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Wiesbadener Biennale: Thomas Bellincks EU-Untergangsretrospektive im „Haus der Europäischen Geschichte im Exil“ c/o Altes Gericht

Das Haus der Europäischen Geschichte im Alten Gericht.  Für ein paar Wochen hat Wiesbaden ein Europa-Museum erhalten. Foto © massow-picture
Das Haus der Europäischen Geschichte im Alten Gericht Wiesbaden. Für ein paar Wochen hat Wiesbaden ein Europa-Museum. Foto: Diether v. Goddenthow © massow-picture

Europas Untergang kann heute schon aus dem soziohistorischen Rückblick des Jahres 2060 im Alten Gericht besichtigt werden.

Wiesbaden hat ein neues internationales Museum, das „Haus der Europäischen Geschichte“, im ehemaligen Alten Gericht. Hier zeigt einer der bemerkenswertesten belgischen Regisseure, Thomas Bellinck,  noch bis zum 18. September 2016 dem „müden Europäer“ von heute,  wie dessen Nachkommen aus historischer Distanz heraus später einmal über den nicht verhinderten Untergang der Europäischen Union denken und urteilen werden.

Thomas Bellinck. "Keine Sorge, wenn, dann kommt es seiner Berechnung zur Folge erst 2053 zum Weltkrieg".Foto © massow-picture
Thomas Bellinck. „Keine Sorge, wenn, dann kommt es seiner Berechnung zur Folge erst 2053 zum Weltkrieg“.Foto Diether v. Goddenthow © massow-picture

Thomas Bellinck, unter anderem inspiriert von George Friedmans 2009 im Campusverlag erschienen Buch “Die nächsten hundert Jahre: Die Weltordnung der Zukunft“, versucht aus der Perspektive des Jahres 2060 einen Rückblick auf das dann bereits untergegangene Europa zu inszenieren. Der belgische Regisseur findet es wichtig, “aufzuzeigen, wenn man aus der Zukunft in die Jetztzeit schaut (…) vielleicht ändert es etwas, wie wir darüber denken, man sieht mehr mit Abstand. Wir bräuchten heute wieder so einen Abstand, so eine historische Distanz zu den Geschehnissen, um besser entscheiden zu können“, so der Künstler. Aber eine Utopie zur Rettung Europas hat selbst Bellinck nicht. Vielmehr kuratiert Bellinck aus dem Blickwinkel eines Historikers im Jahr 2060 minutiös den Untergang der Europäischen Union, der im frühen 21. Jahrhundert begann.

Treppenhaus des Neo-Renaissance-Gebäudes, jahrelang auch Kulisse von "Ein Fall für 2".  Foto: Diether v. Goddenthow © massow-picture
Treppenhaus des Neo-Renaissance-Gebäudes, jahrelang auch Kulisse von „Ein Fall für 2″. Foto: Diether v. Goddenthow © massow-picture

Einzeln, höchstens sechs Personen in einer halben Stunde, können Besucher die „Ausstellung des europäischen Untergangs“ vom Keller bis zur Dachetage völlig selbständig im Alten Gericht durchwandern.

 

 

 

 

 

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Bereits im Keller begegnen Besucher merkwürdigen  Exponaten der abgehalfterten  EU-Konsumgesellschaft wie etwa einem Karton, aus dem sich Hände an abgetrennten Armen ausrangierter Schaufensterpuppen Ihnen  entgegenstrecken. Sie fühlen sich beinahe wie in einer Geisterbahn oder etwas später wie in einem Gefängnis ohne Wiederkehr, wären da nicht dann und wann doch freundliche „Geister“, die  auf Nachfrage  hin helfen, den richtigen Weg aus dem  Raum- und Gänge-Labyrinth des Alten Gerichts im vorgegebenen Museums- Parcours zu finden.

