Claudia Andujar „Morgen darf nicht gestern sein“ – MMK 1 Frankfurt 18.02. bis 25.06.2017

Claudia Andujar, Urihi-a, 1974 Courtesy Claudia Andujar and Galeria Vermelho, São Paulo, Brazil.  Das Leben eines ganzen Yanomami-Stamms spielt sich in einem Rundbau (Shapono), einem Gemeinschaftshaus ab, umgeben von dichtem Urwald. Unter der Pultdachkonstruktion leben bis zu 300 Menschen, die alles, was sie an Nahrung, Rohstoffe und Werkzeuge benötigen, aus dem Regenwald erhalten. Claudia Andujar hat vom Flugzeug aus mit einer Infrarotkamera ein Runddorf aufgenommen, um die Inselsituation des Runddorfes inmitten undurchdringlichen Regenwald-Dickichts besonders kontrastreich herauszustellen. © Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main.
Claudia Andujar, Urihi-a, 1974 , Courtesy Claudia Andujar and Galeria Vermelho, São Paulo, Brazil.
Das Leben eines ganzen Yanomami-Stamms spielt sich in einem Rundbau (Shapono), einem Gemeinschaftshaus ab, umgeben von dichtem Urwald. Unter der Pultdachkonstruktion leben bis zu 300 Menschen, die alles, was sie an Nahrung, Rohstoffe und Werkzeuge benötigen, aus dem Regenwald erhalten. Claudia Andujar hat vom Flugzeug aus mit einer Infrarotkamera ein Runddorf aufgenommen, um die Inselsituation des Runddorfes inmitten undurchdringlichen Regenwald-Dickichts besonders kontrastreich herauszustellen. © Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main.

Claudia Andujars Fotos in der gestern im MMK1 eröffneten Ausstellung „Morgen darf nicht gestern sein“ entstanden aus der Notwendigkeit heraus, den Yanomami, indogenen  Urwaldbewohnern im Amazonasgebiet, gegenüber den Regierungen Brasiliens Gesicht und Identität zu geben, um sie medizinisch versorgen und als Bevölkerungsgruppe anerkennen zu können. Die Ausstellung gibt erstmals in Europa einen umfangreichen Einblick in das fotografische Œuvre von Claudia Andujar (*1931 in Neuchâtel, Schweiz). Die Künstlerin und Aktivistin lebt seit 1955 in São Paulo in Brasilien. Anfänglich ohne Kenntnisse der portugiesischen Sprache bot ihr die Fotokamera eine Möglichkeit, durch Bilder zu kommunizieren. Ihre fotografische Praxis ist seit den 1960er-Jahren eng mit der jüngeren Zeitgeschichte Brasiliens sowie den Gegensätzen und Konflikten des Landes verknüpft.

Ein Projekt, das Claudia Andujar mit Yanomami gemacht hat. Zu sehen sind Zeichnungen von den Yanomami sowie Gedichte, die etwas über das Leben und die Entstehung des Menschen hinweisen. Bis dahin kannten die Yanomami weder Stift noch Papier. Foto: Diether v. Goddenthow
Ein Projekt, das Claudia Andujar mit Yanomami gemacht hat. Zu sehen sind Zeichnungen von den Yanomami sowie Gedichte, die etwas über das Leben und die Entstehung des Menschen hinweisen. Bis dahin kannten die Yanomami weder Stift noch Papier. Foto: Diether v. Goddenthow

Als Bildberichterstatterin war Claudia Andujar 1971 im Auftrag der Zeitschrift „Realidade“ ins Gebiet der Yanomami geschickt worden, zu indogenen Urbewohnern. Die Menschen und ihre „primitive“ Lebensart faszinierten Andujar so sehr, dass sie nicht mehr nach Sao Paulo zurückging, sondern sieben Jahre bei und mit den Yanomami lebte. Dort lernte sie deren Kultur und Lebensweise kennen und begann, sich um deren Nöte zu kümmern, die vor allem – mit zunehmenden Rodungen und wirtschaftlichen Regenwaldnutzungen – zivilisatorische Ursachen hatten. Ihre gastgebene Gruppe und sie wurden 1977 aus der Amazonasregion vertrieben. Doch ging ihr Kampf für die Rechte und Gesundheit der Yanomami weiter: Gemeinsam mit dem Missionar Carlo Zacquini, dem Anthropologen Bruce Albert und weitern Aktivisten gründet Claudia Andujar die Organisation „Comissão pela Criação do Parque Yanomami“ (heute: „Comissão Pró-Yanomami“)“. Anfang der 1980er-Jahre startete die Kommission eine Impfkampagne, für die Andujar Porträtaufnahmen der Yanomami in verschiedenen Dörfern im Amazonasgebiet machte. Da die Yanomami traditionell keine Namen verwenden – sie sprechen sich mittels Familienrelationen an –, wurden ihnen zur Identifizierung für den Impfausweis Nummern um den Hals gehängt.

