Septemberprogramm des Literaturforums im Mounsonturm Frankfurt

© Foto: Diether v. Goddenthow
© Foto: Diether v. Goddenthow

Mittwoch, 5. September 2018, 20 Uhr:
Frank Witzel stellt vor: Maruan Paschen mit Weihnachten

Man nehme: ein Therapiegespräch, Geschichten à la Till Eulenspiegel, Themen wie Migration, die erste Liebe und die Ironisierung der Ironie, portioniere alles in 25 Kapitel – et voilà, fertig ist Weihnachten. Ein Ich, das Maruan Paschen heißt, schildert einem Psychologen namens Dr. Gänsehaupt eine Familientradition: An Heiligabend gibt es bei den Paschens stets Fondue, diesmal jedoch mit fatalem Ausgang. Denn, so erfahren wir schon zu Beginn des Romans, am Ende dieses Abends ist die Familie tot.

Wie das Essen, so das Erzählen: Maruan Paschen spießt genussvoll verschiedenste literarische Motive und Formen auf, um sie – Text statt Topf – in einen Roman zu stecken. Aus dieser wilden Mischung entsteht ein ganz eigener Geschmack. Kostproben gefällig? Wie wäre es mit der Krankheit der Mutter, die in jungen Jahren ohne Knochen auskommen musste und deshalb in einem Cognac-Glas herumgetragen wurde? Oder der Frau, der er beim Unterwäschekauf näher kommt, bis sie erfährt, dass seine Familie Fondue nur in Handschellen isst? Glauben sollte man Weihnachten, diesem Feuerwerk aus Räuberpistolen, besser nicht schenken.

Moderation: Frank Witzel

Ort: Literaturforum im Mousonturm
Eintritt: 7,-/4,- (VVK)| 8,-/5,- (AK)

Maruan Paschen, geboren 1984 nahe Ramallah, aufgewachsen in Hamburg, wurde zum Koch ausgebildet, ehe es ihn die Schweiz ans Bieler Literaturinstitut zog. Sein Debütroman Kai. Eine Internatsgeschichte erschien 2014. Maruan Paschen lebt in Leipzig.

********************************************************
Freitag, 14. September 2018, 20 Uhr:
Desintegriert euch! Max Czollek im Gespräch mit Necati Öziri.

Die aktuelle Gretchenfrage der Nation: Wie hast du’s mit der Integration? Mehr fördern, sagen die einen, mehr fordern, die anderen. Alles für die Katz, meint der „Lyriker, Berliner und Jude“ Max Czollek in seiner politischen Streitschrift Desintegriert euch! Nicht das Wie der Integration ist für ihn das Problem, sondern der Begriff an sich. Denn er setze ein gesellschaftliches „Zentrum“ voraus, eine „Dominanzkultur“, die durch die bunt gescheckte Lebensrealität Deutschlands alltäglich Lügen gestraft werde. Seinen polemischen Aufruf zur Desintegration erläutert Czollek am Beispiel der jüdischen Minderheit. Die sie auszeichnende Vielfalt schnurre in der deutschen Öffentlichkeit auf eine Facette zusammen: „die Nachkommen der Täter*innen bei der Konstruktion ihrer Identität zu unterstützen“. Czollek fordert dazu auf, aus dieser Rolle auszubrechen, weil Judentum sich nicht auf Schlagworte wie Shoa und Antisemitismus reduzieren lässt. Eine Analyse und Kritik der deutschen Erinnerungspolitik ist dabei genauso inbegriffen wie das Aufzeigen möglicher Alternativen. Angesichts des allenthalben wieder erstarkenden Nationalismus hat Czollek ein Ziel klar vor Augen: „Wir müssen weg von jeder Sehnsucht nach Normalität“. Über seine Thesen wird er an diesem Abend mit dem Theaterautor und Dramaturg Necati Öziri sprechen.

Eine Veranstaltung im Rahmen des Literaturprojekts Textland – Made in Germany.