Im großräumigen Kellergeschoss des Alten Gerichts beginnt die Ausstellung.
Im großräumigen Kellergeschoss des Alten Gerichts beginnt die Ausstellung. Foto © massow-picture

Neben allen möglichen und unmöglichen Exponaten einer untergegangenen EU-Welt gemeinsamer Währung, freiheitlicher Werte und offener Grenzen  begleiten  Besucher  Texttafeln in vier Sprachen, darunter Esperanto einer EU-Sprache in spe,  sowie angestaubte Landkarten im  Charme der 50-Jahre.

 

Tausende Visitenkarten, aufgespiest und hinter Glas gerahmt wie eine Insektensammlung, erwarten Besucher im rund 250 Quadrameter großen, ehemaligen großen holzgetäfelten Schwurgerichtssaal mit herrlicher Kassettendecke.. Foto: Diether v. Goddenthow © massow-picture
Tausende Visitenkarten, aufgespiest und hinter Glas gerahmt wie eine Insektensammlung, erwarten Besucher im rund 250 Quadrameter großen, ehemaligen großen holzgetäfelten Schwurgerichtssaal mit herrlicher Kassettendecke.. Foto: Diether v. Goddenthow © massow-picture

Als hätten vorausschauende Sammler einstmals alle Zeugnisse europäischer Unions-Identität liebevoll zusammen getragen: ob abgelegte Euro-Paletten, Teile einer eingemotteten Parlaments-Vertäfelung oder akribisch hinter Glas aufgespießte  Visitenkarten Brüsseler Lobbyisten im großen Schwurgerichts_Saal,

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ob Putin-Klopapier oder die IS-Flagge inmitten europäischer Hoheitszeichen – es wird nichts ausgelassen, was den Finger in die Wunde derzeitiger Versäumnisse oder Fehlentscheidungen legt.

 

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Selbst Angela Merkel, die sich krampfhaft am Rand einer Schüssel vor dem Ertrinken zu retten versucht, wird als Symbol massiver Versäumnisse  einer passiven und ignoranten „Wir-schaffen-das-Politik“ vorgeführt.

In 13 Stationen der vier Etagen des Neo-Renaissance-Gebäudes können die Exponate des Untergangs aus dem alten Europa bestaunt werden:1. Station: In Vielfalt geeint. 2. Magnet Europa, Otto von Europa 3. Das Ende der Geschichte. 4. Die Wiederkehr der Vergangenheit

Texttafel-Beispiel der Station 4:  „Wiederkehr der Vergangenheit“

„Am Ende der zweiten Zwischenkriegszeit wurde deutlich, dass das Europamotto ‚In Vielfalt geeint‘ im Hinblick auf die Einheit hoffnungslos übertrieben und bezüglich der Vielfalt untertrieben war. Mit jeder Erweiterung schien der Einfluss der einzelnen Mitgliedsstaaten auf die Europäischen Entscheidungsprozesse geringer zu werden. Das Vertrauen der Europäer schwand zusehends, und die alten Argumente konnten die nachkommenden Generationen nicht länger überzeugen. Wohlstand und Zusammenarbeit waren selbstverständlich geworden. Der Ansporn ‚Nie wieder Krieg‘ hatte sich nach gut einem halben Jahrhundert verbraucht.

Ausstellungsraum im 4. Bereich: Die Wiederkehr der Vergangenheit. © massow-picture
Ausstellungsraum im 4. Bereich: Die Wiederkehr der Vergangenheit. © massow-picture

Überall gab es zwar Denkmäler, die das breite Publikum an ‚die Vergangenheit‘ erinnern sollten, aber an was genau dabei erinnert wurde, erwies sich als auffällig beschränkt. Die Denkmäler und Sehenswürdigkeiten des 20. Jahrhunderts, die ein Gefühl der Verbundenheit schaffen sollten, glichen immer mehr einer Raritätensammlung. Erlebnismuseen, Massentourismus zu Kriegsschauplätzen, Themenparks und Rollenspiele und Nachstellungen historischer Ereignisse hatten Hochkonjunktur. Ehemalige Konzentrationslager wie Ausschwitz-Birkenaus lockten jährlich an die 1,5 Millionen Besucher. In Golfcarts  fuhren Touristen entlang der Drehorte des Holocaust-Blockbusters Schindlers Liste durch das frühere Krakauer Getto. In Berlin konnte man für gerade einmal zwei Euro (= 173 WEM) für ein Foto mit uniformierten Grenzbeamten posieren und so die Zeit aufstehen lassen, als der Eiserne Vorhang die Stadt noch in zwei Hälften geteilt hatte. Nicht die Erinnerung, sondern das Event stand im Mittelpunkt.

