dries Verhoeven an der Spitze, gefolgt von den Sargträgern und einer aus Statisten bestehenden Trauergesellschaft. Ganz in Tradition zahlreich zusammengefügter christlicher Rituale verlief die Trauerfeier mit Predigt, Lesung, Kerzen, Kreuz, Weihrauch, Chor und Orgel, bevor der Trauermarsch retour aus der Kirche erfolgte über die Frankfurter Strasse entlang der Wilhelmstrasse bis zu einem ausgehobenen Grab oberhalb des Schillerdenkmals am Theater, wo die Tote, die „multikulturelle Gesellschaft“ ihre letzte Ruhestätte fand.

Stärkung für die nächste Biennale-Auftaktveranstaltung „Sculping Fear“ im Malsaal

Studenten und freiwillige Helfer bereiten die Eröffnungsveranstaltung der fröhlichen Biennale am Warmen Damm vor. Foto: Diether v. Goddenthow © massow-picture
Studenten und freiwillige Helfer bereiten die Eröffnungsveranstaltung der fröhlichen Biennale am Warmen Damm vor. Foto: Diether v. Goddenthow © massow-picture

Nach diesem fulminantem Trauer-Happening, „ich wusste mitunter nicht, ob es echt oder Fiktion war“ (Dame beim Leichenschmaus), hatte die offizielle Festivals-Eröffnungsfeier im Festivalzentrum für viele wohl beinahe schon  „Erlösungscharakter“.  Hier konnte man an der wohl an diesem Abend längsten Sekttheke Wiesbadens ein wenig auftanken, um sich für die anschließende Biennale-Eröffnungsveranstaltung „Sculpting Fear“ gegen 21 Uhr im Malsaal zu wappnen.

Das aktuelle Biennale-Programm finden Sie im Onlinekatalog