Mit Mut und Menschlichkeit in die Krisengebiete der Welt – Eröffnung des Wiesbadener Patiententags 2019

Bürgermeister und Ordnungsdezernent Dr. Oliver Franz (r.) begrüßte im Namen der Stadt Wiesbaden  Festredner Dr. med. Tankred Stöbe und die Gäste der Auftaktveranstaltung zum Patiententag am 3.Mai 2019 im Ratsaal. Foto: Diether v. Goddenthow
Bürgermeister und Ordnungsdezernent Dr. Oliver Franz (r.) begrüßte im Namen der Stadt Wiesbaden Festredner Dr. med. Tankred Stöbe und die Gäste der Auftaktveranstaltung zum Patiententag am 3.Mai 2019 im Ratsaal. Foto: Diether v. Goddenthow

Zum Auftaktempfang des Patiententags anlässlich des 125. Internisten-Kongresses 2019 sprach der Notfall- und Intensivmediziner Dr. Tankred Stöbe von „Ärzte ohne Grenzen“ über „Psychosoziale Gesundheit von Menschen in Krisengebieten“. Der Notfallarzt und Intensivmediziner gab vor bald 20 Jahren mit 33 Jahren Job, Wohnung und Auto auf und bewarb sich bei »Ärzte ohne Grenzen«. Inzwischen hat er über 19 verschiedene Einsätze in 15 Krisen-Ländern der Welt absolviert.

Eine der häufigsten Fragen, wie man mit dem erfahrenen Leid und den Ungerechtigkeiten, denen sie bei ihren Einsätzen in Krisengebieten täglich begegnen, umgehen, sieht Dr. Stöbe so: „Mir stellen sich diese Fragen eher selten. Denn die betroffenen Menschen in den Krisengebieten sind es, die leiden. Als internationaler Helfer bin ich in mehrfacher Hinsicht privilegiert: Meist bekomme ich ausreichend zu essen und Schlaf, mein Aufenthalt in den Gebieten ist zeitlich begrenzt, und wenn ich erkranke oder die Sicherheitslage eskaliert, werde ich evakuiert.“ Nichts davon träfe auf die lokale Bevölkerung zu, die ja nicht nur unter körperlichen Krankheiten, sondern häufig auch an psychischen Problemen und Traumata leide.

Zu den psychosoziale Hauptbeschwerden zählten, laut einer Studie aus „Gaza /Palästina von 2005“ zu 29 % Angststörungen, 18 % Depressionen, 15 % Posttraumatische Belastungsstörungen und 11 % akute Stresserkrankungen. Dabei seien bei 15 % der Betroffenen die Ausprägung mild, bei 48 % mittel und bei 37 % schwerer Natur. Das Erstaunliche sei jedoch, dass es bei 92 % der Betroffenen nach durchschnittlich 6 Konsultationen über einen Zeitraum von 10 Wochen hinweg eine Besserung oder Heilung gab, lediglich bei je 4 % der Zustand gleich oder unklar blieb. Der Behandlungserfolg stünde jedoch in einem engen Zusammenhang mit der Häufigkeit der Traumatisierung, Laut einer MSF Studie des Medizinisch-psychologische Notfall-Programms in Gaza vom Januar 2005 wurden von 503 Patienten, wovon 45 % unter 15 Jahre alt waren, 18 % einmal, 53 % zwei- bis dreimal, und 28 % über 4mal traumatisiert. Zur Art der Erlebnisse, die traumatisierend wirken, zählen zu 70 Prozent Kampfhandlungen, zu 25 Prozent, wer selbst Opfer oder Zeuge von Gewalt werde, und zu 5 Prozent Tod innerhalb der Familie.
Besonderem psychosozialen Stress seien auch Migranten ausgesetzt, und zwar in mehrfacher Hinsicht: einmal durch Traumatisierungen vor der Flucht, dann durch die  Erlebnisse während der oftmals lebensgefährlichen Flucht über’s Mittelmeer und schließlich durch Traumatisierungen nach der Flucht im fremden Land, in Flüchtlingslagern und in Flüchtlingsunterkünften hierzulande. Bei Studien an Kliniken der Organisation von Ärzte ohne Grenzen in Griechenland und Serbien hätte sich beispielsweise gezeigt, dass innerhalb des untersuchten Personenkreises von 1054 Betroffenen unterschiedlicher Herkunftsländer (11 % unter 18 Jahren, 31 % Frauen, mit 3 traumatischen Erlebnissen) 30 % an Angststörungen, 20 % an Depressionen, 24 % an akuten Anpassungsstörungen und 7 % an Posttraumatischen Belastungsstörungen litten.

