Kategorie-Archiv: Schirn Kunsthalle Frankfurt

NIKI DE SAINT PHALLE ab 3. Februar 2023 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt

Niki de Saint Phalle, Nana rouge jambes en l'air, um 1968, Polyester, bemalt, auf Eisendraht, 220 x 185 x 120 cm, Leopold Hoesch Museum, Düren / Peter Hirnschläger, Aachen, © 2023 Niki Charitable Art Foundation / Adagp, Paris
Niki de Saint Phalle, Nana rouge jambes en l’air, um 1968, Polyester, bemalt, auf Eisendraht, 220 x 185 x 120 cm, Leopold Hoesch Museum, Düren / Peter Hirnschläger, Aachen, © 2023 Niki Charitable Art Foundation / Adagp, Paris

In Koope­ra­tion mit dem Kunst­haus Zürich präsentiert die Schirn Kunsthalle Frankfurt vom 3.Februar bis zum 21. Mai 2023 Niki des Saint Phalles radikales und visionäres Werk in einer umfassenden Überblicksausstellung.
Niki de Saint Phalle (1930–2002) zählt als eine der Haupt­ver­tre­te­rin­nen der euro­päi­schen Pop-Art und Mitbe­grün­de­rin des Happe­nings zu den bekann­tes­ten Künst­le­rin­nen ihrer Gene­ra­tion. Kunst war für die Autodidaktin de Saint Phalle mehr als nur ein Medium des Ausdrucks: Kunst war ihr aus biogra­fi­schen Grün­den eine Notwen­dig­keit und diente zudem dazu, gesell­schaft­li­che Konven­tio­nen zu hinter­fra­gen.
Mit  rund 100 Arbei­ten aus allen Werk­pha­sen beleuchtet die Schirn das viel­fäl­tige Œuvre und die künstlerische Geschichte der fran­zö­sisch-ameri­ka­ni­schen Visio­nä­rin. In den fünf Jahr­zehn­ten ihres künst­le­ri­schen Schaf­fens entwi­ckelte Niki de Saint Phalle eine unver­wech­sel­bare Formen­spra­che und ein facet­ten­rei­ches Werk. Die „Nanas“, ihre bunten, groß­for­ma­ti­gen Frau­en­skulp­tu­ren, zuletzt ein wenig in Vergessenheit geraten, begrün­de­ten ihren inter­na­tio­na­len Erfolg und gelten bis heute als ihr Marken­zei­chen.
SCHIRN KUNST­HALLE FRANK­FURT am Main GmbH
Römer­berg
60311 Frank­furt am Main
Tel +49 69 299882-0
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Chagall Welt in Aufruhr – Die Schirn Kunsthalle Frankfurt beleuchtet das Schaffen des eigenwilligsten Künstlers der Moderne ab4.11.2022

DIE SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT BELEUCHTET MARC  CHAGALLS SCHAFFEN DER 1930ER- UND 1940ER-JAHRE IN EINER GROSSEN AUSSTELLUNG vom 4. NOVEMBER 2022 – 19. FEBRUAR 2023 © Foto: Diether von Goddenthow
DIE SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT BELEUCHTET MARC CHAGALLS SCHAFFEN DER 1930ER- UND 1940ER-JAHRE IN EINER GROSSEN AUSSTELLUNG vom 4. NOVEMBER 2022 – 19. FEBRUAR 2023 © Foto: Diether von Goddenthow

In Marc Chagalls (1887–1985) Werk scheinen der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Er gilt als einer der eigenwilligsten Künstler der Moderne. Die Schirn Kunsthalle Frankfurt widmet dem Maler nach 15 Jahren erstmals wieder eine groß angelegte Ausstellung in Deutschland. „Chagall. Welt in Aufruhr“ beleuchtet vom 4. November 2022 bis zum 19. Februar 2023 eine bislang wenig bekannte Seite seines Schaffens: Chagalls Werke der 1930er- und 1940er-Jahre, in denen sich seine farbenfrohe Palette zunehmend verdunkelt.

Chagall. Welt in Aufruhr, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2022 © Foto: Diether von Goddenthow
Chagall. Welt in Aufruhr, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2022 © Foto: Diether von Goddenthow

Als jüdischer Maler war Chagall immer wieder existenziellen Bedrohungen ausgesetzt, die sich prägend auf sein Leben und sein Werk auswirkten. In den frühen 1930er-Jahren thematisierte er in seiner Kunst den immer aggressiver werdenden Antisemitismus und emigrierte 1941 aufgrund der Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime schließlich in die USA. Sein künstlerisches Schaffen in diesen Jahren berührt zentrale Themen wie Identität, Heimat und Exil. Mit rund 60 eindringlichen Gemälden, Papierarbeiten und Kostümen der 1930er- und 1940er-Jahre zeichnet die Ausstellung die Suche des Künstlers nach einer Bildsprache im Angesicht von Vertreibung, Verfolgung und Emigration nach. Sie präsentiert wichtige Werke, in denen sich Chagall vermehrt mit der jüdischen Lebenswelt beschäftigte, zahlreiche Selbstbildnisse, seine Hinwendung zu allegorischen und biblischen Themen, die bedeutenden Gestaltungen der Ballette Aleko (1942) und Der Feuervogel (1945) im US-amerikanischen Exil, die wiederkehrende Auseinandersetzung mit seiner Heimatstadt Witebsk und Hauptwerke wie Der Engelsturz (1923/1933/1947). In der Zusammenschau ermöglicht die Schirn eine neue und äußerst aktuelle Perspektive auf das OEuvre eines der wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts.

Für die Präsentation konnte die Schirn bedeutende Leihgaben aus zahlreichen deutschen und internationalen Museen, öffentlichen wie privaten Sammlungen gewinnen und in Frankfurt zusammenführen. Zu den Leihgebern zählen u.a. das Kunsthaus Zürich, das Kunstmuseum Basel, The Metropolitan Museum of Art, New York, das Moderna Museet, Stockholm, das Centre Pompidou, Paris, das Musée national Marc Chagall, Nizza, das Museo de Arte Thyssen-Bornemisza, Madrid, das The David and Alfred Smart Museum of Art, Chicago, das Stedelijk Museum, Amsterdam, die Tate, London, das Tel Aviv Museum of Art sowie das The Israel Museum, Jerusalem.

Die Ausstellung „Chagall. Welt im Aufruhr“ wird gefördert durch den Kulturfonds Frankfurt RheinMain und die Ernst Max von Grunelius-Stiftung. Hinzu kommt die Förderung der Bank of America als Partner der Schirn sowie zusätzliche Unterstützung durch die Georg und Franziska Speyer’sche Hochschulstiftung.

(v.li.:) Ilka Voermann, Kuratorin der Ausstellung, Sebastian Baden, Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt  und Karin Wolff, Geschäftsführerin Kulturfonds Frankfurt RheinMain beim Pressegespräch über die neue Ausstellung „Chagall – Welt in Aufruhr“  im Foyer der Schirn Kunsthalle Frankfurt
(v.li.:) Ilka Voermann, Kuratorin der Ausstellung, Sebastian Baden, Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt und Karin Wolff, Geschäftsführerin Kulturfonds Frankfurt RheinMain beim Pressegespräch über die neue Ausstellung „Chagall – Welt in Aufruhr“ im Foyer der Schirn Kunsthalle Frankfurt

Sebastian Baden, Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt, stellte heute bei einem Pressegespräch gemeinsam mit Karin Wolff, Geschäftsführerin Kulturfonds Frankfurt RheinMainbetont, und Ilka Voermann, Kuratorin der Ausstellung, die neue Sonderausstellung vor. Sie soll nach dem Ende, am 23. Februar 2023, nach Oslo „wandern“. „Chagall musste immer wieder aufs neue in seinem Leben den Wohnort wechseln – mal aus freien Stücken, mal veranlasst durch äußere Umstände“, so Baden: „Wie viele junge Maler zog es ihn 1911 in die bedeutende Kunstmetropole Paris, um dort die alten Meister ebenso wie die neuesten Strömungen in der Kunst zu studieren. Schon 1914 zwang ihn der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zur Rückkehr in seine belarussische Heimatstadt Witebsk, die zur damaligen Zeit zum Russischen Reich gehörte“, so Baden.

Sebastian Baden, Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt, macht zudem auf den wunderbaren Begleitkatalog zur Ausstellung aufmerksam. © Foto: Diether von Goddenthow
Sebastian Baden, Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt, macht zudem auf den wunderbaren Begleitkatalog zur Ausstellung aufmerksam. © Foto: Diether von Goddenthow

Im Anschluss an die Oktoberrevolution ließ sich Chagall erneut in Paris nieder, das für ihn und seine Familie in den drauffolgenden Jahren zu einer neuen Heimat wurde. Auch nach der nationalistischen Machtübernahme in Deutschland, mit der eine zunehmende Bedrohung des Friedens wie auch des jüdischen Lebens in Europa einherging, blieb er zunächst in Paris. 1939, wenige Wochen vor dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen, übersiedelte der Künstler zusammen mit seiner Familie nach Südfrankreich. Zwei Jahre später emigrierten die Chagalls in die Vereinigten Staaten. Obschon er und seine Familie sich dort mit der schwierigen politischen und wirtschaftlichen Situation zurechtenfinden mussten, und auch der unerwartete Tod seiner sehr geliebten Frau Bella ihn mit großer Trauer erfüllte, setzte Chagall seine künstlerische Arbeit in Amerika fort. Erst 1948 kehrte Chagall endgültig nach Frankreich zurück. „Wie eng die oftmals als fantastisch beschriebene Kunst von Marc Chagall mit seiner Lebenswirklichkeit verbunden ist, zeigt besonders der Blick auf seine weniger bekannten Werke der 1930er- und 1940er-Jahre, die in dieser Ausstellung gezeigt werden. Unverkennbar reflektierte Chagall in diesen Gemälden die politische Realität und machte es sich zum Anliegen, auch ein nicht-jüdisches Publikum zu erreichen und zur Auseinandersetzung mit der Shoah aufzufordern. Anhand des Schaffens eines der bekanntesten Künstler der europäischen Moderne befasst sich die Schirn Kunsthalle Frankfurt mit zentralen Themen wie Flucht und Verfolgung, Heimat und Exil, aber auch der Frage, wie Erfahrungen und Zuschreibungen durch andere die eigene Identität prägen. Damit eröffnet die Ausstellung einen differenzierten und neuen Blick auf das Werk von Chagall, das gegenwärtig eine besondere Aktualität erhält.“, so der Direktor der Schirn.

Karin Wolff, Geschäftsführerin Kulturfonds Frankfurt RheinMain © Foto: Heike  von Goddenthow
Karin Wolff, Geschäftsführerin Kulturfonds Frankfurt RheinMain © Foto: Heike von Goddenthow

Karin Wolff, Geschäftsführerin Kulturfonds Frankfurt RheinMain, unterstrich die Bedeutung der leuchtenden, farbenfrohen Bildwelten und fantastischen Kompositionen des Künstlers und unterstrich auch noch einmal, wie eng verwoben Chagalls Bilder mit einer eigenen Lebensrealität seien. Chagalls Leben und Werk, das mit seinen Stationen und Entwicklungen geradezu programmatisch für das 20. Jahrhundert gelesen werden kann, erscheint in diesen Zeiten im Hinblick auf die aktuellen Entwicklungen in Europa wieder gegenwärtiger denn je“, so Wolff.

Ilka Voermann, Kuratorin der Ausstellung © Foto: Heike  von Goddenthow
Ilka Voermann, Kuratorin der Ausstellung © Foto: Heike von Goddenthow

Ilka Voermann, Kuratorin der Ausstellung, erläutert: „Bei einem genauen Blick auf Marc Chagalls Bilder wird schnell deutlich, dass die in der Rezeption dominierende Vorstellung von dem Künstler als ‚Poet‘ oder ‚Fantast‘ unter den Malerinnen und Malern der Moderne nicht stimmen kann. Chagalls Kunst ist stark in seiner Lebensrealität verwurzelt, die immer wieder durch politische Ereignisse, wie die zwei Weltkriege oder die Novemberrevolution, geprägt wurde. Diese massive Gefährdung nicht nur seiner eigenen Identität, sondern einer ganzen Kultur nimmt er zum Anlass, um gerade in den 1930er- und 1940er-Jahren einige der eindrücklichsten Darstellungen zu den Themen Krieg, Flucht und Verfolgung der westlichen Kunstgeschichte zu schaffen. Auch für die Einordnung und das Verständnis seines OEuvres sind Chagalls Arbeiten aus dieser Zeit, die weniger bekannt sind als sein Früh- und Spätwerk, sehr bedeutsam.“

RUNDGANG DURCH DIE AUSSTELLUNG

Die Ausstellung in der Schirn fokussiert Werke von Marc Chagall, die in den 1930er- und 1940er-Jahren entstanden sind, in einem thematisch gegliederten Rundgang mit sieben Sektionen.