Claudia Andujar, from the series Marcados, 1981–1983. Courtesy Claudia Andujar and Galeria Vermelho, São Paulo, Brazil. Foto: Diether v. Goddenthow, © Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main.
Claudia Andujar, from the series Marcados, 1981–1983. Courtesy Claudia Andujar and Galeria Vermelho, São Paulo, Brazil. Foto: Diether v. Goddenthow, © Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main.

Den Titel „Marcados“ erhielten die Fotografien erst über 20 Jahre später, als sie 2006 erstmals auf der Biennale von São Paulo gezeigt wurden. Die Bilder rufen auch eine starke Assoziation zu KZ-Häftlingen hervor, was wiederum damit zu tun hat, dass Andujar auch tatsächlich ihre Familie in Konzentrationslagern verloren hat, und selbst in einem gewesen ist. Hier kehrt sie die Symbolik um: Ihre Nummern signalisieren: Wir retten Leben und nicht: Das sind zum Tode Verurteilte.

1991 schaffte die es Kommission, dass das Land der Yanomami  offiziell als deren Eigentum von der brasilianischen Regierung anerkannt wurde.

Im Rahmen ihres aktivistischen Engagements entstand in den frühen 1980er-Jahren ihre bis heute wichtigste Serie „Marcados“ (dt. Markiert). „Andujars Bildserien sind das Ergebnis ihrer Reisen zwischen der südlichen Metropole São Paulo und dem nördlich gelegenen Amazonasgebiet. Sie schaffen ein Panorama Brasiliens zwischen Stadt und Natur. Künstlerische Praxis und aktivistisches Engagement sind in den Aufnahmen untrennbar miteinander verknüpft“, so Peter Gorschlüter, stellvertretender Direktor des MMK Museum für Moderne Kunst, über die Ausstellung.

Claudia Andujar, Ausstellungsansicht / exhibition view MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main 2017, Courtesy Claudia Andujar and Galeria Vermelho, São Paulo, Brazil Foto: Diether v. Goddenthow © Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main.
Claudia Andujar, Ausstellungsansicht / exhibition view MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main 2017, Courtesy Claudia Andujar and Galeria Vermelho, São Paulo, Brazil Foto: Diether v. Goddenthow

Andujars Werk findet seither große Beachtung im südamerikanischen Kontext. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des andauernden Einfalls von Goldminenarbeitern in das Gebiet der Yanomami, der anhaltenden Proteste in Brasilien und der kürzlich verkündeten Klima-Ziele des Landes zeichnet sich Andujars Werk bis heute durch eine hohe Aktualität und Brisanz aus.

Im Titel der Ausstellung „Morgen darf nicht gestern sein“ spiegelt sich angesichts wiederkehrender politischer Ereignisse und gesellschaftlicher Entwicklungen in Brasilien die Botschaft der Künstlerin an die Gegenwart wider.

In verschiedenen Werkreihen zeichnet die Fotografin ein kontrastreiches Bild Brasiliens. „Immer wieder treten in Andujars fotografischen Serien die verschiedenen Lebensräume in Dialog miteinander. Aus einem Hubschrauber aufgenommen zeigt „Metrópole“ das modernistische Straßennetz São Paulos, „Urihi-a“ einen von Natur gesäumten Shapono, der Rundbau, in dem die Yanomami leben, und „Cemitério da Consolação“ den Ende des 19. Jahrhunderts errichteten Friedhof in São Paulo, dessen Wegenetz rund um das zentrale Mausoleum angelegt ist. Das Straßennetz, die Natur und die Friedhofswege erscheinen endlos“, erläutert Carolin Köchling, Kuratorin der Ausstellung.

In ihren Bildern schreiben sich nicht nur die abgebildete Person oder der abgebildete Gegenstand ein, sondern immer auch Andujars Position als deren Gegenüber. Für die Aufnahmen der Serie „Rua Direita“ (1970) setzte sich Andujar auf die gleichnamige belebte Straße in São Paulo und fotografierte die Passanten aus einer starken Untersicht. Was im Bild nahezu inszeniert wirkt, ist die spontane Reaktion auf die unerwartete Begegnung mit der Person der Fotografin, die in den erschrockenen, distanzierten, neugierigen oder verwunderten Gesichtern sichtbar ist. In der Serie „Através do Fusca“ hingegen verkörpern die Fenster eines VW Käfers, aus dem die Künstlerin 1976 eine Reise von São Paulo ins Amazonasgebiet fotografierte, die für ihr Schaffen charakteristische Einschreibung ihrer eigenen Position in die Bilder.

