Schüler diskutieren über Leben im vereinten Deutschland am 1.Okt. in der Paulskirche

Leben im vereinten Deutschland - 650 Schüler diskutieren und feiern mit viel Prominenz das 25 jährige Jubiläum der Wiedervereinigung in der Frankfurter Paulskirche © massow-picture
Leben im vereinten Deutschland – 650 Schüler diskutieren und feiern mit viel Prominenz das 25 jährige Jubiläum der Wiedervereinigung in der Frankfurter Paulskirche © massow-picture

Im Rahmen der  Feierlichkeiten zum Jubiläum 25 Jahre Wiedervereinigung Deutschland gab es am 1. Oktober 2015 in der Frankfurter Paulskirche einen ersten Höhepunkt: Über 650 Schüler der 13. Klassen Frankfurter Gymnasien waren der Einladung der Stiftung Polytechnischer Gesellschaft, dem Land Hessen und des hessischen Kultusministeriums, der Stadt Frankfurt und Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu einer feierlichen  „Standortbestimmung“ mit der Frage gefolgt: „Was bedeutet für Dich Leben im vereinten Deutschland“. Im Zentrum standen die Reden „Was und zu was vereint? Beobachtungen eines Zeitzeugen“ vom FAZ-Redakteur Frank Pergandes und „Was es für mich heißt, Deutscher zu sein“, der in Dresden geborenen Pharmazie-Doktorandin Sarah Oelsner.

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Den musikalischen Auftakt  im großen Plenarsaal der Paulskirche gestaltete das Kammerorchester des Goethe-Gymnasiums mit Variationen  aus dem Streichquartett C-Dur op. 76 Nr. 3 von Joseph Haydn, woraus die Grundmelodie für die Deutsche Nationalhymne stammt.

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Moderatorin Marita Peters, Schülerin, Siegerin von Frankfurt schreibt! Der große Diktatwettbewerb 2014, führte professionell durch das gesamte Programm. Sie stellte alle Teilnehmenden und die Ehrengäste vor, ohne sich einmal dabei zu verhaspeln, und sorgte für einen feierlich spannenden Verlauf der Festveranstaltung am historischen Ort deutscher Freiheitsgeschichte.

 

 

 

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In seiner Begrüßung wies  Peter Feldmann, Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt a. Main,  die Schüler und zahlreichen Ehrengäste darauf hin, dass die sich am  3. Oktober 2015  zum 25. Mal jährende deutsche Wiedervereinigung  das mit Abstand wichtigste Ereignis der jüngeren deutschen, vielleicht sogar europäischen Geschichte nach dem 2. Weltkrieg ist.  Frankfurt sei als die einzige Stadt in Deutschland, in der Menschen aus 180 Nationen mit 200 Sprachen und Stadtteilen mit bis zu 90 Prozent Ausländeranteilen friedlich zusammenlebten, in diesem Jahr angesichts der aktuellen Flüchtlingsproblematik  die wohl geeignetste Metropole, um die zentralen Feierlichkeiten für die Bundesrepublik „Grenzen überwinden“ auszurichten. Frankfurt könne für ganz Deutschland  eine Art Labor darstellen, wo experimentiert und gezeigt wird, dass Einwanderungs-Integration funktionieren und bereichernd sein kann. In Frankfurt hat das schon immer geklappt. Denn die Menschen eine der Kitt, freiheitlich und friedlich in Eigenverantwortung leben zu wollen.

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Staatsminister Axel Wintermeyer, Chef der Hessischen Staatskanzlei vertiefte Feldmanns Grußwort, indem er in den Raum stellte, und die Schüler bat, sich einmal vorzustellen, wie ihr Leben wohl verliefe, mit Einschränkungen von Freiheit, die hier in Deutschland und Mitteleuropa so selbstverständlich wäre. Freiheit müsse jeden Tag neu gelebt, geschätzt, erstritten und auch verteidigt werden.  Symbol der diesjährigen bundesweiten Jubiläumsveranstaltung sei das Ampelmännchen des Künstlers Ottmar Hörl als Botschafter der Wiedervereinigung und eines der wenigen Symbole, die den Untergang der ehemaligen DDR  überlebt und sich auch im  Westen etabliert hätten. Bis zum 27. September waren vor dem Römer in Frankfurt über 1000 Ampelmännchen als Freiheitsbotschafter installiert worden.

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Dr. Roland Kaehlbrandt, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Polytechnische Gesellschaft, stellte in seinem Grußwort kurz die Aufgaben und Arbeitsweise der Stiftung vor und berichtete mit einem großen Dank an alle beteiligten Mitveranstalter, Stadt Frankfurt, Land Hessen und FAZ, wie man gemeinsam mit den Schulen diese Veranstaltung für Frankfurter Oberstufen anlässlich der Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag der Wiedervereinigung organisiert hätte. Auch dafür dankte er vor allem Lehrern und Schülern, und machte ihnen Mut, ihre große Freiheit, ihr Leben nach dem Abitur relativ frei und selbständig planen zu können, zu nutzen, und wertzuschätzen. Die Stiftung Polytechnische Gesellschaft, die zur Zeit über 1000 Stipendien an hochbegabte und leistungsmotivierte Studierende und Doktoranden und Wissenschaftler vergebe, wäre immer ein Ansprechpartner, um junge hervorragende leistungs- und verantwortungsbereite Menschen zu fördern.