Chagall. Welt in Aufruhr, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt  2022 © Foto: Diether von Goddenthow
Chagall. Welt in Aufruhr, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2022 © Foto: Diether von Goddenthow

Anfang der 1930er-Jahre begann im Schaffen von Marc Chagall ein verstärktes Interesse an jüdischen Themen und eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen jüdischen Identität. Auftakt des Ausstellungsrundgangs bildet das bedeutende Gemälde Einsamkeit, entstanden 1933, dem Jahr der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland. Es zeigt einen Juden in der Pose der Melancholia vor einer brennenden Stadt. Schützend umfasst er eine Thorarolle, während ihm eine Geige spielende Kuh Trost spendet. In dieser Zeit realisierte Chagall im Auftrag des Kunsthändlers Ambroise Vollard auch Illustrationen des Alten Testaments, die ebenfalls in der Schirn zu sehen sind. Vor diesem Hintergrund bereiste er 1931 gemeinsam mit seiner Familie das britische Mandatsgebiet Palästina. Vor Ort entstanden Zeichnungen und Gemälde in einer zeitlosen, für Chagall ungewöhnlich dokumentarischen Ausführung, die sich auf die Darstellung heiliger, jüdischer Stätten wie die Klagemauer sowie Innenräume von Synagogen konzentrieren und das zeitgenössische Leben in Palästina aussparen. Zu sehen sind in der Ausstellung auch Zeichnungen der Synagoge in Wilna (1935), die während einer Reise ins damals polnische Wilna, heute Vilnius, entstanden.

Chagall. Welt in Aufruhr, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt  2022 © Foto: Diether von Goddenthow
Chagall. Welt in Aufruhr, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2022 © Foto: Diether von Goddenthow

Chagall wechselte immer wieder seinen Lebensmittelpunkt. Im Jahr 1922 verließ er das postrevolutionäre Russland und lebte mit seiner Frau Bella Chagall und der Tochter Ida, nach einem Zwischenaufenthalt in Berlin, ab 1923 in der französischen Hauptstadt Paris. 1941 floh er gemeinsam mit seiner Familie vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten in die USA und kehrte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1948 aus der Emigration nach Frankreich zurück. Anders als in Frankreich, wo einige von Chagalls Arbeiten wie Bonjour Paris (1939–1942) durch typische Landschafts- oder Stadtansichten eine Annäherung an das Land belegen, spiegeln sich die USA in den Werken des Künstlers kaum wider. Vielmehr beschäftigten Chagall die Geschehnisse in Europa und in seiner Heimat. Ein wiederkehrendes Motiv insbesondere der 1930er- und 1940er-Jahre ist seine Heimatstadt Witebsk, u.a. in Die Dorfmadonna (1938‒1942), Der Traum (ca. 1938/39) oder Bei mir zu Hause (1943). Sie wurde für Chagall zum Symbol für die Sehnsucht nach dem verlorenen, zerstörten Zuhause.

Chagall. Welt in Aufruhr, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt  2022 © Foto: Diether von Goddenthow
Chagall. Welt in Aufruhr, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2022 © Foto: Diether von Goddenthow

Ende der 1930er-Jahre fand Chagall eine Bildsprache für die politischen und persönlichen Ereignisse seiner Zeit in religiösen und vornehmlich christlichen Motiven. Der gekreuzigte Christus wurde für den Künstler zum zentralen Sinnbild für das Leiden der europäischen Jüdinnen und Juden. In zahlreichen Werken wie Die Kreuzigung in Gelb (1942) oder Apokalypse in Lila, Capriccio (1945) kennzeichnete er Christus durch Attribute wie den jüdischen Gebetsschal (Tallit) oder Gebetsriemen (Tefillin) eindeutig als Juden. Indem er die christliche Ikonografie mit den jüdischen Symbolen verknüpfte, entwickelte Chagall ein neues Narrativ und stilisierte Christus zu einem jüdischen Märtyrer.

Mit seiner Frau Bella Chagall verband den Künstler eine außergewöhnliche Lebens- und Geistesgemeinschaft. In zahlreichen Gemälden visualisierte er das ikonische Bildmotiv des schwebenden, innig verbundenen Liebespaars. Chagall griff das Paarmotiv in verschiedenen Varianten und Posen auf, als singuläre Figuren, die sich im Bildraum bewegen, häufiger als Brautpaar, in eine dörfliche Szenerie eingebettet. 1945 entstanden die beiden monumentalen Gemälden Um sie herum und Die Lichter der Hochzeit, in denen Chagall auch seine Trauer um die plötzlich verstorbene Bella zum Ausdruck brachte.

Chagall. Welt in Aufruhr, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt  2022 © Foto: Heike von Goddenthow
Chagall. Welt in Aufruhr, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2022 © Foto: Heike von Goddenthow

Das Werk Der Engelsturz nimmt eine Sonderstellung in Chagalls Werk ein. Über einen Zeitraum von 24 Jahren arbeitete der Künstler in Paris, im US-amerikanischen Exil und wieder zurück in Europa immer wieder an diesem Gemälde. An diesem programmatischen Werk der 1930er- und 1940er-Jahre lässt sich in der Ausstellung anhand von Skizzen die Entwicklung der Bildelemente, die Verdunklung der Farbpalette und Chagalls intensive Auseinandersetzung besonders eindrücklich nachvollziehen. Der Künstler selbst bezeichnete das Gemälde nach 1945 als „das erste Bild der Serie von Vorahnungen“. Die heutige Datierung 1923 – 1933 – 1947 benennt die Vollendungszeitpunkte der drei verschiedenen Fassungen.

Die Schirn beleuchtet auch Chagalls Schaffen während seines Exils in New York. Neben Gemälden sind in der Ausstellung Kostüme aus dem Jahr 1942 für das Ballett Aleko, vertont von Pjotr Iljitsch Tschaikowski, zu sehen sowie Kostüm- und Vorhangentwürfe für Der Feuervogel zur Musik von Igor Strawinsky aus dem Jahr 1945. Für Chagall waren die Bühnenproduktionen nicht nur wichtige, öffentliche Aufträge, sondern gaben ihm auch die Möglichkeit, mit anderen russischen Exilanten, wie dem Choreografen Léonide Massine, zusammenzuarbeiten.

Chagall. Welt in Aufruhr, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt  2022 © Foto: Diether von Goddenthow
Chagall. Welt in Aufruhr, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2022 © Foto: Diether von Goddenthow

Das Ende des Zweiten Weltkriegs zeigt sich im Werk von Chagall ambivalent. In Gemälden wie Die Seele der Stadt (1945) oder Selbstbildnis mit Wanduhr (1947) thematisierte er den neuen Lebensabschnitt, ebenso aber seine Zerrissenheit aufgrund der persönlichen Situation. In vielen Gemälden wie Die Kuh mit dem Sonnenschirm (1946) lässt sich eine positivere Grundstimmung ausmachen, das Thema der Shoah bleibt ein fester Bestandteil in Chagalls späteren Arbeiten. Anschaulich wird Chagalls innerer Konflikt in dieser Übergangsphase auch an den doppelgesichtigen Porträts, in denen er häufig sein eigenes Gesicht mit dem seiner verstorbenen Frau verband, etwa in Der schwarze Handschuh (1923‒1948). Im August 1948 verließ Chagall sein US-amerikanisches Exil und kehrte gemeinsam mit seiner neuen Partnerin Virginia Haggard nach Frankreich zurück.

Eine Ausstellung der Schirn Kunsthalle Frankfurt in Kooperation mit dem Henie Onstad Kunstsenter, Oslo.

KATALOG Chagall
katalog-chagall-welt-in-aufruhr-160Welt in Aufruhr, herausgegeben von Ilka Voermann, mit Beiträgen von Ziva Amishai-Maisels, Anna Huber, Leon Joskowitz, Sabine Koller und Ilka Voermann, sowie einem Vorwort des Direktors der Schirn Kunsthalle Frankfurt Sebastian Baden und der emeritierten Direktorin des Henie Onstad Kunstsenter Tone Hansen, Deutsch, Englisch und Norwegisch in getrennten Ausgaben, 200 Seiten, 120 Abb., 28,5 x 22,5 cm, Hardcover, Hirmer Verlag, ISBN 978-3-7774-4079-8 (deutsche Ausgabe), 978-3-7774-4082-8 (englische Ausgabe), 978-3-7774-4083-5 (norwegische Ausgabe), 35 € (SCHIRN), 45 € (Buchhandel)

DIGITORIAL® Zur Ausstellung bietet die SCHIRN ein Digitorial® an. Es beleuchtet an den Stationen Witebsk, Paris, Jerusalem und New York die politischen Ereignisse, die Chagalls Schaffen geprägt haben. Das kostenfreie digitale Vermittlungsangebot ist in deutscher sowie englischer Sprache abrufbar unter www.schirn.de/digitorial.

BEGLEITHEFT Chagall. Welt in Aufruhr. Eine Einführung in die Ausstellung, herausgegeben von der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Das Begleitheft nimmt Marc Chagalls Werke der 1930er- und 1940er-Jahre in den Blick. Auf ca. 40 Seiten stellt die Publikation die wichtigsten Werke der Ausstellung vor und legt die künstlerischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge dar. Ab 12 Jahren, 7,50 € einzeln, im Klassensatz 1 € pro Heft (ab 15 Stück).

AUDIOGUIDE Der kostenlose Audioguide stellt die wichtigsten Werke der Ausstellung vor. Daniel Donskoy, Schauspieler, Musiker und Moderator bereichert den Audioguide um Hintergründe zu Chagalls Leben und gewährt Einblicke in die heutige jüdische Identität. Kostenlos auf dem Handy erhältlich oder als Mietgeräte in der SCHIRN für 4 €

ORT SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT, Römerberg, 60311 Frankfurt am Main
DAUER 4. November 2022 – 19. Februar 2023
INFORMATION www.schirn.de E-MAIL welcome@schirn.de TELEFON +49.69.29 98 82-0 FAX +49.69.29 98 82-240
EINTRITT Limitierte Zeittickets für Wochenendbesuche 16 €, ermäßigt 14 €. Zeittickets wochentags 14 €, ermäßigt 12 €, freier Eintritt für Kinder unter 8 Jahren
ZEITTICKETS im Onlineshop unter www.schirn.de/shop oder an der Schirn Kasse INDIVDUELLE FÜHRUNGEN BUCHEN Individuelle Führungen oder Gruppenbuchungen sind buchbar unter fuehrungen@schirn.de
INFORMATIONEN ZU IHREM BESUCH Alle Informationen zu Ihrem Besuch und den aktuell gültigen Hygienemaßnahmen finden Sie unter www.schirn.de/besuch/faq

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„Ja, wenn das Malen nicht wäre?“ – Die Frankfurter Schirn zeigt umfassende Retrospektive der Malerin Paula Modersohn-Becker

Paula Modersohn Becker: Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag. Es ist das erste Akt-Selbstporträt einer Künstlerin überhaupt, die einen  Babybauch zeigt. Sie ist jedoch nicht schwanger. Der gewölbte Bauch soll nur eine Möglichkeit und auf Venusdarstellungen von Lucas Cranach oder Botticellis Geburt der Venus anspielen, so Dr. Ingrid Pfeiffer, Kuratorin der Ausstellung, beim Presserundgang. © Foto  Diether v Goddenthow
Paula Modersohn Becker: Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag (25. Mai 1906). Es ist das erste Akt-Selbstporträt einer Künstlerin überhaupt, die einen Babybauch zeigt. Sie ist jedoch nicht schwanger. Der gewölbte Bauch soll nur eine Möglichkeit zeigen und auf Venusdarstellungen von Lucas Cranach oder Botticellis Geburt der Venus anspielen, so Dr. Ingrid Pfeiffer, Kuratorin der Ausstellung, beim Presserundgang. © Foto Diether v Goddenthow

Die Schirn Kunsthalle Frankfurt präsentiert  vom 8. Oktober 2021 bis 6. Februar 2022  die Avant­garde der Malerin Paula Modersohn-Becker  (1876–1907), einer deutschen Künstlerin der Klassischen Moderne, die wie keine andere in der öffentlichen Wahrnehmung solch legendären Status erreicht hat. In einer umfassenden Retrospektive wird gezeigt, wie entschieden sie sich über gesellschaftliche und künstlerische Konventionen ihrer Zeit hinwegsetzte und zentrale Tendenzen der Moderne vorwegnahm. In ihrem kurzen Leben schuf sie ein umfassendes und facettenreiches Œuvre, das über 100 Jahre zur Projektionsfläche wurde und bis heute fasziniert. Die Ausstellung versammelt in Frankfurt 116 ihrer Gemälde und Zeichnungen aus allen Schaffensphasen, darunter Hauptwerke, die heute als Ikonen der Kunstgeschichte gelten, etwa das Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag (1906). Präsentiert wird ein aktueller Blick auf das Werk dieser frühen Vertreterin der Avantgarde. In der nach prägnanten Serien und Bildmotiven gegliederten Präsentation stehen insbesondere auch Modersohn-Beckers außergewöhnlicher Malduktus und ihre künstlerischen Methoden im Fokus, die zu einer vielfältigen Rezeption ihres Schaffens beitrugen.