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Bild aus 12. Bereich: Die große Rezession © massow-picture

In Zeiten der Krise zeigte sich schmerzlich, wie wenig die Menschen aus der Vergangenheit gelernt hatten. Die wieder aufkeimende Angst trieb die politischen Akteure vor sich her und ließ die Menschen empfänglicher werden für die Übel der Vergangenheit als den Traum von einem vereinten Europa. 2016 ließ Großbritannien in einem ‚Referendum‘ – eine Volksabstimmung – entscheiden, ob der Staat in der Europäischen Union bleiben sollte. Und trat infolge dessen 2019 aus. Im selben Jahr gingen auf dem gesamten Kontinent die europaskeptischen, antiparlamentarischen, nationalistischen, separatistischen, populistischen, extremistischen Parteien als strahlende Sieger aus den Wahlen zum Europaparlament hervor. Der älteste Widersacher des Projektes Europa war wieder aufgetaucht: das Europa der Nationalstaaten.„

Weitere Stationen im Haus der Geschichte im Alten Gericht
Im Erinnerungstempel der Bürokatie können interessierte Besucher, wie hier die Dame auf dem Foto die Türme reglementierender Verordnungen bis ins nächste Stockwerk verfolgen.  © massow-picture
Im Erinnerungstempel der Bürokatie können interessierte Besucher, wie hier die Dame auf dem Foto die Türme reglementierender Verordnungen bis ins nächste Stockwerk verfolgen. © massow-picture

Weitere Stationen sind: 5. Die Kunst des Kompromisses, 6. Richtlinien und Verordnungen, 7. Die Lobbyisten-Hauptstadt der Welt, 8. Die Plastikwüste. 9. Demographischer Wandel. 10. Die Mauer. 11. Die Sternstunde Europas. 12. Die große Rezession. 13. Die Angst vor dem Ruin.

Der Rundgang endet in der zur Bar umgerüsteten kleinen Justizkantine im Dachgeschoss, wo sich der spätestens bis dahin müde gewanderte Europäer ein wenig bei Apfelsaft-Schorle oder Wasser erfrischen und die zuvor niederdrückenden Europa-Impressionen als schlimmen Traum, aus dem er erwacht ist, runterspülen kann.

Nachdem der Haupteingang von Taubenkotbergen befreit wurde, ist er Besuchern wieder zumutbar. © massow-picture
Nachdem der Haupteingang von Taubenkotbergen befreit wurde, ist er Besuchern wieder zumutbar. © massow-picture

Anschließend kann er sich dann auf einem anderen, direkten Weg durch das herrliche Treppenhaus hinunter zum Hausgang begeben. Hierzu dient der  Haupteingang des Alten Gerichts. Der Ausstellungs-Eingang befindet sich jedoch nicht hier, sondern zirka 10 Meter links davon, im ehemaligen Personaleingang.

Interessenten sollten ruhig 60 Minuten für ihren Alleinrundgang im „Haus der Europäischen Geschichte“  einplanen. Die  5,– Euro Eintrittspreis sind eher symbolisch zu verstehen. Karten sollten am besten an der Theaterkasse gelöst werden. Sie gibt es aber auch direkt am Ausstellungseingang im Alten Gericht.

Öffnungszeiten:
täglich noch bis einschließlich Sonntag, 18. September 2016
11 Uhr bis 18 Uhr
Ort: Altes Gericht, Gerichtsstrasse (zwischen Oranienstrasse und Moritzstrasse, Buslinie 6 bis Adelheidstrasse)