Erstaunlich sei aber wie beispielsweise Zahlen aus Gaza gezeigt hätten, dass bei 92 Prozent der Betroffenen Linderung oder gar Heilung ihrer psychischen traumabedingten Störungen durchaus möglich gewesen sei. Da Psychotherapeuten und Psychiater vor Ort fehlen oder gar nicht vorhanden wären, habe Ärzten ohne Grenzen aus dieser Not heraus ein Therapie-Modell entwickelt, bei dem mit 6 Konsultationen über einen Zeitraum von 10 Wochen erstaunliche Linderung der psychischen Probleme möglich gewesen seien. Und da es für Migranten auch hierzulande erheblich schwieriger sei, „einen Termin beim Psychologen und Psychiater zu bekommen und ein Jahr darauf zu warten bei akuten Belastungsstörungen zu lang sei “, so Dr. med. Stöbe, habe Ärzte ohne Grenzen etwas Undenkbares geschafft: Sie haben „einfach“ das Modell von Ärzten ohne Grenzen nach Deutschland übertragen und konnten mit dem St. Josef Krankenhaus in Schweinfurt ein Pilotprojekt realisieren. Dazu haben sie Menschen gefunden, die ebenfalls Fluchterfahrung hatten, die die jeweilige Kultur und Sprache kannten. Diese Menschen habe Ärzte ohne Grenzen in Art eines Screenings fachlich so trainiert, dass sie als Helfer mit Betroffenen diese Gespräche führen konnten, die in der Mehrzahl enorme entlastende Wirkung gezeigt hätten. Wenn aber bemerkt wurde, dass da jemand richtig psychisch krank war, konnte dieser sehr schnell an einen Psychiater weiter verwiesen werden. „Und so haben wir in wenigen Monaten über 400 Einzel- und 260 Gruppensitzungen machen können“, ist Dr. med. Stöbe sichtlich stolz darauf, dass das vereinfachte Behandlungsmodell von Ärzte ohne Grenzen auch in Deutschland weiterhelfen kann.

Befindet sich der Internist und Intensivmediziner Dr. Stöbe, der in Berlin mit einer Ärztin verheiratet ist, nicht in Krisengebieten der Welt im Einsatz, arbeitet er als leitender Notarzt in Berlin. Selbst, wenn er Kinder hätte, würde er sich wahrscheinlich weiterhin in Krisengebieten einsetzen lassen. Denn die humanitäre Hilfe von „Ärzte ohne Grenzen“ sei im Unterschied zur Entwicklungsarbeit den Prinzipien nach neutral, unabhängig, unparteiisch und unpolitisch und allgemein akzeptiert. Und sollte es mal zu gefährlich werden, würden die Teams ausgeflogen werden. Reich werde man natürlich nicht damit. Niemand ginge des Geldes wegen in Krisengebiete. Rund 1.600 Euro brutto erhält ein Arzt bei Ärzte ohne Grenzen.  Die Organisation finanziert sich mittlerweile praktisch ausschließlich aus Spenden, um ihre politische und allgemeine Unabhängigkeit zu bewahren.  Dr. Stöbe war Präsident der deutschen Sektion von »Ärzte ohne Grenzen« und wurde von der Bundesärztekammer für seine »Haltung und seine unerschütterliche Einsatzbereitschaft« mit der Paracelsus-Medaille ausgezeichnet.

mut-u-menschlichkeit2Wer mehr über Dr. med. Tankred Stöbes weltweiten Einsätze mit fundierten Hintergrundinformationen erfahren möchte, dem sei sein Buch „Mut und Menschlichkeit. Als Arzt weltweit in Grenzsituationen“ ans Herz gelegt. 192 Seiten, 14,99 Euro, erschienen im Fischerverlag, Frankfurt 2019.

PDF-Programm zum Patiententag am 4.Mai 2019:

Hinweis für Teilnehmer des Internistenkongresses:
Dr. med Tankred Stöbes referiert dort auch morgen noch einmal mit Kollegen zum Thema „Von Ebola bis Kardiologie: Beispiele aus der Nothilfe“. Sein Thema: „Moderne Kardiologie trotz Bürgerkrieg?“.
Saal 1 – Plenum 12:15 bis 13:45 Uhr im RheinMain-KongressCenter