Ausstellungs-Impresssion. „Paula Modersohn-Becker fasziniert bis heute: Während die einen sie als populäre Malerin von Kinderbildnissen, Müttern, Bauern und norddeutscher Landschaft schätzen, wird sie von anderen als Ausnahmekünstlerin der Moderne gefeiert und neben Cézanne und Picasso gestellt. Gerade diese Vielstimmigkeit ihrer Rezeption war für die Schirn Anlass, unser Publikum einzuladen, ihr Werk in Frankfurt in seiner Gesamtheit neu zu betrachten.“, Dr. Philipp Demandt, Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt. © Foto:  Heike v Goddenthow
Ausstellungs-Impresssion. „Paula Modersohn-Becker fasziniert bis heute: Während die einen sie als populäre Malerin von Kinderbildnissen, Müttern, Bauern und norddeutscher Landschaft schätzen, wird sie von anderen als Ausnahmekünstlerin der Moderne gefeiert und neben Cézanne und Picasso gestellt. Gerade diese Vielstimmigkeit ihrer Rezeption war für die Schirn Anlass, unser Publikum einzuladen, ihr Werk in Frankfurt in seiner Gesamtheit neu zu betrachten.“, Dr. Philipp Demandt, Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt. © Foto: Heike v Goddenthow

Gemessen an ihrem umfangreichen Oeuvre mit allein rund 734 Gemälden und 1500 Zeichnungen, das Paula Modersohn-Becker nach nur 10- bis 14jähriger Schaffensperiode hinterließ, als sie mit 31 Jahren im November 1907 einer Embolie erlag, war Malen für sie mehr als Kunst, war Lebenselixier, bedeutet ihr Glückseligkeit: „Du lebst ja überhaupt. Du Glückliche, lebst intensiv, das heißt: Du malst. Ja, wenn das Malen nicht wäre?“, schrieb Paula Becker, 21jährig, im Juli 1897 in ihr Tagebuch.

Ihr Talent entdeckte Paula Becker zufällig als 16jährige bei privatem Zeichenunterricht für höhere Töchter während eines Aufenthaltes bei ihrer Tante Marie Hill auf dem englischen Landsitz „Castle Malwood“ in Wiley nahe Londons. Eigentlich sollte sie, so der Wunsch des Vater, dort den letzten Schliff in gesellschaftlichem Umgang und Haushaltsführung erhalten, um ihre Chancen auf eine gute Partie zu erhöhen. Doch ihre Tante Hill, angetan von der Begabung ihrer Nichte Paula, meldete sie in der privaten St. John’s Wood Art School in London an. Hier erwarb sie ihr erstes handwerkliches Grundgerüst: »Ich habe dort alle Tage Stunden von 10–4 Uhr. Zuerst zeichne ich nur, und zwar ganz einfache Arabesken usw. Mache ich darin Fortschritte, so zeichne ich in Kohle nach griechischen Modellen. […] Sollte ich noch weiter kommen, so zeichne und male ich nach lebendigen Modellen.« (an die Eltern, 21.10.1892).«  (Brief an die Eltern, 21.10.1892, Quelle: Paula Modersohn-Stiftung)

Ausstellungs-Impression Paula Modersohn Becker © Foto Diether v Goddenthow
Ausstellungs-Impression Paula Modersohn Becker © Foto Diether v Goddenthow

Hier reifte auch ganz zum Leidwesen ihrer Eltern der  Entschluss, Berufsmalerin zu werden. 1893 wieder zurück in Bremen, absolvierte sie den Eltern zuliebe zwar ein zweijähriges Lehrerinnen-Seminar mit Examen 1895. Doch ihr Lehrerinnen-Examen und Vaters Vorschlag, wenigstens als Kunstlehrerin zu arbeiten, konnten Paula nicht von ihrem Entschluss abbringen, Berufsmalerin zu werden. Während dieser ganzen Zeit hatte sie nebenher Mal- und Zeichenunterricht bei dem Bremer Maler Bernhard Wiegandt genommen.

Was heutzutage vielleicht nicht mehr sehr revolutionär klingt, war Ende des 19. Jahrhunderts für Frauen eine absolute berufliche Sackgasse: Denn Frauen konnten weder an öffentlichen Kunstakademien studieren, noch durften sie an öffentlichen Kunst-Wettbewerben der Akademien teilnehmen. Für Frauen blieb nur die Möglichkeit, sich an privaten – recht teuren –  Kunstschulen einzuschreiben.

Als Paula Becker von der  Zeichen- und Malschule des Vereins der Berliner Künstlerinnen und Kunstfreundinnen hörte, die 1867 von wohlhabenden Damen der Gesellschaft gegründet wurde, immatrikulierte sich Paula Becker im Oktober 1896 für ein eineinhalbjähriges Studium. Dies unterbrach die angehende Berufsmalerin nur mit gelegentlichen Reisen zu Verwandten und für Studienaufenthalte in Worpswede, wo sie Fritz Mackensen unterrichtete.  Gefördert wurde sie von den Eltern und reichen Verwandten, wobei die einen Paula Becker finanziell unterstützten und die anderen, wie ihre Tante Paula Rabe  in der Perleberger Straße 23, sie bei sich frei wohnen ließen.

Um fachlich anerkannt und mit öffentlichen Kunstschulen /Akademien konkurrenzfähig zu sein,  wurde in der Berliner Kunstschule des Vereins der Berliner Künstlerinnen und Kunstfreundinnen  nach einem strikten akademischen Curriculum unterrichtet. So wurden neben Zeichenkursen auch die verschiedenen künstlerischen Techniken und Genres wie Landschafts-, Porträt- und Blumenmalerei sowie theoretische Fächer wie Perspektive, Anatomie und Kunstgeschichte angeboten. Revolutionär war:  ab 1875 gab es eine Akt-Klasse, zu der nur angehende Berufsmalerinnen wie Paula zugelassen waren. Im Unterschied zu London und Paris, verfügte die Berliner Kunstschule in einem eigens errichteten Gebäude in bester Lage der Potsdamer Straße über sechs 90 Quadratmeter große Studiensäle. Wie eine Getriebene studierte Paula rund um die Uhr, besuchte Vorträge, und die wenige freie Zeit nutzte sie für Museumsbesuche, dazwischen auch Reisen  nach Hindelang im Allgäu mit Stationen in München zum Besuch der Pinakothek und der Schackgalerie.

Bereits 1898 in Worpswede entstanden die zwei lebensgroßen Akte in Kohle Stehender weiblicher Akt im Profil nach rechts und Stehender männlicher Akt nach links. Wie diese lebensgroßen Männerakte einmal mehr belegen, beherrschte Paula Modersohn-Becker  auch die akademische Malweise perfekt. © Foto:  Heike v Goddenthow
Bereits 1898 in Worpswede entstanden die zwei lebensgroßen Akte in Kohle Stehender weiblicher Akt im Profil nach rechts und Stehender männlicher Akt nach links. Wie diese lebensgroßen Männerakte einmal mehr belegen, beherrschte Paula Modersohn-Becker auch die akademische Malweise perfekt. © Foto: Heike v Goddenthow

Ab 1898 war Paula Becker ganz in die Künstlerkolonie Worpswede gezogen, lebte und arbeitete dort, unterbrochen durch vier längere Aufenthalte in Paris. Trotz fehlender weiblicher Vorbilder und auch während ihrer Ehe ab Mai 1901 mit dem Worpsweder Landschaftsmaler Otto Modersohn verfolgte sie mit großer Disziplin ihre eigenständige künstlerische Entwicklung. Sie war fasziniert von Rembrandt, Velazquez, Verrocchio, Dürer, Hans Baldung, dem Meister von Meßkirch und Goya und vielen anderen. Ihre Werke entstanden in oft einsamer Auseinandersetzung mit der älteren Kunstgeschichte und aktuellen Tendenzen der Kunst, die sie in der französischen Metropole studierte. In großen Werkserien umkreist sie ein wiederkehrendes Repertoire von Bildmotiven: Einen besonderen Schwerpunkt stellen Porträts und Selbstporträts dar, weitere zentrale Werkkomplexe sind Kinderbildnisse, Darstellungen von Mutter mit Kind, Bäuerinnen und Bauern, Akte, Landschaften aus Worpswede und Paris sowie Stillleben. Dabei fand sie zu überzeitlichen, allgemeingültigen Bildern und unabhängigen Darstellungen. Ihre Arbeiten sind rigoros, bisweilen radikal anders als die ihrer Zeitgenossen. Dem hohen eigenen Anspruch der Künstlerin steht der ihr zu Lebzeiten völlig ausbleibende äußere Erfolg gegenüber. Bis zu ihrem frühzeitigen Tod verkaufte sie lediglich vier Bilder, was aber auch zeigt, dass sie, ein Kind aus großbürgerlichen Verhältnisse, nicht wirklich existentiell auf Bildverkäufe angewiesen war.

Erst nach ihrem Tod wurde ihr Werk als Entdeckung gefeiert, gesammelt und ausgestellt, dabei in seiner Ambivalenz vielfach vereinnahmt.

 

THEMEN UND WERKE DER AUSSTELLUNG

Die Ausstellung ist in folgende Themen-Schwerpunkte gegliedert: Selbstporträts, Porträts von Familie und Freunden, Kinderbilder, Aktdarstellungen, Mutter und Kind, Paris-Zeichnungen, Bauern und Bäuerinnen in Worpswede, Landschafen, Nahsicht und Stilleben..

Selbstporträts

Paula Modersohn Becker: Selbstbildnis mit-Rose (1905)  © Foto  Diether v Goddenthow
Paula Modersohn Becker: Selbstbildnis mit-Rose (1905) © Foto Diether v Goddenthow

Ein besonderer Fokus im Schaffen Paula Modersohn-Beckers liegt auf der Darstellung des Menschen, dem Porträt. Insbesondere ihre Selbstporträts sind eines ihrer wichtigsten künstlerischen Experimentierfelder und bilden den Auftakt der Ausstellung in der Schirn. Zu sehen ist eine Auswahl dieser malerisch und stilistisch höchst unterschiedlichen Werkgruppe, die ihre gesamte Entwicklung spiegelt und als fortwährender Akt der künstlerischen Selbstvergewisserung diente. Bereits in dem frühen Selbstbildnis (um 1898) wird ihre zentrale malerische Methode sichtbar: die Nahsicht. Das Bildfeld wird komplett ausgefüllt, indem das Gesicht der Künstlerin nah herangerückt ist. Während ihres zweiten Aufenthalts in Paris 1903 fand Modersohn-Becker in der Frontalität römisch-ägyptischer Mumienporträts im Louvre eine Form der Verallgemeinerung, die in der Verbindung von direkter Nähe und zeitlosen Elementen ihren künstlerischen Bestrebungen entsprach und die sie u.a. in Selbstbildnis mit weißer Perlenkette (1906), Selbstbildnis mit rotem Blütenkranz und Kette (1906/07) oder Selbstbildnis mit Zitrone (1906/07) aufgriff. Auch die pastose Malweise der in der Technik der Enkaustik angefertigten und mit dem Spachtel aufgetragenen antiken Vorbilder prägte Modersohn-Beckers Schaffen. Ab 1898 und vermehrt ab 1902 bevorzugte sie eine besonders matte Tempera, deren Oberfläche sie in einigen Fällen mit dem Pinselstiel bearbeitete. Mehr als die Hälfte ihrer Selbstporträts entstand 1906/07, als sie sich – getrennt von Otto Modersohn – in Paris aufhielt und ihren Weg als Künstlerin suchte. Sieben davon zeigen die Malerin halb oder ganz entkleidet. Eine Sonderrolle nimmt das Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag (1906) ein, der erste bekannte Selbstakt einer Künstlerin und zum Zeitpunkt der Entstehung nicht ausstellbar. Das komplexe Werk liefert zahlreiche Anspielungen auf kunsthistorische Vorläufer und deutet diese zu einer um 1900 äußerst gewagten Selbstdarstellung um. Nackt und mit angedeuteter Schwangerschaft stellt sich Modersohn-Becker selbstbewusst und feminin dar – doppelt potent als Künstlerin und als Frau.

 

Porträts von Familie und Freunden

Paula Modersohn Becker. Bildnis Rainer Maria Rilke (Mai/Juni 1906) © Foto  Diether v Goddenthow
Paula Modersohn Becker. Bildnis Rainer Maria Rilke (Mai/Juni 1906) © Foto Diether v Goddenthow

Neben den Selbstbildnissen zeigt die Ausstellung Porträts von Personen aus dem persönlichen Umfeld der Künstlerin in Worpswede und Paris, u.a. von Otto Modersohn, Rainer Maria Rilke, der zu den wenigen und wichtigen Unterstützern der Künstlerin zu Lebzeiten zählte, von der Bildhauerin Clara Rilke-Westhoff oder der befreundeten Helene Hoetger.