Ort: Literaturforum im Mousonturm
Eintritt: 7,-/4,- (VVK)| 8,-/5,- (AK)

Max Czollek wurde 1987 in Berlin geboren, wo er Politikwissenschaften studierte und bis heute lebt. Am Zentrum für Antisemitismusforschung wurde er promoviert. Er ist sowohl Mitglied des Lyrikkollektivs G13 als auch Kurator des internationalen Lyrikprojekts „Babelsprech“. Zuletzt erschien der Gedichtband A.H.A.S.V.E.R. (2016). Mit Sasha Marianna Salzmann kuratierte er 2016 die Veranstaltung „Desintegration. Ein Kongress zeitgenössischer jüdischer Positionen“.

Necati Öziri, geboren 1988, hat Philosophie, Germanistik und Neuere Deutsche Literatur in Bochum, Istanbul und Berlin studiert. Öziri war Stipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung, arbeitete am Ballhaus Naunynstraße, Berlin, und ist derzeit Dramaturg am Maxim Gorki Theater, Berlin, wo er seit der Spielzeit 2014/15 künstlerischer Leiter des Studio R ist.

********************************************************
Mittwoch, 19. September 2018, 20 Uhr:
Inger-Maria Mahlke: Archipel

Und mittendrin ein Trübsal blasender Faschist im Bademantel. Natürlich „nicht in dem aus Frotté“. Nein, „Lorenzo trauert in anthrazitfarbener Seide, mit weißem Einstecktuchdreieck in der Brusttasche“, weil Franco die Falangisten von der Regierung ausgeschlossen hat. Im Archipel liegt der Witz im Detail. Jener Lorenzo macht sich gerne wichtig, ist aber nur ein Glied in einer Generationenfolge, die die Bautes und Bernadottes – Republikaner die einen, Nationalisten die anderen – auf Teneriffa zusammenführt. Oder andersherum: Inger-Maria Mahlke dröselt in ihrem vierten Roman das Familiengeflecht auf, treibt wieder auseinander, was sich gefunden hat. Die Chronologie steht Kopf, auf der größten Insel der Kanaren wird die Zeit zurückgespult.

Anhand der Geschichte zweier Familien, ihrer Freunde und Angestellten, erzählt der Roman im Rückwärtsgang von 2015 bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, wie die sozialen und politischen Spannungen Spaniens ihre Gestalt zwar ändern, aber nicht vergehen: von der Immobilienkrise über den Westsaharakonflikt bis zum Bürgerkrieg – und darüber hinaus.

Moderation: Björn Jager

Ort: Literaturforum im Mousonturm
Eintritt: 7,-/4,- (VVK)| 8,-/5,- (AK)

Inger-Maria Mahlke, gebürtige Hamburgerin, Jahrgang 1977, verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Lübeck und auf Teneriffa, studierte Rechtswissenschaften in Berlin und setzte ein erstes literarisches Ausrufezeichen mit einem Preis beim „open mike“ 2009. Ausgezeichnet wurden auch ihr Debüt Silberfischchen (2010) und der Roman Rechnung offen (2014), während Wie Ihr wollt (2016) den Sprung auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises schaffte. Inger-Maria Mahlke lebt in Berlin.

********************************************************
Dienstag, 25. September 2018, 20 Uhr:
Heinz Helle: Die Überwindung der Schwerkraft

Plötzlich ein Kuss – und Pause. In einer Münchener Kneipe stoppt ein Glatzkopf den alkoholgetränkten Redeschwall des großen Bruders. Aber der ergreift gleich wieder das Wort, gibt kurz darauf eine „abstoßende Erzählung“ zum Besten und schickt Monate später einen verworrenen Text hinterher. Es ist die letzte Nacht, die zwei Brüder miteinander erleben, eine letzte Nachricht, die der Jüngere bekommt, bevor der Ältere stirbt. Der kleine Bruder versucht, sich zu erinnern, sich nicht länger dem zu entziehen, was er zu dessen Lebzeiten kaum mehr hören wollte. Er leiht dem Toten seine Stimme, damit dieser erzählen kann: von zu viel Alkohol und Zigaretten, von der Schuld, die er spürt, vor allem aber vom Hadern mit der Welt, in der es Treblinka gab und die einen Marc Dutroux hervorgebracht hat. Nicht mal die Hoffnung, Vater zu werden, hält den Raubbau am eigenen Körper auf, zu tief verstrickt ist der große Bruder in seine Gedankenwelt, in der er ohne Unterlass um Zivilisationsbrüche kreist.

