„Richtig denken heißt, mit Richtigkeit und mit Gerechtigkeit denken“ – Alfred Grosser und sein Werk Le Mensch

Prof. Dr. Alfred Grosser , Publizist und Politologe (li.) im Gespräch mit Dr. Günther Nonnenmacher (Mitherausgeber der FAZ von 1992 bis 2014) bei der Buchpräsentation "Le Mensch" in den Kurhaus-Kolonnaden Wiesbaden, veranstaltet von der Hessischen Zentrale für Politische Bildung Wiesbaden. Foto: Diether v. Goddenthow
Prof. Dr. Alfred Grosser , Publizist und Politologe (li.) im Gespräch mit Dr. Günther Nonnenmacher (Mitherausgeber der FAZ von 1992 bis 2014) bei der Buchpräsentation „Le Mensch“ in den Kurhaus-Kolonnaden Wiesbaden, veranstaltet von der Hessischen Zentrale für Politische Bildung Wiesbaden. Foto: Diether v. Goddenthow

„Ich mag nicht das Wort ‚DIE‘: ‚DIE Muslime, DIE Frauen, DIE Juden, DIE Deutschen, DIE Flüchtlinge‘“, beginnt Alfred Grosser im Interview mit Dr. Günther Nonnenmacher (Mitherausgeber der FAZ von 1992 bis 2014) über Inhalte seines neuen Buches „Le Mensch“ den Dialog vor rund 300 gespannten Zuhörern im Saal der Kurhaus-Kolonnaden Wiesbaden am 7. September 2017.  Denn hätte man nach dem Kriege von „den“ Deutschen gesprochen, wäre es wohl nie zu einem Friedensvertrag, zur Rückführung des deutschen Volkes in die Völkerfamilie gekommen, so Grosser. Es gibt nicht DIE Deutschen oder DIE Franzosen, sondern einzelne Menschen, Individuen, wehrt sich Grosser gegen ein altes Grundübel, das aktueller ist denn je, nämlich den verallgemeinernden, vorurteilsbehafteten Finger auf andere zu zeigen. Verallgemeinerung war und ist nicht sein Ding, weswegen Grosser, der sich selbst als jüdischen Atheisten bezeichnet und seit über 40 Jahren mit einer katholisch-gläubigen Frau verheiratet ist, sich zeitlebens  mit der komplexen Fragestellung nach menschlicher Identität auseinandergesetzt hat. Wer bestimme denn, was ein Mensch sei, als Individuum oder Amtsinhaber, als Angehöriger einer Gruppe, Religion oder Ethnie? Facettenreich und mit vielen persönlichen Rückblicken sprach der bekannte Publizist und große Europäer Grosser über die Entstehung und Moral sozialer Identität und Auswirkungen auf den Einzelnen.

„Ich bin ein Mann und keine Frau. Das gibt mir heute noch in der französischen wie deutschen Gesellschaft unverdiente Vorteile. Ich bin alt, aber meine seit langem erwachsenen Söhne arbeiten für mein Ruhestandsgehalt. Ich war beamteter Professor, gehörte also zu jenem privilegierten Teil der Gesellschaft, der nicht arbeitslos werden kann.“, erläutert Grosser ein wenig augenzwinkernd, was er mit menschlicher Identität meint. Denn Menschen haben nicht nur eine, sondern multiple Identitäten, beispielsweise zugleich als Europäer, Deutscher, Hesse, Wiesbadener, Berufstätiger, Frau/Mann, Mutter /Vater usw.
Er sei Franzose durch und durch, sagt Grosser, so wie andere Migranten, die in Frankreich zu Franzosen wurden, und niemand würde da von einem Migrationshintergrund sprechen, so der Publizist, der auch ein Beispiel für die Inkongruenz von Identitäten parat hat: „Als Radfahrer fürchte ich mich vor Autos. Als Autofahrer fürchte ich die Radfahrer: Ein gutes Beispiel einer gespaltenen Identität.“

Veranstaltungs-Impression der Buchpräsentation "Le Mensch" in den Kurhaus-Kolonnaden Wiesbaden, veranstaltet von der Hessischen Zentrale für Politische Bildung Wiesbaden. Foto: Diether v. Goddenthow
Veranstaltungs-Impression der Buchpräsentation „Le Mensch“ in den Kurhaus-Kolonnaden Wiesbaden, veranstaltet von der Hessischen Zentrale für Politische Bildung Wiesbaden. Foto: Diether v. Goddenthow

Die Identität des Individuums komme zum Teil von außen, hänge damit zusammen, in welches kulturelle Umfeld jemand geboren worden sei, in welchem Land usw., aber sie bestehe nicht darin, sich von außen eine Identität überstülpen zu lassen. Identität sei auch und vor allem ein innerseelischer Prozess, und alles, wohin sich der Mensch in seinem Leben entwickele und wofür er sich entscheide, ohne Zuschreibung durch andere.

Seine Erfahrungen und Erkenntnisse fasst Grosser in seinem Spiegel-Bestseller-Buch „LE MENSCH in zahlreichen Artikeln zusammen. Dabei ist er klar in der in der Sprache und konkret in der Sache. Alfred Grosser nimmt das Menschsein auf allen Feldern des gesellschaftlichen Lebens unter die Lupe: Kultur, Politik und Erziehung, Geschlecht, Geschichte und Religion, Geld und nationale Mythen – und natürlich unsere Identität in einem Europa mit Flüchtlingen oder ohne. Er warnt eindringlich vor Politikverachtung und zieht Bilanz über das »Menschwerden inmitten der Verzweiflung am Weltgeschehen«. Sein Credo: »Penser juste, donc à la fois avec justesse et avec justice – Richtig denken heißt, mit Richtigkeit und mit Gerechtigkeit denken. Das klingt zwar im Deutschen nicht so gut, sagt aber doch das Wesentliche.«