Den ersten Höhepunkt nach den Grußworten bildeten die Impulsreferate:

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„Wie und zu was vereint? Beobachtungen eines Zeitzeugen“, lautete das Thema von  Frank Pergande, Redakteur der F.A.Z. Pergandes Vater war, einst von Hinterpommern vor den Russen geflüchtet, dann vertrieben und in der DDR eine neue Heimat gefunden, überzeugter NVA-Offizier. „Aber“, so Pergande, „der Preis für all das war hoch. Als Offizier verleugnete er seine beiden Brüder in der Bundesrepublik, ich wusste nichts von meinen Onkeln. Es gab bei uns nichts aus dem Westen, nicht einmal Westfernsehen. Nicht einmal am Abendbrottisch durfte offen über die miesen Verhältnisse in der DDR gesprochen werden. Überhaupt: Nie wurde bei uns darüber gesprochen, was mich wirklich bewegte. Da hat es naturgemäß einige Jahre gedauert, bis ich mich aus diesem Milieu der Sprachlosigkeit lösen konnte, um meinen eigenen Weg zu gehen. Das war freilich lange vor dem Herbst 1989. Dass ich, obwohl in der DDR lebend, mancher Zumutung in der DDR entging, hatte auch mit Glück zu tun. Die DDRStaatssicherheit, der große Unterdrückungsapparat, versuchte, auch mich zu werben. Ich sagte ab. Ich tat es nicht als großer Held, sondern aus reiner Angst vor dem, was da auf mich zukommen würde. Von Bertolt Brecht aus dem „Galilei“ stammt der schlichte, aber großartige Satz: Glücklich das Land, das keine Helden braucht. Das Ende der DDR und die deutsche Einheit sind mein großes persönliches Lebensglück. Mein Beitrag daran war, zugegeben, bescheiden: Ich war bei den Demonstrationen im Herbst 1989 dabei und habe daran vor allem eine Erinnerung: Dass der Demonstrationszug an einer roten Ampel ordnungsgemäß stehenblieb und erst bei Grün die Revolution weiterging. Meine Erwartungen an die Zukunft waren aber umso größer. Ich wusste, mein Leben würde neu anfangen. Ich würde mein Leben, vor allem auch meinen Beruf als Journalist gleichsam neu lernen müssen. Ich war 30 – in Ihren Augen freilich auch schon Steinkohle –, als ich gleichsam neu geboren wurde“ (lesen Sie die komplette Rede von Frank Pergande: rede-paulskirche_pergande).

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Ein völlig anderes Schicksal war der  26jährigen Doktorandin und Pharmazeutin Sandra Oelsner, als Tochter zweier Ex-DDRler in Frankfurt im Jahr  des Mauerfalls geboren, beschieden. Sie gab in ihrem Statement zum Leben im vereinigten Deutschland Auskunft: „Was es für mich heißt, Deutsche zu sein“, etwa, dass es für sie bedeute in „Freiheit und Demokratie zu leben“. „Meine ersten 26 Lebensjahre“, so Sarah Oelsner, „verbrachte ich in einem wiedervereinigten Deutschland – freie Meinungsäußerung und Wahlrecht sind für mich ebenso selbstverständlich wie das meist visumfreie Reisen in Europa und der ganzen Welt. Ein Auslandssemester in Spanien, ein Praktikumsjahr in der Schweiz, das sind Möglichkeiten, die ich während meines Studiums gern wahrgenommen habe. Aus eigenem Erleben kann ich altersbedingt keine Vergleiche zum Leben in der DDR ziehen, doch durch Gespräche mit meinen Eltern und Großeltern wird mir sehr bewusst, dass das keine Selbstverständlichkeiten sind. Meine Eltern haben sich beim Studium in Dresden kennengelernt und haben ihre ersten 26 Lebensjahre in der DDR verbracht. Im engen Freundes- und Familienkreis konnte man offen sprechen, ansonsten folgte man besser der diktierten Meinung. Stand man nicht aus eigener Überzeugung hinter dem DDR-Regime, musste man sich jeden Tag neu überlegen, inwieweit man bereit war, sich anzupassen. Mein Vater erzählte mir: Ohne Wehrdienst – kein Studium. Keine freien Wahlen – die Teilnahme wurde kontrolliert. Dann der Anwerbeversuch als IM der Stasi – das wollte mein Vater nicht und er sagte Nein. Welche Konsequenzen sich die allgegenwärtige DDR-Diktatur für diese Absage ausdachte, war nicht absehbar. Der Mauerfall beendete für meinen Vater diese Angst. Mein Großvater baute in der DDR ein eigenes mittelständisches Unternehmen mit 100 Mitarbeitern auf. Das wurde nicht gern gesehen und so folgte 1972 die Zwangsenteignung. Er war anerkannter Verfolgter des DDR-Regimes – die Wiedervereinigung erlebte er als Befreiung. Ich habe in diesen Gesprächen viel gelernt und für mein Leben vor allem eines mitgenommen: Ohne Freiheit und Rechtsstaatlichkeit ist alles nichts! Deutsche sein heißt für mich… Bürgerin eines der reichsten und erfolgreichsten Länder der Welt zu sein. Fast 30% der Wirtschaftsleistung der Eurostaaten entfallen auf Deutschland. Wir sind nicht nur Fußball- sondern auch „Exportweltmeister“ und mit Deutschland werden weltweit Begriffe, wie Qualität und wirtschaftlicher Stärke verbunden. Aus diesem Leistungsniveau leitet sich für mich persönlich der Anspruch ab, Verantwortung zu übernehmen – sozial gesellschaftlich tätig zu sein und internationale Entwicklungen zu fördern. Das gilt für den Einzelnen aber auch für unser Land insgesamt. Mir ist bewusst: Ein wiedervereinigtes Deutschland verdanken wir auch der internationalen Hilfe unserer Partner – es ist daher für mich ebenso selbstverständlich, Hilfe zu leisten – im übrigen wird nur so wirtschaftlicher Erfolg nachhaltig zu sichern sein. Gemeinsam wollen wir ein offenes Land sein, das aus seiner Vereinigung die Kraft für die Aufnahme verfolgter Menschen aus anderen Regionen schöpfen sollte.“ (lesen Sie die komplette Rede von Sandra Oelsner: redepaulskirche_sarahoelsner).