 

Kinderbilder

Paula Modersohn Becker. Brustbild eines Mädchens in der Sonne vor weiter Landschaft (1897)  © Foto  Diether v Goddenthow
Paula Modersohn Becker. Brustbild eines Mädchens in der Sonne vor weiter Landschaft (1897) © Foto Diether v Goddenthow

Viele Figurenbilder von Paula Modersohn-Becker kennzeichnet eine unverwechselbare Mischung aus Nähe und Distanz, aus Naturalismus und Symbolhaftigkeit, mit der diese auf die Ebene des Überzeitlichen und Allgemeingültigen gehoben werden. Diese Darstellungsweise charakterisiert auch ihre einzigartigen Kinderbildnisse sowie ihre Mutter-Kind-Bilder. Mit insgesamt über 400 Arbeiten von meist bäuerlichen Kindern bilden diese im Werk Modersohn-Beckers die größte Gruppe. Die Auswahl an Kindermotiven in der Schirn verdeutlicht, mit welch großer Intensität sich die Künstlerin diesem im späten 19. Jahrhundert besonders beim bürgerlichen Publikum beliebten Sujet widmete. Allerdings verzichtete Paula Modersohn-Becker vollkommen auf die damals übliche idealisierende Darstellung. Ihre Kinder erscheinen als autonome Individuen, fremd und entrückt, in nah herangerückten Bildausschnitten, präsent und intim. In den letzten Jahren ihres Schaffens werden sie zu überzeitlichen Sinnbildern und mit Beigaben wie Früchten und Blumen in phantastischen Bildräumen zu Repräsentanten einer umfassenden Naturmystik. Diese Stilisierung erreicht in Mädchenakt mit Blumenvasen (1906/07), das geprägt ist von Paul Gauguins Tahiti-Motiven, einen Höhepunkt.

 

Mutter und Kind-Darstellungen

Paula Modersohn Becker. Säugling mit der Hand der Mutter (1903). © Foto  Diether v Goddenthow
Paula Modersohn Becker. Säugling mit der Hand der Mutter (1903). © Foto Diether v Goddenthow

In ihren Mutter-Kind-Darstellungen beschäftigte sich Modersohn-Becker mit einem Motiv, das vor ihr kaum systematisch bearbeitet wurde, und entwickelte zahlreiche Varianten. Auf realistische Ausarbeitungen folgte später eine Vereinfachung und Monumentalisierung. Vor dem Hintergrund der Lebensreformbewegung und der auch von der Künstlerin praktizierten Nacktkultur wird der unbekleidete Körper wie in den Selbstbildnissen zum Träger einer pantheistischen und matriarchalen Ideenwelt, die sich wie in Mutter mit Kind auf dem Arm, Halbakt II (Herbst 1906) mit einer ikonenhaften Statuarik verbindet.

 

Paris-Zeichnungen

Paula Modersohn-Becker zeichnete in allen Phasen ihres Schaffens und hinterließ ein umfangreiches grafisches Konvolut. Die teils skizzenhaften Pariser Stadtansichten mit typischen Motiven wie Seine-Brücken, der Kathedrale Notre-Dame und Menschengruppen zeugen von ihrer in jahrelanger Übung erworbenen Routine.

 

Aktdarstellungen

Paula Modersohn Becker. Stehender weiblicher Akt nach halbrechts, auf einen Hocker gestützt (um 1906).  © Foto  Diether v Goddenthow
Paula Modersohn Becker. Stehender weiblicher Akt nach halbrechts, auf einen Hocker gestützt (um 1906). © Foto Diether v Goddenthow

In Paris nahm sie regelmäßig Unterricht im Aktzeichnen an den für Frauen zugänglichen Akademien von Colarossi und Julian. Gegen akademische Konventionen und Restriktionen für Künstlerinnen zeichnete sie häufig unbekleidete Männer wie Frauen, wählte ungewöhnliche Posen und bewies schon in frühen Arbeiten ihren eigenwilligen Blick. Bereits 1898 in Worpswede entstanden die zwei lebensgroßen Akte in Kohle Stehender weiblicher Akt im Profil nach rechts und Stehender männlicher Akt nach links.

 

Bauern und Bäuerinnen in Worpswede

Paula Modersohn Becker. Alte Armenhäuslerin (1905). © Foto Diether v Goddenthow
Paula Modersohn Becker. Alte Armenhäuslerin (1905). © Foto Diether v Goddenthow

Eine Besonderheit in Modersohn-Beckers OEuvre sind die Porträts der Worpsweder Dorfbewohnerinnen und -bewohner, unter denen sich die Künstlerin neben Kindern und Müttern häufig betagte Bäuerinnen und Bauern als Modelle suchte. Anders als die Künstler der 1889 gegründeten Worpsweder Malerkolonie, bestehend aus Fritz Mackensen, Otto Modersohn, Hans am Ende, Carl Vinnen und Heinrich Vogeler, die eine genrehafte Darstellung favorisierten, ließ Modersohn-Becker ländliche Umgebung und Tätigkeiten zugunsten einer zeitlos-symbolischen Darstellung in den Hintergrund treten. Dabei verlieh sie den Porträtierten ein hohes Maß an Würde, ohne Alter, Grobheit und Armut zu verklären. Zwischen 1903 und 1907 entstand die Serie der meist großformatigen Armenhäuslerinnen, die zu ihren monumentalen Hauptwerken zählt. Immer wieder griff sie auf dieselben Personen zurück, insbesondere „Mutter Schröder“ wie in Alte Armenhäuslerin (um 1905) oder Armenhäuserin (1906). Schwer, statisch, zeitlos und mit riesigen Händen erscheint sie wie eine Göttin aus einer fernen vorchristlichen Kultur. Die Schirn zeigt als besondere Leihgabe aus dem Detroit Institute of Arts auch das durch seinen farblich ungewöhnlichen Bildaufbau bemerkenswerte Hauptwerk Alte Bäuerin mit auf der Brust gekreuzten Händen (1907), das fünf Jahre nach Modersohn-Beckers Tod 1912 in der ersten großen Avantgardeausstellung in Deutschland gemeinsam mit Werken von Vincent van Gogh und Paul Gauguin gezeigt wurde.

 

Landschafen

Paula Modersohn Becker Birkenbilder (um 1900)   © Foto:  Heike v Goddenthow
Paula Modersohn Becker Birkenbilder (um 1900) © Foto: Heike v Goddenthow

Neben den figürlichen Darstellungen widmete sich Modersohn-Becker der Landschaftsmalerei und dem Stillleben. In ihrer reduzierten und abstrahierten Auffassung von Landschaft zeigt sich ihr künstlerisches Konzept sowie ihr Mut zum „Ungefälligen“ und „Herben“. Trotz der vernichtenden Kritik des konservativen Malers Arthur Fitger zu ihrer ersten Ausstellung 1899 in der Kunsthalle Bremen, bei der sie unter anderem einige Landschaften präsentierte, setzte Modersohn-Becker ihre Sicht und Malweise unbeirrt fort.

Paula Modersohn Becker. Mond über Landschaft  (1900) © Foto  Diether v Goddenthow
Paula Modersohn Becker. Mond über Landschaft (1900) © Foto Diether v Goddenthow

Während der ersten Ehejahre teilte sie mit Otto Modersohn noch Vorlieben wie die engen Bildausschnitte der Birken im Hochformat, die an japanische Rollbilder erinnern. In der rigorosen Vereinfachung und der kontrastarmen Farbigkeit, die sich besonders in den nächtlichen Mondlandschaften wie Mond über Landschaft (1900) zu fast monochromen Farbflächen steigert, ging sie jedoch weit über zeitgenössische Darstellungen hinaus. So verzichtete sie – anders als Otto Modersohn und Fritz Overbeck in Worpswede oder Walter Leistikow in Berlin – auf sämtliche Details und Binnenstrukturen sowie Lichteffekte und erzielte eine stumpfe Farbigkeit und matte Oberflächen durch die von ihr eingesetzte Temperatechnik.

 

Stilleben

Paula Modersohn Becker. Impression der vorletzten Station: Stillleben. © Foto Diether v Goddenthow
Paula Modersohn Becker. Impression der vorletzten Station: Stillleben. © Foto Diether v Goddenthow

Mit ihren Stillleben, von denen die meisten zwischen 1905 und 1907 entstanden, wandte sich Modersohn-Becker einem bevorzugten Experimentierfeld der Avantgarde von Gustave Courbet, Odilon Redon, Paul Cézanne oder Henri Matisse zu, das in Worpswede nur vereinzelt von Heinrich Vogeler aufgegriffen wurde.

Paula Modersohn Becker. Stillleben mit Goldfischglas“ (1906) © Foto:  Heike v Goddenthow
Paula Modersohn Becker. Stillleben mit Goldfischglas“ (1906) © Foto: Heike v Goddenthow

Wie Cézanne wählte sie ein sich wiederholendes Repertoire von Gegenständen. Doch unterscheiden sich ihre statisch monumentalen Kompositionen wie Stillleben mit Kürbis (um 1905) deutlich durch die dichte materielle Malweise. Als neutrale, unverfängliche Motive zählten sie nach ihrem Tod zu den zunächst am häufigsten gesammelten und ausgestellten Werken.

 

Nahsicht

Eine ungewöhnliche, in der zeitgenössischen Kunst beispiellose Methode entwickelte Paula Modersohn-Becker durch das extreme Heranrücken und den Anschnitt ihrer Bildmotive. Die Ausstellung versammelt Arbeiten wie Hand mit Blumenstrauß (um 1902), Katze in einem Kinderarm (um 1903) oder Kind an der Mutterbrust (um 1904), bei denen diese Nahsicht geradezu an einen fotografischen „Zoom“ erinnert – obwohl die Fotografie um 1900 noch gar nicht so weit entwickelt war –, womit sie einen Effekt von Unmittelbarkeit und zugleich erzählerisches Potenzial entfaltet.

Ausstellungs-Impression Paula Modersohn Becker © Foto Diether v Goddenthow
Ausstellungs-Impression Paula Modersohn Becker © Foto Diether v Goddenthow

KATALOG PAULA MODERSOHN-BECKER herausgegeben von Ingrid Pfeiffer. Mit einem Vorwort von Philipp Demandt sowie Beiträgen von Simone Ewald, Anna Havemann, Inge Herold, Ingrid Pfeiffer, Karin Schick, Rainer Stamm und Wolfgang Werner. Deutsche und englische Ausgabe je 220 Seiten, 180 Abb., 24 × 29 cm, Hardcover, Hirmer Verlag, ISBN 978-3-7774-3722-4 (deutsch), ISBN 978-3-7774-3723-1 (englisch), 35 € (SCHIRN), 45 € (Buchhandel).

BEGLEITHEFT PAULA MODERSOHN-BECKER. Eine Einführung in die Ausstellung, herausgegeben von der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Auf ca. 40 Seiten werden die wichtigsten Arbeiten der Ausstellung vorgestellt und die kulturhistorischen Zusammenhänge dargelegt. Ab 12 Jahren, 7,50 € einzeln, im Klassensatz 1 € pro Heft (ab 15 Stück).

AUDIOGUIDE Zur Ausstellung steht ein kostenloser Audioguide, gesprochen von der Satirikerin, Autorin und Moderatorin Sophie Passmann, zum Download für das eigene Mobiltelefon zur Verfügung. Ab 8. Oktober unter www.schirn.de/audioguide

ORT SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT, Römerberg, 60311 Frankfurt

DAUER 8. Oktober 2021 – 6. Februar 2022

INFORMATION www.schirn.de E-MAIL welcome@schirn.de TELEFON +49.69.29 98 82-0 FAX +49.69.29 98 82-240

EINTRITT 12 €, ermäßigt 10 €; freier Eintritt für Kinder unter 8 Jahren

ONLINE ZEITTICKETS Zeitfenstertickets zur Ausstellung sind im Vorverkauf im Onlineshop erhältlich unter www.schirn.de/tickets

SCHUTZ- UND HYGIENEMASSNAHMEN Um den Ausstellungsbesuch auch während der Corona-Pandemie sicher zu gestalten, wurden in Abstimmung mit den zuständigen Behörden umfassende Schutz- und Hygienemaßnahmen entwickelt. Weitere Informationen unter www.schirn.de/corona

Einfach reinkommen: Inklusive Museumsführungen in sieben Frankfurter Museen

ffm. Menschen mit und ohne Behinderungen machen gemeinsam Führungen in Frankfurter Museen und Kunstinstitutionen. Den Auftakt macht das Museum für Kommunikation am Sonntag, 19. September. Die anderen sechs folgen im wöchentlichen Wechsel. Das Angebot ist für Museumsbesucher mit und ohne Behinderungen. Es ist inklusiv im umfassenden Sinne.

Mit dabei sind das Deutsche Architekturmuseum (25. September), das Weltkulturen Museum (2. Oktober), das Jüdische Museum (3. Oktober), das Museum für Moderne Kunst (17. Oktober), die Schirn Kunsthalle (23. Oktober) sowie das Historische Museum (30. Oktober).