Claudia Andujar Ausstellungsansicht / exhibition view MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main 2017, Courtesy Claudia Andujar and Galeria Vermelho, São Paulo, Brazil Foto: Diether v. Goddenthow
Claudia Andujar
Ausstellungsansicht / exhibition view MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main 2017, Courtesy Claudia Andujar and Galeria Vermelho, São Paulo, Brazil Foto: Diether v. Goddenthow

Eine Auswahl von Andujars Arbeiten sind in der Ausstellung im MMK auf Cavaletes präsentiert – in Betonsockeln fixierte Glasdisplays, die von der brasilianisch-italienischen Architektin Lina Bo Bardi 1968 für das von ihr gebaute MASP (Museu de Arte de São Paulo) entworfen wurden. Die Präsentationsform unterstreicht den dialogischen Charakter von Andujars Fotografien, die dem Betrachter im Raum auf Augenhöhe begegnen.

Neben Andujars fotografischen Arbeiten werden in der Ausstellung Originalzeichnungen der Yanomami präsentiert, die im Rahmen eines von Andujar initiierten Projektes 1976 entstanden und in der Publikation „Mitopoemas Yãnomam“ (Mythische Gedichte der Yanomami) veröffentlicht wurden. Diese stellt Erzählungen und Zeichnungen der Yanomami in einen Dialog mit Andujars Fotografien.

Die herausragende Bedeutung von Fotografie im MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt
Foto: Diether v. Goddenthow
Foto: Diether v. Goddenthow

Seit der Eröffnung des MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main im Jahr 1991 nimmt die Fotografie im Ausstellungsprogramm und in der Sammlung eine herausragende Stellung ein. Heute sind mehr als 80 Künstlerinnen und Künstler mit über 2500 fotografischen Werken in der Sammlung vertreten. Von Beginn an wurden künstlerische Fotografie einerseits und Dokumentarfotografie anderseits im MMK nicht voneinander abgegrenzt, sondern vielmehr ihre inhaltlichen wie formalen Verwandtschaften gesucht, die in der Kraft des fotografischen Bildes zum Ausdruck kommen. Vor allem Werke, die im bildjournalistischen Zusammenhang oder als Reportagefotografie entstanden, bildeten früh eine Möglichkeit, soziale und gesellschaftliche Realitäten jenseits nationaler Grenzen und Zuordnungen im Kontext der Gegenwartskunst zu reflektieren. Der künstlerisch-subjektive Blick auf das Globale, den die Fotografie befördert hat, durchdringt heute zahlreiche Bereiche des Museums und prägt im Wesentlichen seine internationale Ausrichtung. Dabei stehen vor allem diejenigen Ansätze im Fokus, bei denen sich innerhalb einer globalen Perspektive künstlerische Verbindungslinien zwischen Geschichte und Gegenwart, europäischer und außereuropäischer Verortung ziehen lassen. Claudia Andujars Leben und Werk stehen exemplarisch für diese Entwicklung und inhaltliche Positionierung.

Kuratorin: Carolin Köchling, in Zusammenarbeit mit Peter Gorschlüter
Projektentwicklung: Dr. Paula Macedo Weiß

Ermöglicht durch
Kooperationspool der Stadt Frankfurt und Deutsche Börse Photography Foundation gGmbH

Mit Unterstützung von
Brasilianisches Außenministerium, Itamaraty; Generalkonsulat von Brasilien; Goethe-Institut, São Paulo; Schweizerisches Generalkonsulat in Frankfurt am Main

Eröffnung: Freitag, 17. Februar 2017, 19 Uhr im MMK 1
mit einem Kurzvortrag von Dr. Katharina von Ruckteschell-Katte, Leiterin Goethe-Institut São Paulo und Region Südamerika.

Das auf der Einladungskarte angekündigte Künstlergespräch am 18.2.2017 entfällt.

Katalog zur Ausstellung:
katalog.andujarClaudia Andujar. Morgen darf nicht gestern sein, Bielefeld: Kerber Verlag; im Museum für 25,- Euro erhältlich, im Buchhandel für 28,- Euro.

 

 

 

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