Literatur in hochpolitischen Zeiten Das Frankfurter Lesefestival Open Books der Buchmesse öffnet seine Türen

Logo-Openbooks-LSeit zehn Jahren flankiert das Lesefestival Open Books die weltgrößte Buchmesse mit Buchpräsentationen und Lesungen. Frei nach dem Motto »Bücher für alle« sollen die herbstlichen Novitäten der Verlagsbranche in die Stadt getragen werden, von Anfang an war der Andrang groß, die Plätze kostenlos und heiß begehrt.

Am Dienstagabend eröffnete die Kulturdezernentin das des Frankfurters beliebtestes Lesespektakel im mit über 300 Besuchern gefüllten Konferenzsaal der Deutschen Nationalbibliothek. Die rauschende Messestimmung hatte sich eingestellt, schließlich war auch die frisch gekürte Trägerin des Buchpreises geladen, um auf dem traditionsreichen Blauen Sofa Platz zu nehmen. Neben Inger-Maria Mahlke, deren Roman »Archipel« jüngst mit der höchsten deutschen Auszeichnung für ein Buch geehrt wurde, sprach der Schauspielerveteran und Romandebütant Christian Berkel (»Der Apfelbaum«), die Hamburger Theater- und Romanautorin Nino Haratischwili (»Die Katze und der General«) sowie der für seinen hitzigen Aufruf zur Desintegration kurzzeitig von der Lyrik abgekommene Max Czollek (»Desintegriert Euch!«).

Nichts ist unpolitisch an diesem Abend, die Zeichen stehen auf Konfrontation und wenn dies der herbstliche Ausschnitt der deutschen Literaturlandschaft im Jahr 2018 ist, dann lässt sich eines mit gutem Gewissen feststellen: Literatur kann das. Literatur kann Antworten geben auf die steigende Komplexität einer Gesellschaft. Diese Antworten sind wiederum zäh, sie sind schwierig, nicht linear, sie schmerzen und sie geben Anlass zum Streit. Vielleicht ist der literarische Raum einer, an dem wir lernen können, dass »Diversität« eben mehr als ein Begriff ist, der Gleichstellungsratgeber bewohnt.

Prominentester Gast war die frisch gekürte Trägerin den Deutschen Buchpreises 2018 Inger Maria Mahlke. © Foto: Diether v. Goddenthow
Prominentester Gast war die frisch gekürte Trägerin den Deutschen Buchpreises 2018 Inger Maria Mahlke. © Foto: Diether v. Goddenthow

Buchpreisträgerin Inger-Maria Mahlke ist Kausalitäten gegenüber misstrauisch. Sie hält sie für falsch, für fehlgeleitet. Falsche Kausalitäten verstecken sich in scheinbaren Geschichtszyklen, in der vorschnellen Identifikation von Ereignissen, in instrumentalisierbaren Fortschrittsnarrativen. Deswegen rekonstruiert  Mahlke in »Archipel« die Geschichte der Kanareninsel Teneriffa anhand zweier Familienbiographien chronologisch rückwärts. Das anachronische Erzählen bewirkt, dass das Verhältnis zur Zeitlichkeit beim Lesen neu geordnet wird. Grob vereinfacht, Plot und Story fallen auseinander, der Leser wird in die Illusion geführt, mehr zu wissen, als die Handlungsträger, was vor einer identifikatorischen oder geisteslosen Lektüre schützt: Die Lesehaltung ist eine immer schon distanzierend-puzzlende, ordnende, verwaltende, kurz, eine konzentrierte. Mahlke verrät an diesem Abend, dass ihr Schreiben genauso wenig linear verläuft, wie die Handlung ihres Romans. Sie schreibt ganze Seiten voll, die sie dann zerschneidet, verkehrt ineinander fügt, liest und wieder liest, sodass sie am Ende ihren gesamten Romantext auswendig aufsagen kann – immerhin 432 Seiten.

Jahrelang war Schauspieler Christian Berkel vor seiner Geschichte davongelaufen. Jetzt hat er sie aufgeschrieben. © Foto: Diether v. Goddenthow
Jahrelang war Schauspieler Christian Berkel vor seiner Geschichte davongelaufen. Jetzt hat er sie aufgeschrieben. © Foto: Diether v. Goddenthow

Christian Berkel, der bisher eher für sein schauspielerisches Talent bekannt war, nähert sich in »Der Apfelbaum« der Geschichte seiner jüdischen Großmutter, indem er sie neu erfindet, indem er Distanz zu vertrauten Figuren entwickelt, sie fiktionalisiert und neu anschaut. Milde lächelnd bricht er jeden autobiographischen Pakt mit dem Leser: Wie auch beim Schauspielen ist das Erschaffen einer literarischen Figur determiniert und begrenzt durch den eigenen Erfahrungsraum. Der Aufruf zur absoluten Authentizität, so klingt es an, ist vielmehr ein erdrückender Zwang zur Entscheidung.