„Kulturelle Teilhabe und vor allem Partizipation sind wichtig für eine funktionierende Gesellschaft. Das soll möglichst alle Menschen einschließen, daher finde ich die Idee der inklusiven Führungen per se fabelhaft. Menschen mit und ohne Behinderungen beschäftigen sich mit Kunst und eröffnen den jeweils anderen eine neue Perspektive auf die Objekte und vielleicht sogar die Welt“, sagt Kultur- und Wissenschaftsdezernentin Ina Hartwig.

Die beteiligten Kulturinstitutionen kooperieren bei diesem Projekt mit der Lebenshilfe Frankfurt. Gemachte Vorerfahrungen durch ein Projekt der Praunheimer Werkstätten im Jahr 2018 halfen bei der Vorbereitung. Gemeinsam haben sowohl die Vermittler aus den Museen, als auch die Neueinsteiger aus der Werkstatt ihre Expertise ausgeweitet. Wie spreche ich die Besucher an? Wie erarbeite ich mir den Zugang zu Ausstellungsstücken? Wie vermittele ich die Inhalte an die Besucher? All das haben sie bei den Workshops gemeinsam erarbeitet. Gefördert wird das Projekt durch die Aktion Mensch.

Die Workshops fanden online, bei der Lebenshilfe Frankfurt auf Gut Hausen und im Jüdischen Museum statt. Zusätzlich arbeiten alle Teams in den jeweiligen Museen. Dabei bekommen die Teilnehmenden auch Einblicke hinter die Kulissen des Museums. Durch dieses selbstverständliche Ein- und Ausgehen verschwinden Zugangshemmnisse ganz von selbst. „Kultur für alle“ gewinnt, wenn auch wirklich alle in die Konzeption und Präsentation eingeschlossen sind – das haben alle am Projekt Beteiligten schon vor der Eröffnung mitgenommen.

Welche Wirkungen dieser partizipative Ansatz für das Museumserlebnis mit sich bringt, können Kulturinteressierte bei #einfachreinkommen selbst ausprobieren.

Interessierte melden sich bei der Lebenshilfe Frankfurt bei Maria Hauf unter Telefon 0176/14498288 oder per E-Mail an m.hauf@lebenshilfe-ffm.de.

Neuausrichtung der Schirn Kunsthalle Frankfurt – Veranstaltungsprogramm Oktober 2021

Mit einer umfassenden Retrospektive beleuchtet die Schirn, wie Paula Modersohn-Becker zentrale Tendenzen der Moderne vorwegnahm.  © Foto Diether v Goddenthow
Mit einer umfassenden Retrospektive beleuchtet die Schirn, wie Paula Modersohn-Becker zentrale Tendenzen der Moderne vorwegnahm. © Foto Diether v Goddenthow

ffm. Schirn-Aufsichtsratsvorsitzender Oberbürgermeister Peter Feldmann zeigt sich erfreut, dass Kulturdezernentin Ina Hartwig und Philipp Demandt – der in Personalunion Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt, des Städel Museums und der Liebieghaus Skulpturensammlung ist – übereingekommen sind, die Schirn ab Mitte kommenden Jahres neu auszurichten. Im Zuge dessen soll die in den vergangenen fünf Jahren von Demandt erfolgreich geführte Ausstellungshalle wieder in struktureller und inhaltlicher Eigenständigkeit gestärkt und mit einer eigenen Leitung versehen werden. Demandt wird als Schirn-Direktor diesen Übergang mit einer vertraglichen Verlängerung bis Ende Juni 2022 begleiten, vorbehaltlich einer entsprechenden Zustimmung durch den Magistrat am Freitag, 17. September.

Oberbürgermeister Feldmann sagt: „Die Schirn ist immer anders und überraschend – die Ausstellungen machen weltweit Furore. Mit Philipp Demandt wird die Neuausrichtung nicht nur ein Kenner des Hauses, sondern auch der internationalen Kunstszene und ihrer Verbindungen begleiten. Das freut mich sehr und ich bin sicher, dass die Schirn nach diesem Prozess ihre Strahlkraft nochmals vergrößern wird.“

Kultur- und Wissenschaftsdezernentin Hartwig führt aus: „Die Schirn Kunsthalle Frankfurt soll neu ausgerichtet werden und im Kontext eines Clusters Moderne und Gegenwart an inhaltlicher und struktureller Eigenständigkeit gewinnen. Philipp Demandt gilt für seine erfolgreiche Arbeit als Direktor der Schirn mein größter Dank. Er hat in den vergangenen fünf Jahren mit einem international ausgerichteten, diskursiven und diversen Programm die Schirn ganz maßgeblich in ihrer Bedeutung als einer der wichtigsten Kunsthallen dieses Landes weiterentwickelt. Ich bin Philipp Demandt ausgesprochen dankbar, dass er die bevorstehende Phase des Übergangs begleiten wird. Als Direktor des Städel Museums und der Liebieghaus Skulpturensammlung bleibt er der Stadt Frankfurt am Main verbunden und wird mit seiner Handschrift den Kulturstandort Frankfurt weiter prägen.“

Schirn-Direktor Demandt sagt: „Die Schirn hat sich den Ruf als einer der bedeutendsten Kunsthallen Europas erworben, die mit wegweisenden Ausstellungen ein großes Publikum erreicht. Rund 300 Künstlerinnen und Künstler aus zwei Jahrhunderten und über 40 Nationen haben wir allein in den vergangenen fünf Jahren in Frankfurt präsentiert – ein in Deutschland wohl einzigartiger Wert. Angesichts der großen Pläne am Städel Museum und der Liebieghaus Skulpturensammlung in den kommenden Jahren werde ich mich auf die Leitung dieser beiden Häuser fokussieren; zugleich unterstütze ich Kulturdezernentin Ina Hartwig in ihrem Wunsch, die Schirn zukünftig wieder eigenständiger zu denken. Auch in veränderten Konstellationen kann sich die Schirn der vollumfänglichen Unterstützung durch das Städel Museum und seinen Direktor sicher sein.“

Die Schirn Kunsthalle Frankfurt wurde 1986 eröffnet, und hat bislang auf rund 2000 Quadratmetern mehr als 250 Ausstellungen präsentiert, die von mehr als 9,5 Millionen Besucherinnen und Besuchern gesehen wurden. Unter der Führung von Philipp Demandt gehörten Ausstellungen wie „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Frida Kahlo bis Louise Bourgeois“, „Magritte. Verrat der Bilder“ und „Basquiat. Boom for Real“ zu Publikumsmagneten. Auch Ausstellungen wie „Ramin Haerizadeh, Rokni Haerizadeh und Hesam Rahmanian“, „Big Orchestra“, „Power to the People. Politische Kunst jetzt“ oder zuletzt „Magnetic North. Mythos Kanada in der Malerei 1910 – 1940“ und „Gilbert & George. The Great Exhibition“ erzielten in Deutschland und international beachtliche Wirkung. Einen besonderen Fokus legte Demandt auf die Erweiterung des kunsthistorischen Kanons sowie auf die Arbeit von Künstlerinnen, etwa mit den Soloausstellungen zu „Lee Krasner“ oder „Hannah Ryggen“.

Oberbürgermeister Feldmann ergänzt: „Philipp Demandt hat die Sanierung der Schirn im Jahr 2018 zusammen mit dem Dezernat Kultur und Wissenschaft maßgeblich vorangetrieben. So konnten in weniger als vier Monaten erhebliche Sanierungsmaßnahmen umgesetzt werden.“ Mit zahlreichen neuen Angeboten und digitalen Initiativen habe die Bildungs- und Vermittlungsarbeit unter Philipp Demandts Führung weiter ausgebaut und gestärkt werden können.

Veranstaltungsprogramm Schirn Kunsthalle Frankfurt Oktober 2021

Die Schirn widmet sich ab dem 8. Oktober dem Gesamtwerk Paula Modersohn-Beckers (1876–1907) und zeigt in einer umfassenden Retrospektive, wie die Künstlerin zentrale Tendenzen der Moderne vorwegnahm. Die Ausstellung versammelt 116 Gemälde und Zeichnungen aus allen Schaffensphasen und präsentiert einen aktuellen Blick auf das Werk dieser frühen Vertreterin der Avantgarde, die sich entschieden über gesellschaftliche und künstlerische Konventionen ihrer Zeit hinwegsetzte. In der nach prägnanten Serien und Bildmotiven gegliederten Präsentation stehen insbesondere auch Modersohn-Beckers außergewöhnlicher Malduktus und ihre künstlerischen Methoden im Fokus, die zu einer vielfältigen Rezeption ihres Schaffens beitrugen.

Begleitend zur Ausstellung findet am Dienstag, dem 19. Oktober um 19 Uhr eine Lesung aus dem Briefwechsel zwischen Paula Modersohn-Becker und Otto Modersohn mit der Schauspielerin Verena Güntner und dem Schauspieler Robert Levin statt.

Vom 19. bis 22. Oktober bietet die Schirn ein Herbstferienprogramm für Kinder und Jugendliche von 6 bis 12 Jahren an. An jeweils zwei Tagen entstehen nach dem Besuch der Ausstellung und inspiriert von Paula Modersohn-Beckers Porträts eigene gemalte, gezeichnete oder fotografierte Selbstdarstellungen.

In der Ausstellung „Paula Modersohn-Becker“ finden ab dem 8. Oktober jeweils mittwochs um 19 Uhr, donnerstags um 20 Uhr und samstags um 17 Uhr einstündige Überblicksführungen statt.

Mit der Ausstellung „Kara Walker. A Black Hole is Everything a Star Longs to be“ präsentiert die Schirn ab dem 15. Oktober eine der profiliertesten US-amerikanischen Künstlerinnen der Gegenwart. Für die Ausstellung öffnet Kara Walker erstmals ihr umfassendes zeichnerisches Archiv und zeigt über 650 Arbeiten sowie eine Auswahl ihrer Filme, mit denen sie provokativ und eindrücklich Rassismus, Sexualität, Unterdrückung und Gewalt in den Fokus nimmt. Unerbittlich rüttelt Walker an Geschichtsbildern und bezieht sich dabei immer wieder auf historische wie aktuelle Ereignisse und Themen – vom transatlantischen Menschenhandel bis zur Präsidentschaft von Barack Obama.

Bei einem Artist Talk spricht Künstlerin Kara Walker am Samstag, dem 16. Oktober um 19 Uhr mit Yasmil Raymond, Kuratorin für Bildende Kunst und Rektorin der Städelschule in Frankfurt, über Werke und Konzeption der Ausstellung.

An den Donnerstagen, 21. und 28. Oktober finden jeweils um 19.30 Uhr die ersten zwei Ausgaben der von Filmregisseur Oliver Hardt kuratierten 4-teiligen Filmreihe „Schwarz ist keine Farbe I Black is not a Colour“ statt, die sich multiperspektivisch mit den vielfältigen Lebensrealitäten von BPoC in Deutschland beschäftigt. Zu den Filmen diskutiert Oliver Hardt mit von ihm geladenen Gästen.

Einstündige Überblicksführungen durch die Ausstellung „Kara Walker. A Black Hole is Everything a Star Longs to be“ können ab dem 15. Oktober jeweils mittwochs um 20 Uhr, donnerstags um 19 Uhr und samstags um 16 Uhr besucht werden.

Das gesamte Veranstaltungsprogramm für Oktober 2021 können Sie als PDF-Dokument hier öffnen.

Aktuelle Informationen zu möglichen Änderungen aufgrund der Corona-Pandemie sowie Hygiene- und Verhaltensregelungen unter www.schirn.de/corona.

SCHIRN KUNST­HALLE FRANK­FURT am Main GmbH
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Schirn Kunsthalle Frankfurt: MAGNETIC NORTH MYTHOS KANADA IN DER MALEREI 1910–1940 bis Ende August verlängertust ver

© Foto Diether v. Goddenthow
© Foto Diether v. Goddenthow

Uralte Wälder in entlegenen Regionen, majestätische Ansichten der Arktis, die Magie der Nordlichter: Die Malerei der kanadischen Moderne entwirft ein mythisches, ein imaginäres Kanada. Voller bildnerischer Experimentierfreude reisten Anfang des 20. Jahrhunderts Künstlerinnen und Künstler wie Franklin Carmichael, Emily Carr, J. E. H. MacDonald, Lawren Harris, Edwin Holgate, Arthur Lismer, Tom Thomson oder F. H. Varley aus den Städten tief hinein in die Natur, auf der Suche nach einem neuen malerischen Vokabular für die kulturelle Identität der jungen Nation. Die Schirn Kunsthalle Frankfurt präsentiert in der Ausstellung „Magnetic North. Mythos Kanada in der Malerei 1910–1940“ die Malerei der kanadischen Moderne aus aktueller Perspektive. Die umfassende Präsentation beleuchtet mit rund 90 Gemälden und Skizzen sowie Videoarbeiten und dokumentarischem Material die in Kanada überaus populären Werke der Künstlerinnen und Künstler rund um die sogenannte Group of Seven aus Toronto. Erstmals in Deutschland sind Hauptwerke aus den großen Sammlungen Kanadas zu sehen, darunter Mt. Lefroy (1930) von Lawren Harris, Terre Sauvage (1913) von A. Y. Jackson oder The West Wind (Winter 1916/17) von Tom Thomson. Gleichzeitig unterzieht die Ausstellung die Malerei der kanadischen Moderne einer kritischen Revision. Von etwa 1910 bis in die späten 1930-Jahre malte die Group of Seven Landschaftsbilder, die für viele bis heute den Inbegriff Kanadas darstellen. Das erst 1867 zu einem mehr oder weniger unabhängigen Staat gewordene Land gründet auf einer langen Kolonialgeschichte. Bevor die ersten Siedler aus Europa kamen, war es bereits über Jahrtausende das Territorium Indigener Völker. Mit Bildern von erhabenen Gebirgen und einer unversehrten Natur schuf die Group of Seven die romantische Vision eines vorindustriellen Rückzugsortes und stilisierte das Land zur terra nullius, einer vermeintlich unbewohnten Wildnis. Ihre Werke zeichnen eine überwältigende Landschaft jenseits der Realität der Indigenen Bevölkerung und des modernen Stadtlebens sowie der expandierenden industriellen Nutzung der Natur. Die Malerei der Group of Seven ist also nicht zuletzt Produkt und zugleich Zeugnis kultureller Hegemonie sowie des Ausschlusses der First Nations. In der Ausstellung eröffnen filmische Werke, u. a. der Algonquin-französischen Künstlerin Caroline Monnet und der Anishinaabe-Filmemacherin Lisa Jackson, eine Gegenerzählung. Indigene Kritik wird einbezogen und Fragen zur nationalen Identitätsbildung sowie zu einem bewussten Umgang mit dem Land gestellt.