Poetry Slam von Anna Knechtel

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Anna Knechtel, 17jährige Schülerin der Liebigschule – Europaschule, performierte wunderbar, intelligent, ideenreicht und pointiert auf den Punkt gebracht, ihre Gedanken und Gefühle zu Wiedervereinigung, Freiheit und Frankfurt.
„Eine Gesellschaft, Schicht für Schicht, strebt nach oben, zweifelt nicht, immer weiter,
immer mehr, wachsen, steigen, Stärke zeigen
Doch halt, einen Moment inne
Es war nicht immer so, wie es jetzt ist und vieles ist jetzt, was nie so war
Wahrheit war nicht immer Wahrheit
Blick in die Vergangenheit
Ein Teil, ein Land, das wir heut’ sind, war mal geteilt, zerrissen, entzweit
Da war Hass und Konkurrenz, Ost gegen West
Rivalitäten, gab keine Grenze, was immer die Rivalen täten
Doch eine Grenze war da
Über Nacht eine Mauer gebaut, aus kaltem Stein
Und mit jedem weiteren Tag wuchs sie in den Köpfen der Menschen
Stein auf Stein baute man ein auf ein anderes Wort der Lüge
Die einen in der Sonne, die anderen nicht
In einer Wolke, stumm, gedrückt, unterdrückt, kein Ausweg
Stattdessen in Schlangen stehen, zu wahllosen Wahlen gehen
Was man sieht? Ein schwarzer Kanal, weit auf der andere Seite das Kennzeichen D
D für Deutschland, das war Deutschland damals
Alles schon gehört, schon zehn mal durchgekaut
Auf Krieg folgt Frieden, nach schweren Zeiten kommen schwere Zeiten,
Dann ein Neuanfang, man bleibt nicht stehen, immer weitergehen, hinter sich lassen,
neue Zeiten fassen
Ankommen, heute, hier, jetzt. Und was ist das?“ (lesen Sie den Poetry-Slam von Anna Knechtel: poetry-slamanna)

Podiumsgespräch

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Beim folgenden Podiumsgespräch „Leben im vereinten Deutschland und Erwartungen“ gaben vier Oberstufenschüler Einblicke in  ihre privaten und beruflichen Wünsche, Ziele und Lebensentwürfe nach dem Abitur.  Werner D’Inka, Herausgeber der F.A.Z. leitete das spannende Gespräch mit den jungen Leuten aus Familien mit Migrationshintergrund. Sie wollten nach dem Abi erst einmal vereisen und etwas von der Welt kennenlernen. Sie sind dankbar dafür, dass sie dies in Deutschland ohne Einschränkungen in Freiheit tun könnten.

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Im Schlusswort betonte Prof. Dr. Ralph Alexander Lorz, Hessischer Kultusminister: „Einigkeit Ja!“, aber vor allem „Recht und Freiheit“ und „Demokratie“ sei, was Europa so attraktiv gemacht hat, und das gelte es zu schützen und zu verteidigen. Den jungen Menschen machte er Mut zu reisen, am Programm „Erasmus Plus“ teilzunehmen, vielfältige Erfahrungen zu sammeln als Grundlage für eine gemeinsame Zukunft in Europa.

Musikalisch lies der Chor der Schillerschule die zweistündige Festveranstaltung in der Paulskirche mit Ludwig van Beethovens „Ode an die Freude“ (Ausschnitt aus 9. Sinfonie d-Moll op. 125) feierlich ausklingen. Anschließend gab es noch einen kleinen Brezel-Imbiss im Foyer.

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