Sich nicht entscheiden müssen zwischen verschiedenen Herkünften, darum geht es Nino Haratischwili, die zu Recherchezwecken für ihren Roman über die menschlichen Abgründe vier russischer Soldaten inmitten des Tschetschenienkriegs auch mal »als Geogierin ging«. An diesem Open Books Abend interessiert sie sich besonders für die verschlungenen und düsteren Wege des falschen Erinnerns: Warum sind die beiden Tschetschnenkriege kein Teil der kollektiven Erinnerung, obwohl sich in der Region kaum jemand finden lässt, der nicht durch die Ereignisse verformt, zumindest geprägt wurde? Wie sieht das historische Bewusstsein der nachfolgenden Generationen aus, wenn von dieser Zeit nicht berichtet wird? Dennoch, historische Instruktionsliteratur schreibt Haratschiwili nicht.

Mit etwas Mut lässt sich sagen, das der letzte und sicher kontroverseste Auftritt an diesem Abend, die gelegten Fäden zusammenführt. Max Czollek wird vom Deutschlandfunk-Kulturchef René Aguigah etwas polemisch als »vorbildlich integriert« vorgestellt: Promovierter Historiker, Autor mehrerer Lyrikbände, jüdisch. Sein Essay »Desintegriert Euch!« ist eine Absage an das Gedächtnistheater, so Czollek, das mit den Juden in Deutschland gespielt wird, und das vornehmlich dazu dienen soll, ein positives deutsches Selbstbild zu stabilisieren. Weil aber das Konzept »Integration« an sich schon davon ausgeht, dass es einen gesellschaftlichen Ziel-Ort gibt, dass das noch Fremde in den schon integrierten Kern einverleibt wird, dreht Czollek den Spieß um: Teilweise ironisch, teilweise furios ruft er eine jüdisch-muslimische Allianz aus, eine Allianz der Desintegretierten, die sich von den Rollenerwartungen des Integrationsparadigmas löst. Es bleibt zu diskutieren, wie das konkret aussieht. Czolleks Interesse ist zunächst ein hermeneutisches: Was lernen wir über uns, über die Strukturierung unserer Gesellschaft, wenn wir den Blick verändern? Wenn wir zurücktreten, um klarer zu sehen?

Das kann Literatur. Denn es gilt ja nicht, Komplexitäten zu reduzieren, sondern zu lernen, komplex zu denken. Treffend formuliert es die Buchpreisträgerin Inger-Maria Mahlke: »In so komplexen Zeiten wie den unseren müssen wir den Ball manchmal eben über die Bande spielen«.

(Miryam Schellbach /Rhein-Main.Eurokunst)

Das Lesefestival  geht weiter

Open Books, das Lesefestival zur Buchmesse im und rund um den Frankfurter Römer wurde gestern eröffnet. © Foto: Diether v. Goddenthow
Open Books, das Lesefestival zur Buchmesse im und rund um den Frankfurter Römer wurde gestern eröffnet. © Foto: Diether v. Goddenthow

Das OPEN-BOOKS-Programm auf einen Blick!

Programmheft zum Download!

Das gesamte Rahmenprogramm ist im Veranstaltungskalender der Frankfurter Buchmesse
abrufbar: www.buchmesse.de/kalender

Veranstaltungsorte auf einen Blick
Literatur im Römer
Römerhallen, Römerberg 23,
60311 Frankfurt am Main

Römer
(Romerhalle, Schwanenhalle, Ratskeller)
Römerhalle, Römerberg 23, 60311 Frankfurt
Schwanenhalle, Römerberg 27, 60311 Frankfurt
Ratskeller, Paulsplatz 7, 60311 Frankfurt

Frankfurter Kunstverein
Steinernes Haus am Römerberg,
Markt 44, 60311 Frankfurt am Main
www.fkv.de

Haus am Dom
Katholische Akademie Rabanus Maurus
Domplatz 3, 60311 Frankfurt am Main
www.hausamdom-frankfurt.de

Evangelische Akademie Frankfurt
Römerberg 9, 60311 Frankfurt am Main
www.evangelische-akademie.de

Historisches Museum Frankfurt
Junges Museum Frankfurt
Saalhof 1, 60311 Frankfurt am Main
www.historisches-museum-frankfurt.de

Deutsche Nationalbibliothek
Adickesallee 1, 60322 Frankfurt am Main
www.dnb.de

Literaturhaus Frankfurt
Schöne Aussicht 2, 60311 Frankfurt am Main
www.literaturhaus-frankfurt.de

Katharinenkirche
An der Hauptwache, 60313 Frankfurt am Main
www.st-katharinengemeinde.de