Parallel präsentiert die Schirn in ihrer öffentlich zugänglichen Rotunde die Ausstellung „Caroline Monnet. Transatlantic“ (10. Februar – 5. September 2021).

Die Ausstellung „Magnetic North. Mythos Kanada in der Malerei 1910–1940“ wird gefördert durch die Regierung von Kanada im Rahmen von Kanadas Ehrengastauftritt auf der Frankfurter Buchmesse 2020/21 und den Verein der Freunde der Schirn Kunsthalle e. V.

Impressionen  der Sonderausstellung MAGNETIC NORTH MYTHOS KANADA IN DER MALEREI 1910–1940. Schirn Kunsthalle Frankfurt bis zum  29. AUGUST 2021 © Foto Diether v. Goddenthow
Impressionen der Sonderausstellung MAGNETIC NORTH MYTHOS KANADA IN DER MALEREI 1910–1940. Schirn Kunsthalle Frankfurt bis zum 29. AUGUST 2021 © Foto Diether v. Goddenthow

Dr. Philipp Demandt, Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt: „Die Ausstellung ‚Magnetic North‘ ist das Ergebnis einer besonderen internationalen Partnerschaft dreier großer Kulturinstitutionen. Unseren Besucherinnen und Besuchern zeigen wir – sobald wir die Schirn wieder öffnen können – die Ikonen der kanadischen Moderne schlechthin, und das erstmals in Deutschland. Es sind Gemälde, die vielfach reproduziert wurden und bis heute das Bild prägen, das man sich von Kanada macht. Diese großartige Malerei weist aber eine Leerstelle auf: die der First Nations. Es war uns daher wichtig, die aktuelle Auseinandersetzung mit der populären Group of Seven sichtbar zu machen und Indigene Perspektiven in die Präsentation zu integrieren.“

„Die Künstlerinnen und Künstler aus dem Umfeld der Group of Seven schufen eine Bildsprache, die für die weitere Entwicklung der kanadischen Malerei wegweisend war. Durch kühne Kompositionen, eine expressive Pinselführung und kraftvolle Farben hoben sich ihre Werke vom damals in Toronto beliebten akademischen Stil ab. Mit der Idee, eine genuin kanadische Kunst zu schaffen, fanden sie ein neues Künstlerbild, ein neues malerisches Vokabular. Doch fehlte ihnen das Bewusstsein für den kolonialen Blick, der ihren Bildern eingeschrieben ist. Ihre künstlerische Suche nach einer visuellen Repräsentation Kanadas schloss zugleich die First Nations aus. Dieses Wechselverhältnis beleuchtet die Ausstellung, indem sie filmische Arbeiten ins Zentrum stellt, die diesen Prozess kritisch befragen und eine aktuelle Perspektive geben“, erläutern die Kuratorinnen der Ausstellung, Dr. Martina Weinhart, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Georgiana Uhlyarik, Art Gallery of Ontario, Toronto, und Katerina Atanassova, National Gallery of Canada, Ottawa.

THEMEN UND WERKE DER AUSSTELLUNG

Impressionen  der Sonderausstellung MAGNETIC NORTH MYTHOS KANADA IN DER MALEREI 1910–1940. Schirn Kunsthalle Frankfurt bis zum  29. AUGUST 2021 © Foto Diether v. Goddenthow
Impressionen der Sonderausstellung MAGNETIC NORTH MYTHOS KANADA IN DER MALEREI 1910–1940. Schirn Kunsthalle Frankfurt bis zum 29. AUGUST 2021 © Foto Diether v. Goddenthow

Die Künstlerinnen und Künstler der kanadischen Moderne vereinte das Ziel, die Schönheit, die Erhabenheit und auch das Pittoreske des Landes ins Bild zu setzen, um die junge Nation in der Ausformung einer verbindenden Identität zu bestärken. Mit ihrer Malerei wollten sie die künstlerische Unabhängigkeit von Europa erklären und eine eigene nationale Schule der Landschaftsmalerei begründen. Sie strebten nach Authentizität und malerischen Experimenten, um ein neues, spezifisch kanadisches Bildvokabular zu entwickeln. Maßgeblichen Einfluss hatten auch der Philosoph Ralph Waldo Emerson sowie Henry David Thoreau, welcher in der Publikation Walden seine Ideen formulierte, das Leben fern der Hektik und Geschäftigkeit des Industriezeitalters in der Natur zu verbringen. Im Mai 1920 schlossen sich in Toronto Künstler wie Lawren Harris, Franklin Carmichael, F. H. Varley und J. E. H. MacDonald zur Group of Seven zusammen. Sie unternahmen Reisen in die Region Algoma in Northern Ontario, später auch am Nordufer des Lake Superior entlang oder auch bis in die Arktis. Mit dem Zug oder dem Kanu erreichten sie entlegene Orte, malten unter freiem Himmel, zelteten oder lebten in einem umgebauten Güterwagen. Als Vorreiter dieses neuen, kanadischen Künstlertypus und der unkonventionellen Art von Landschaftsmalerei gilt der Maler Tom Thomson, der auch als Fire Ranger und Guide im Algonquin Park nordöstlich von Toronto arbeitete und seine Künstlerfreunde zum Malen in der Natur anregte. Die Schirn zeigt u. a. eine Auswahl seiner virtuosen Ölskizzen.

Die ausgedehnten Wälder Ontarios mit ihrem charakteristischen Spiel von Licht und Schatten und den Färbungen der Jahreszeiten boten vielfältige Inspiration. In vereinfachten Formen und kraftvollen Farben schilderten die Künstler die Vielfalt der Bäume in der Tiefe des dichten Waldes, etwa in Franklin Carmichaels Autumn Hillside (1920), A. Y. Jacksons Lake Superior Country (1924) oder Tom Thomsons Autumn’s Garland (Winter 1915/16). Auch die Künstlerin Emily Carr, die 1927 mit der Gruppe in Kontakt trat, schuf zahlreiche Walddarstellungen wie Wood Interior (1929/30), die von tiefer Spiritualität und Verbundenheit mit der Natur geprägt sind. Der einsam aus dem Fels wachsende Baum ist ein weiteres, zentrales Motiv dieser Künstler. Die Schirn zeigt mit The West Wind (1916/17) ein bedeutendes Spätwerk von Tom Thomson sowie ähnliche Darstellungen von Arthur Lismer oder Franklin Carmichael. Die romantische Vorstellung des einsamen Baumes wurzelt in einer langen europäischen Tradition und wurde im Kanada der 1910er- und 1920er-Jahre zum Sinnbild einer jungen Nation, die im Begriff war, ihre eigene kulturelle Identität zu finden. Thomsons stilisierte Darstellung einer Kiefer, die sich robust und standfest im Wind neigt, ohne zu brechen, wurde vielfach reproduziert. Die Group of Seven wollte mit ihren Bildern ein größtmögliches Publikum erreichen und veranstaltete zu diesem Zweck auch gemeinsame Ausstellungen in Kanada sowie in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien und Frankreich. Die Ästhetik der Künstlergruppe kennzeichnet Plakativität und eine unmittelbare Wirkung. Ansonsten sind ihre Werke eher durch Ziele, Ideale, Themen und Motive verbunden als durch einen einheitlichen Stil. Auch wenn sie sich von der europäischen Moderne absetzen wollten, weisen ihren Werke Bezüge zum Postimpressionismus, Jugendstil oder Expressionismus aber auch zur Romantik auf.

Zentral für eine Vorstellung von kanadischer Identität ist die Idee des Nordens, die analog zu der des „Wilden Westens“ in den USA entwickelt wurde. Historisch fußt sie auf der Faszination für die entlegenen Regionen des Landes, motivisch wird sie vor allem durch die Wildnis und die Arktis bestimmt. Lawren Harris, der als führendes Mitglied der Group of Seven die kanadische Landschaftsmalerei maßgeblich prägte, hob in seinen Schriften wiederholt die Kraft des Nordens und seine Inspiration für die kanadischen Künstler hervor. Sein Werk ist von einer mystischen Naturverbundenheit geprägt; seine Gemälde kennzeichnet eine radikale Malweise mit reduzierten Formen und flächigem Farbauftrag, wie etwa in Above Lake Superior (um 1922) und Lake Superior (um 1924). Etwa 1930 entstanden eindrucksvolle Ansichten der Arktis wie Icebergs, Davis Strait (1930). Anderen Künstlern der Gruppe boten die Nordlichter Inspiration für künstlerische Experimente, die Schirn zeigt etwa A. Y. Jacksons Aurora (1927) oder J. E. H. MacDonald Northern Lights (1915/16). In der Ideenwelt der Group of Seven wird dem Norden die Wildnis als Möglichkeitsraum und künstlerischer Erfahrungsraum an die Seite gestellt. Erst unter dem Einfluss der Industrialisierung wurde die Wildnis, welche in der westlichen Vorstellung zuvor als unheilbringend und gefährlich galt, zu einem Sehnsuchts- und Rückzugsort stilisiert. Die Idee der Wildnis als Gegenbild zur Zivilisation findet sich auch in den menschenleeren und stimmungsvollen Landschaftsdarstellungen der Group of Seven. Eines der bekanntesten Bilder, welches bereits in seinem Titel eine Wildnis reklamiert, ist A. Y. Jacksons Terre sauvage (1913). Die ästhetisch geordnete „Landschaft“, die erhaben, pittoresk oder romantisch sein kann, ist im Kern ein europäischer Begriff. Das gilt ebenso für die Vorstellungen, Land zu besitzen oder zu beherrschen. Dem entgegen stehen Indigene Weltanschauungen von einer untrennbaren Verbundenheit mit dem Land sowie einer Verwandtschaft mit ihm und allen nichtmenschlichen Wesen.

Seit den 1960er-Jahren werden die Gemälde der Group of Seven zunehmend kritisch gesehen. Im Zuge der Dekolonisation lehnen die First Nations die Darstellung von Kanada als unberührtem Land und die Aneignung ihrer Kultur durch nichtindigene Künstler ab. Auch die Geschichte Indigener Völker in den Gebieten, die heute Kanada heißen, wurde lange überwiegend aus einem kolonialen Blickwinkel erzählt, was sich zunehmend ändert. Die Ausstellung vollzieht diese Entwicklung der Verschiebung der Erzählperspektive nach. Am Beispiel der Hafensiedlung Ba’as in British Columbia, auch Blunden Harbour genannt, wird in der Schirn der Wandel von Darstellung und Repräsentation der First Nations anhand unterschiedlicher filmischer Werke von 1914 bis 2013 verdeutlicht. Ba’as war Heimat einer Kwakwaka’wakw-Gemeinschaft, welche 1964 zwangsumgesiedelt wurde. In ihren frühen Werken hatte sich Emily Carr als Einzige im künstlerischen Umfeld der Group of Seven der Indigenen Kunst und Kultur gewidmet. Die Schirn zeigt ihr Gemälde Blunden Harbour (um 1930), eine berühmte, stilisierte Darstellung der hölzernen Totemfiguren der Gemeinschaft. Auch der Stummfilm In the Land of the Head Hunters (In the Land of the War Canoes, 1914) wurde hier gedreht. Er wird heute kritisch betrachtet, da er die Kultur der Kwakwaka’wakw einem stereotypisierenden Drehbuch unterordnete. Doch gilt das Projekt des weißen Fotografen und Filmemachers Edward S. Curtis unter Beratung des Indigenen George Hunt als erster Film, der ausschließlich mit Indigenen Schauspielerinnen und Schauspielern besetzt wurde. In der fiktiven Handlung werden zudem kulturelle Sitten und rituelle Bräuche der Gemeinschaft, die zur Entstehungszeit des Films durch die restriktiven Gesetze des Indian Act verboten waren, inszeniert und somit festgehalten. Der dokumentarische Film Blunden Harbour (1951) des Anthropologen und Filmemachers Robert Gardner schildert den Alltag der Kwakwaka’wakw. Eine aktuelle Perspektive gibt How a People Live (2013), für den die Gwa’sala-‘Nakwaxda’xw First Nations die Anishinaabe-Filmemacherin Lisa Jackson beauftragten. Anhand von Interviews und historischem Filmmaterial dokumentiert und begleitet Jackson die Geschichte und die Folgen der traumatischen Umsiedelung der Gemeinschaft. Die Schirn zeigt zudem auch die Filmcollage Mobilize (2015) der Algonquin-französischen Künstlerin Caroline Monnet, welche mit Archivmaterial des National Film Board arbeitet und Fragen von Identität und Indigener Repräsentation aufwirft.