Die Kälte, die den Ton von Heinz Helles ersten beiden Romanen geprägt hat, muss diesmal draußen bleiben – als Eis auf Gehwegen und Schnee vor Kneipenfenstern. Die Überwindung der Schwerkraft dient dem „zutiefst menschlichen Ziel, das jeder Austausch von Zeichen hat, der Erzeugung von Nähe“.

Moderation: Christoph Schröder

Ort: Literaturforum im Mousonturm
Eintritt: 7,-/4,- (VVK)| 8,-/5,- (AK)

Heinz Helle wurde 1978 in München geboren. Er studierte Philosophie, arbeitete als Werbetexte und absolvierte das Schweizer Literaturinstitut in Biel. Mittlerweile lebt er mit Frau und Kind in Zürich. Für seine Romane Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin (2014) und Eigentlich müssten wir tanzen (2015) hat er mehrere Preise erhalten. 2016 wurde er mit einer philosophischen Arbeit über Bewusstsein promoviert.

Mit freundlicher Unterstützung von Pro Helvetia.

********************************************************
Mittwoch, 26. September 2018, 20 Uhr:
Karin Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer

Schlechte Karten für Liebe auf den ersten Blick. Die junge Adelige: stark kurzsichtig, mit Glubschaugen, und gegenüber Männern um Widerworte nicht verlegen. Der mittellose Student: „ein kleiner, grundhässlicher Mann“. Schlimmer noch: Er ist nicht nur von bürgerlicher Herkunft, sondern auch Protestant. Und dennoch entwickeln Annette von Droste-Hülshoff und Heinrich Straube Gefühle füreinander. Die Poesie macht’s möglich. Den gehässigen Vorbehalten seiner Geschlechtsgenossen zum Trotz erkennt Straube ihr literarisches Talent und setzt sich für sie ein. Wo zwei sich lieben, darf jedoch ein Rivale nicht fehlen. August von Arnswaldt redet wie Helmut Markwort („Fakten, Fakten, Fakten“), sieht aber gut aus. Was Nette mit Straube verbindet, ist schneller vorbei, als sie gucken kann.  

Karen Duve erzählt in ihrem historischen Roman Fräulein Nettes kurzer Sommer davon, wie sich am Anfang des 19. Jahrhunderts eine junge Frau zu behaupten versucht gegen die Widerstände eines chauvinistischen, männerdominierten Umfelds. Der Roman ist aber mehr als eine Liebes- und Emanzipationsgeschichte: Die Grimms lernt man genauso kennen wie einen jungen Studenten namens Heinrich Heine. Und spätestens wenn es um Politik geht, um die zunehmend nationalistischen und völkischen Ideale der Männerfiguren, sind wir auch mittendrin in unserer eigenen Gegenwart.

Moderation: Björn Jager

Ort: Literaturforum im Mousonturm
Eintritt: 7,-/4,- (VVK)| 8,-/5,- (AK)

Karen Duve wurde 1961 in Hamburg geboren. Dort arbeitete sie mehrere Jahre als Taxifahrerin, bevor sie sich voll und ganz dem Schreiben widmete. Mittlerweile lebt sie in der Märkischen Schweiz. Ihre Romane – z.B. Dies ist kein Liebeslied (2005) und Taxi (2008) – sind Bestseller. Zahlreiche Übersetzungen in andere Sprachen und mehrere Auszeichnungen sprechen für sich. Die Verfilmung ihres Romans Taxi kam im Sommer 2015 ins Kino.