Auch die Ausbeutung der Natur Kanadas als wirtschaftliche Ressource fand eher selten Eingang in die Werke der Group of Seven, die vor allem die Schönheit der Natur darstellten. Bereits in den 1920er- und 1930er-Jahren wurden weite Teile Kanadas forstwirtschaftlich genutzt, und die Papier- und Zelluloseproduktion boomte, wie der 1935 von der kanadischen Regierung in Auftrag gegebene Promotionsfilm Big Timber verdeutlicht. In diesem Kontext zeigt die Schirn Skizzen von Tom Thomson sowie Gemälde von Arthur Lismer oder Mary Wrinch, die Sägewerke, Stämme gefällter Bäume und deren Flößen schildern. Emily Carr widmete sich mit Reforestation (1936) auch der Wiederaufforstung. Zudem leitete der Bergbau Anfang des 20. Jahrhunderts in Kanada den Wandel von einer Agrar- zu einer Industrienation ein. Der Abbau der Bodenschätze ging mit mit Profitgier, Konflikten und Umweltzerstörung einher und führte zur weiteren Verdrängung und Umsiedelung Indigener Gemeinschaften von ihrem angestammten Land. Einige Künstler wie Yvonne McKague Housser, Franklin Carmichael oder Lawren Harris unternahmen Reisen in die Bergbaustädte in Northern Ontario und malten dort. Doch wie die Bilder der Natur, der Berge und der Wälder sind auch die industrialisierten Landschaften der Group of Seven meist menschenleer.
Eine Ausstellung der SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT, der Art Gallery of Ontario und der National Gallery of Canada.

CAROLINE MONNET. TRANSATLANTIC Parallel zur Ausstellung

Caroline Monnet Mobilize, 2015 Einkanal Video, Farbe, Ton. Die kurze Filmcollage ist ein Zusammenschnitt aus den Beständen des Archivs des National Film Board. Die 1939 gegründete staatliche Filmbehörde Kanadas hat die Aufgabe, Projekte zu fördern, die der Kultur und Gesellschaft des Landes Ausdruck geben. © Foto Diether v. Goddenthow
Caroline Monnet Mobilize, 2015 Einkanal Video, Farbe, Ton. Die kurze Filmcollage ist ein Zusammenschnitt aus den Beständen des Archivs des National Film Board. Die 1939 gegründete staatliche Filmbehörde Kanadas hat die Aufgabe, Projekte zu fördern, die der Kultur und Gesellschaft des Landes Ausdruck geben. © Foto Diether v. Goddenthow

„Magnetic North“ präsentiert die Schirn in ihrer öffentlich zugänglichen Rotunde die Ausstellung „Caroline Monnet. Transatlantic“ (10. Februar – 5. September 2021), welche die 22-tägige Reise der Künstlerin auf einem Frachtschiff von Europa nach Kanada dokumentiert. Die immersive Installation beleuchtet auch Auswirkungen der kolonialen Geschichte zwischen Europa und Nordamerika sowie von Handel und Migration.
Die Ausstellung „Caroline Monnet. Transatlantic“ wird unterstützt durch die Botschaft von Kanada als Teil von Kanadas Kulturprogramm als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2020/21 und die SCHIRN ZEITGENOSSEN.

KATALOG MAGNETIC NORTH. MYTHOS KANADA IN DER MALEREI 1910–1940, herausgegeben von Martina Weinhart mit Georgiana Uhlyarik, mit Beiträgen von Renée van der Avoird, Rebecca Herlemann, Ruth Phillips, Carmen Robertson, Jeff Thomas, Georgiana Uhlyarik und Martina Weinhart, Interviews mit Lisa Jackson, Colleen Hemphill und Caroline Monnet sowie einem Vorwort der Direktoren der Art Gallery of Ontario, National Gallery of Canada und Schirn Kunsthalle Frankfurt. Deutsche und englische Ausgaben je 240 Seiten, 140 Abb., 27,5 × 23,5 cm, Hardcover, Prestel Verlag, ISBN 978-3-7913-5993-9, 35 € (SCHIRN), 49 € (Buchhandel).

DIGITORIAL® Zur Ausstellung bietet die Schirn ein Digitorial® an. Das kostenfreie digitale Vermittlungsangebot ist in deutscher und englischer Sprache abrufbar unter www.schirn.de/digitorial.

BEGLEITHEFT Magnetic North. Eine Einführung in die Ausstellung, herausgegeben von der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Auf ca. 40 Seiten werden die wichtigsten Arbeiten der Ausstellung vorgestellt und die kulturhistorischen Zusammenhänge dargelegt. Ab 12 Jahren, 7,50 € einzeln, im Klassensatz 1 € pro Heft (ab 15 Stück).

Weitere Informationen Schirn Kunsthalle Frankfurt

Die Ausstellungen in der Schirn Kunsthalle Frankfurt wurden nach Wiedereröffnung verlängert

© Schirn Kunsthalle Frankfurt
© Schirn Kunsthalle Frankfurt

In der Schirn Kunsthalle Frankfurt wurden die bislang nur wenige Tage geöffneten Ausstellungen verlängert und sind wieder zu sehen: „Magnetic North. Mythos Kanada in der Malerei 1910-1940“ (verlängert bis 29. August 2021) und „GILBERT & GEORGE. THE GREAT EXHIBITION“ (verlängert bis 5. September 2021). Zudem wird in der öffentlich zugänglichen Rotunde die Installation „Caroline Monnet. Transatlantic“ (verlängert bis 5. September 2021) gezeigt.

Neben der Sammlung präsentiert das Städel Museum die Sonderausstellung „Städels Beckmann / Beckmanns Städel. Die Jahre in Frankfurt“ (verlängert bis 29. August 2021). Ab dem 30. Juni ist zudem die Ausstellung „Neu Sehen. Die Fotografie der 20er und 30er Jahre“ (bis 24. Oktober 2021) erstmals für die Besucherinnen und Besucher geöffnet.

SCHIRN KUNST­HALLE FRANK­FURT
Römer­berg
D-60311 Frank­furt am Main
welcome@​SCHIRN.​de

WE NEVER SLEEP – Die Faszination für Spionage als Quelle künstlerischer Inspiration in der Gegenwartskunst – Große Ausstellung ab 24.09.2020 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt

© Foto: Diether v. Goddenthow
© Foto: Diether v. Goddenthow

Die Schirn Kunsthalle Frankfurt widmet vom 24. September 2020 bis 10. Januar 2021 der Faszination für die Spionage eine internationale Gruppenausstellung und beleuchtet sie als aktuelle Quelle künstlerischer Inspiration. So glamourös Spioninnen und Spione in der Populärkultur bis heute oft präsentiert werden, so gesellschaftlich brisant sind ihre in verdeckten Aktionen gewonnenen Informationen. Beim Spionieren geht es um die unberechtigte Beschaffung geheimen Wissens oder vertraulicher Angaben. Wurden in der Vergangenheit Einzelpersonen oder Staaten durch Regierungen ausgespäht, machen in Zeiten der digitalen Kommunikation Bürger Staatsgeheimnisse öffentlich oder Whistleblower prangern das Ausspionieren der Bevölkerung durch die eigene Regierung an. Heute stehen der vermeintlichen Offenheit und Transparenz moderner Staaten neue Mechanismen der Überwachung, Manipulation und Spionage gegenüber. Digitale Netzwerke und Technologien sowie die bereitwillige Preisgabe persönlicher Daten öffnen ungeahnte Möglichkeiten, Informationen einzuholen und zu verbreiten. Vor diesem Hintergrund erwacht ein neues Interesse an den Strategien der Geheimhaltung.

Ausstellungs-Impression We-never-sleep. © Foto: Diether v. Goddenthow
Ausstellungs-Impression We-never-sleep. © Foto: Diether v. Goddenthow

Die Ausstellung präsentiert Werke von 40 Künstlerinnen und Künstlern, darunter Simon Denny, Thomas Demand, Stan Douglas, Dora García, Rodney Graham, Gabriel Lester, Jill Magid, Metahaven, Henrike Naumann, Trevor Paglen, Cornelia Schleime, Noam Toran, Suzanne Treister sowie Nomeda & Gediminas Urbonas. Rund 70 Gemälde, Fotografien, Videoarbeiten, Skulpturen und Installationen behandeln Aspekte der Spionage wie Überwachung, Paranoia, Verschwörungstheorie, Bedrohung und Tarnung, Kryptografie, Manipulation oder Propaganda aus einer zeitgenössischen Perspektive. Mit einer Vielzahl künstlerischer Strategien wird in der Schirn der Höhepunkt der Spionage während des Kalten Krieges genauso sichtbar wie die aktuelle Verhandlung der medialen Durchleuchtung. Neue und bereits existierende Arbeiten sowie erstaunliche Objekte finden auf unorthodoxe Weise Eingang in die Präsentation und beleuchten die Welt der Spionage zwischen Wirklichkeit und Fiktion.

Historische Apparaturen wie die Verschlüsselungsmaschine Enigma gewähren Einblicke in die Realität von Überwachung und Geheimhaltung.© Foto: Diether v. Goddenthow
Historische Apparaturen wie die Verschlüsselungsmaschine Enigma gewähren Einblicke in die Realität von Überwachung und Geheimhaltung.© Foto: Diether v. Goddenthow

Historische Apparaturen wie die Verschlüsselungsmaschine Enigma gewähren Einblicke in die Realität von Überwachung und Geheimhaltung. Parallel dazu zeichnet die Populärkultur ein glanzvolles Bild, das den Mythos des Spions zwischen Helden- und Schattengestalt prägt und das Publikum bis heute begeistert. Bereits im 19. Jahrhundert etablierten sich Agentenromane als eigene Erzählgattung und auch die Filmgeschichte hat viel zur Popularität des Themas beigetragen. Ausgewählte Buchcover, Kinoplakate und Filmauszüge zeigen in der Ausstellung, wie sich die Unterhaltungsbranche von der Spionagerealität anregen ließ. So verweist auch der Titel der Ausstellung „We Never Sleep“ auf das Bild des stets wachsamen Spions, der – immer in Bewegung – seine Identitäten wechseln und im Verdeckten agieren muss.

Die Ausstellung „We Never Sleep“ wird gefördert durch die Stadt Frankfurt am Main sowie den Verein der Freunde der Schirn Kunsthalle e. V. mit Unterstützung von Mitgliedern des Vorstands und des Kuratoriums der Freunde der Schirn Kunsthalle e. V. sowie von dem Mondriaan Fund und Pro Helvetia, der Schweizer Kulturstiftung.