********************************************************
Donnerstag, 27. September 2018, 20 Uhr:
Olga Martynova stellt vor: Thomas Stangl mit Fremde Verwandtschaften

Es ist ein „Sprachkunstwerk“ (Kurier), ein „grandioser Roman“ (NZZ) – so klar und einhellig das Urteil der Literaturkritik, so mehrdeutig und aufs Schönste rätselhaft erscheint Thomas Stangls Fremde Verwandtschaften. Zwei Erzählebenen wechseln sich ab, nähern sich einander an: Ein Architekt reist in ein afrikanisches Land zu einem Kongress. Ein Ich bewegt sich durch Paris, auf den Spuren eines früheren Aufenthalts. Der Architekt fühlt sich in seiner Haut nicht wohl, eine Form der Nähe zu seiner Reisegruppe will sich nicht einstellen, Wege verschwinden oder führen ins Nirgendwo. Träume, Wünsche und Erinnerungen beginnen ineinander zu verschwimmen. Und dazwischen immer wieder die Stimme dieses Ichs. Oder sind es und der Architekt doch eins?

Thomas Stangls Protagonist bieten weder Erfahrungen noch Gewohnheiten Sicherheit. In Afrika droht der postkolonial geschulte Europäer sich selbst zu verlieren – und so wird Fremde Verwandtschaften zu einem Roman ganz im Sinne der Moderne, in der Ich und Welt kollidieren, in der Identitätssuche und Entfremdung Hand in Hand gehen.

Moderation: Olga Martynova

Ort: Literaturforum im Mousonturm
Eintritt: 7,-/4,- (VVK)| 8,-/5,- (AK)

Thomas Stangl wurde 1966 in Wien geboren und ist seiner Heimatstadt treu geblieben. Er studierte Philosophie sowie Hispanistik. Seit Anfang der Neunziger veröffentlichte er Essays, Rezensionen und später Prosatexte in Tageszeitungen wie in Literaturzeitschriften. Bereits sein erster Roman Der einzige Ort brachte ihm den aspekte-Preis (2004) für das beste deutschsprachige Debüt ein. In den Folgejahren erhielt er u. a. den Literaturpreis der deutschen Wirtschaft (2007), den Telekom-Austria-Preis beim Bachmann-Preis (2007), den Alpha-Literaturpreis (2010) und den Erich-Fried-Preis (2011).

********************************************************
Samstag, 29. September, und Sonntag, 30. September 2018, 10-18 Uhr:
Der Roman als Kurzform. Seminar mit Frank Witzel

Die Definitionen des Romans sind vielfältig, allen gemein aber ist die Angabe einer gewissen Länge, die ihn von der Erzählung oder der Novelle unterscheiden soll. In der Moderne wurde das Genre mit unterschiedlichsten Mitteln aufgebrochen, doch auch hier wurde der Aspekt des Umfangs kaum infrage gestellt. Zeichnen den Roman aber nicht vielmehr ganz andere Aspekte aus, die nichts mit einer erreichten Seitenzahl zu tun haben? Umgekehrt gefragt: Wie kurz kann ein Text sein und dennoch als Roman gelten?

An diesem Wochenende wollen wir versuchen, das starre Gerüst des Romans aufzubrechen, indem wir uns mit dem Entwickeln kurzer Texte befassen, die jedoch weiter dem Genre Roman zugeordnet werden sollen.

Anhand von kleinen thematischen Einführungen und Aufgabenstellungen, vor allem aber in der direkten Arbeit am Text und dem gemeinsamen Gespräch darüber, soll die Perspektive des eigenen Schreibens erweitert und neue Darstellungsformen zugänglich gemacht werden.

Anmeldungen mit einer zwei- bis dreiseitigen Leseprobe an bjoern.jager@hlfm.de

Mit freundlicher Unterstützung der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen

Ort: Literaturforum im Mousonturm
Gebühr: 100,- / 50,-

Hessisches Literaturforum im Mousonturm e.V.
Waldschmidtstraße 4
60316 Frankfurt am Main

www.hlfm.de