Auftakt ist die eigens für die Ausstellung konzipierte Raum- und Soundinstallation The Third Degree (2020) von Gabriel Lester (*1972, Amsterdam, Niederlande) in Zusammenarbeit mit Monadnock Architects. In einem Labyrinth aus Wegen, Sackgassen, Eingängen und Ausgängen ist ein Chor eindringlicher Stimmen zu hören, der Fragen aufwirft und manipulative Verhörmethoden aufgreift. © Foto: Diether v. Goddenthow
Auftakt ist die eigens für die Ausstellung konzipierte Raum- und Soundinstallation The Third Degree (2020) von Gabriel Lester (*1972, Amsterdam, Niederlande) in Zusammenarbeit mit Monadnock Architects. In einem Labyrinth aus Wegen, Sackgassen, Eingängen und Ausgängen ist ein Chor eindringlicher Stimmen zu hören, der Fragen aufwirft und manipulative Verhörmethoden aufgreift. © Foto: Diether v. Goddenthow

Philipp Demandt, Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt: „Die Schirn widmet der Spionage eine große zeitgenössische Ausstellung. Mit vielseitigen Perspektiven von internationalen Künstlerinnen und Künstlern bieten wir unseren Besucherinnen und Besuchern die Möglichkeit für eine differenzierte Auseinandersetzung mit diesem Thema, das angesichts globaler Krisen, digitaler Überwachung, Fake News und Verschwörungstheorien neue und drängende Fragen aufwirft.“

Cristina Ricupero, Kuratorin der Ausstellung, erläutert: „Ziel der Ausstellung ,We Never Sleep‘ ist es, einen experimentellen Raum zu schaffen, in dem Künstlerinnen und Künstler in herausfordernden Werken und mit einer Vielzahl kreativer Strategien Kunst und die Ästhetik der Spionage verknüpfen. Statt zu ,entlarven‘ oder zu ,erklären‘, geht es vor allem darum, Überraschungen zu schaffen. Die Ausstellungsarchitektur verbirgt und enthüllt dabei zugleich, sie changiert zwischen Realität und Fiktion. Wie in einem sich allmählich entfaltenden Spionageroman öffnen sich die Räume Schritt für Schritt, verwandeln die Besucherinnen und Besucher in Amateurspione und lassen sie einen mehrdeutig voyeuristischen Blick einnehmen. Am Ende soll, wie in der nebulösen Welt der Spionage, die Wahrheit ein Mysterium bleiben.“

Technische Hilfsmittel für Spionage und Attentate, unter anderem der berühmte Bulgarische Regenschirm, mit dem vermeintlich das Attentat auf den bulgarischen Dissidenten Georgi Markow an dessen Geburtstag  am 7. September 1978 in London verübt wurde. Außerdem: Gießkanne mit Kamera, Literatur, u.a. "Handbuch zur Sabotage". © Foto: Diether v. Goddenthow
Technische Hilfsmittel für Spionage und Attentate, unter anderem der berühmte Bulgarische Regenschirm, mit dem vermeintlich das Attentat auf den bulgarischen Dissidenten Georgi Markow an dessen Geburtstag am 7. September 1978 in London verübt wurde. Außerdem: Gießkanne mit Kamera, Literatur, u.a. „Handbuch zur Sabotage“. © Foto: Diether v. Goddenthow

AUSGEWÄHLTE WERKE DER AUSSTELLUNG

„We Never Sleep“ beleuchtet das Thema der Spionage durch das Prisma zeitgenössischer Kunst und Gestaltung. Die Kunstwerke und Objekte der Ausstellung werden in der Architektur von Adrien Rovero als immersives Environment inszeniert.
Auftakt ist die eigens für die Ausstellung konzipierte Raum- und Soundinstallation The Third Degree (2020) von Gabriel Lester (*1972, Amsterdam, Niederlande) in Zusammenarbeit mit Monadnock Architects. In einem Labyrinth aus Wegen, Sackgassen, Eingängen und Ausgängen ist ein Chor eindringlicher Stimmen zu hören, der Fragen aufwirft und manipulative Verhörmethoden aufgreift. Auch Lawrence Abu Hamdan (*1985, Amman, Jordanien) beschäftigt sich mit Sound und Überwachungstechnologien in Verbindung mit forensischen Sprachanalysen. Im Fokus seiner Installation The Whole Truth (2012) steht eine Audiodokumentation über eine Software, die die menschliche Stimme u. a. mittels eines Lügendetektors durchleuchtet.

Video der Brüder Park Chan-Kyong und Park Chan-Wook (*1965 und *1963, Seoul, Südkorea), die als Künstlerduo unter dem Namen PARKing CHANce auftreten. © Foto: Diether v. Goddenthow
Video der Brüder Park Chan-Kyong und Park Chan-Wook (*1965 und *1963, Seoul, Südkorea), die als Künstlerduo unter dem Namen PARKing CHANce auftreten. © Foto: Diether v. Goddenthow

Von Spionen, Doppelagenten und Überläufern, die im machtpolitischen Konflikt zwischen Nord- und Südkorea die Seite wechseln, erzählt die Videoarbeit Believe It or Not (2018) der Brüder Park Chan-Kyong und Park Chan-Wook (*1965 und *1963, Seoul, Südkorea), die als Künstlerduo unter dem Namen PARKing CHANce auftreten. Inspiriert von wahren Begebenheiten und den Geschichten realer Personen fragen die Künstler nach Identität und Integrität zwischen Angst und Paranoia.

Dora Longo Bahia (*1961, São Paulo, Brasil) widmet sich in ihrer eigens für die Ausstellung entwickelten Collagen-Serie Spy Woman (2020) berühmten Frauen der Spionagegeschichte wie Greta Garbo, Sonja Wigert, Coco Chanel oder Alice Marble. Sie traten in erster Linie als Personen des öffentlichen Lebens in Erscheinung, agierten zugleich aber in politischen Kontexten oder wurden als Agentinnen tätig. © Foto: Diether v. Goddenthow
Dora Longo Bahia (*1961, São Paulo, Brasil) widmet sich in ihrer eigens für die Ausstellung entwickelten Collagen-Serie Spy Woman (2020) berühmten Frauen der Spionagegeschichte wie Greta Garbo, Sonja Wigert, Coco Chanel oder Alice Marble. Sie traten in erster Linie als Personen des öffentlichen Lebens in Erscheinung, agierten zugleich aber in politischen Kontexten oder wurden als Agentinnen tätig. © Foto: Diether v. Goddenthow

Das Thema des Doppelagenten greift auch das litauische Künstlerduo Nomeda & Gediminas Urbanos (*1968, Kaunas, Litauen und *1966, Vilnius, Litauen) mit einer neuen Version der Installation TRANSmutation (2018) auf. Aus Fragmenten sowjetischer Kultfilme entwickeln sie ein assoziatives, visuelles Narrativ, das in Psyche und Denkweise eines Doppelagenten eindringt.
Dora Longo Bahia (*1961, São Paulo, Brasil) widmet sich in ihrer eigens für die Ausstellung entwickelten Collagen-Serie Spy Woman (2020) berühmten Frauen der Spionagegeschichte wie Greta Garbo, Sonja Wigert, Coco Chanel oder Alice Marble. Sie traten in erster Linie als Personen des öffentlichen Lebens in Erscheinung, agierten zugleich aber in politischen Kontexten oder wurden als Agentinnen tätig. Stan Douglas (*1960, Vancouver, Kanada) adaptiert für seine Fotografien, Filme und Installationen Filmgenres und Literaturklassiker, um historische Ereignisse neu zu befragen. In seiner Videoinstallation The Secret Agent (2015) spielt der Künstler mit den Eigenschaften des Spionage-Thrillers im Kalten Krieg und verlegt die Handlung des gleichnamigen Romans von Joseph Conrad von England nach Portugal im Jahr 1975, als kurz nach der Nelkenrevolution und dem Sturz der Diktatur des sogenannten Estado Novo politische Unruhen das Land beherrschten.

Wie Manipulation durch staatliche Systeme in die Gesellschaft und ihre Erinnerung eindringt, thematisiert das Künstlerduo Dias & Riedweg (*1964, Rio de Janeiro, Brasilien und *1955, Kriens, Schweiz). Die Videoinstallation Cold Stories (2010) zeichnet die Ikonografie politischer und kommerzieller Propaganda des Kalten Krieges nach und kombiniert Auszüge aus Werbung, TV-Serien, Musik und journalistischen Dokumenten der 1960er- und 1970er-Jahre, während Che Guevara, Mao Tse-tung, John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow als Marionetten Fragmente ihrer bedeutendsten Reden halten. Aus dieser Zeit stammt die Arbeit Glimpses of the USA (1959) von Charles und Ray Eames (1907–1978, St. Louis, Missouri, USA und 1912–1988, Sacramento, Kalifornien, USA). Im Auftrag der United States Information Agency legten sie mit mehr als 2200 Fotoaufnahmen und Bewegtbildern ein Porträt der US-amerikanischen Gesellschaft vor, das 1959 im Zuge des ersten Kulturaustauschs zwischen den USA und der Sowjetunion in der „American National Exhibition“ in Moskau, Sokolniki Park präsentiert wurde und dem sowjetischen Publikum zugleich wirtschaftlichen Wohlstand und Menschlichkeit vermitteln sollte.

Suzanne Treister (*1958, London, Großbritannien) zeigt eine große Anzahl von Arbeiten, die sich mit staatlichen und militärischen Forschungsprogrammen, Social Engineering und Ideen der Kontrollgesellschaft, Verschwörungstheorien, Kybernetik, wissenschaftlichen Zukunftsprojektionen und Gegenkultur beschäftigen.

Ausstellungsansicht, Henrike Naumann, Tag X. © Foto: Diether v. Goddenthow
Ausstellungsansicht, Henrike Naumann, Tag X. © Foto: Diether v. Goddenthow

Henrike Naumann (*1984, Zwickau, Deutschland) stellt eine Neubearbeitung ihrer Installation Tag X vor, die ursprünglich für den 30. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer konzipiert wurde. Hintergrund der Arbeit ist eine Reihe 2018 bekannt gewordener Netzwerke, die Verbindungen zu Polizei, Bundeswehr und Verfassungsschutz unterhielten und einen gewaltsamen, systematischen Wandel in Deutschland herbeiführen wollten. Dabei stehen die Spannungen zwischen Ost- und Westdeutschland und die Spionage im Mittelpunkt. Die Installation konfrontiert den Betrachter mit einem höchst dystopischen Szenario rechter Umsturzfantasien. Wohnaccessoires und Designklassiker werden zu Waffen, mit denen am „Tag X“ in Deutschland jeder mitkämpfen kann.
Die Performance The Romeos (2018) von Dora García (*1965, Valladolid, Spanien) reinszeniert eine während des Kalten Krieges vom Ministerium für Staatssicherheit der DDR eingesetzte Spionagetaktik. Agenten nahmen dabei gezielt persönliche und bisweilen intime Beziehungen zu Sekretärinnen westdeutscher Politiker auf, um an vertrauliche Informationen zu gelangen. García beauftragt in Anlehnung an diese Romeos Performer, zu angekündigten Zeiten die Ausstellung zu unterwandern, und kreiert vor Ort eine Atmosphäre von Verdacht und Ungewissheit.

Corne­lia Schleime. Neben ihren foto­gra­fi­schen Selbst­por­träts zeigt die Künst­le­rin eine Serie, in der sie die über sie geführte Akte des Minis­te­ri­ums für Staats­si­cher­heit mit Selbst­por­träts ironisch konter­ka­riert. © Foto: Diether v. Goddenthow
Corne­lia Schleime. Neben ihren foto­gra­fi­schen Selbst­por­träts zeigt die Künst­le­rin eine Serie, in der sie die über sie geführte Akte des Minis­te­ri­ums für Staats­si­cher­heit mit Selbst­por­träts ironisch konter­ka­riert. © Foto: Diether v. Goddenthow

Überwachung und Zensur während des Kalten Krieges sind zentral für die präsentierten Arbeiten von Cornelia Schleime (*1953, Ost-Berlin, DDR). Neben ihren fotografischen Selbstporträts aus der Körperaktion Ich halte doch nicht die Luft an (1982) zeigt die Künstlerin ihre Serie Auf weitere gute Zusammenarbeit (1993), in der sie die über sie geführte Akte des Ministeriums für Staatssicherheit mit Selbstporträts ironisch konterkariert. Thomas Demand (*1964, München, Deutschland) richtet seine künstlerische Strategie auf die mediale Konstruktion von Wirklichkeit. Seine Fotografien zeigen vom Künstler angefertigte detailgetreue Nachbildungen aus Papier und Pappe von politischen und gesellschaftlichen Schauplätzen, die sich durch ihre mediale Verbreitung in das kollektive Bildgedächtnis eingeschrieben haben. Badezimmer (1997) zitiert das bekannte Pressebild des 1987 tot aufgefundenen CDU-Politikers Uwe Barschel in der Badewanne eines Hotelzimmers. In der Gleichzeitigkeit von Tatort und Rekonstruktion findet in Demands Arbeit eine irritierende Überlagerung unterschiedlicher Realitätsansprüche statt.

Jonas Staal (*1981, Zwolle, Niederlande) behandelt in seiner künstlerischen Praxis das Verhältnis zwischen Kunst, Demokratie und politischer Propaganda. In seinem Projekt Steve Bannon: A Propaganda Retrospective (2018) beleuchtet er die langjährige Arbeit des ehemaligen Beraters von US-Präsident Donald Trump als Filmproduzent und macht in der Dekonstruktion zentraler Bildmotive und Verschwörungsnarrative den ideologischen Nährboden des Trumpismus sichtbar.

Ausstellungsansicht, Metahaven, The Sprawl: Propaganda about Propaganda, 2016. © Foto: Diether v. Goddenthow
Ausstellungsansicht, Metahaven, The Sprawl: Propaganda about Propaganda, 2016. © Foto: Diether v. Goddenthow

Das 2007 von Vinca Kruk und Daniel van der Velden gegründete Designkollektiv Metahaven setzt sich für Informationsfreiheit im postfaktischen Zeitalter ein. In ihrem Film The Sprawl (Propaganda about Propaganda) (2015) nehmen sie die massive Ausbreitung staatlich organisierter Propaganda- und Desinformationskampagnen in den sozialen Netzwerken als Gegenreaktion auf deren Nutzung durch Aktivisten des Arabischen Frühlings kritisch in den Blick.

Mit aktuellen Methoden der staatlichen Geheimhaltung beschäftigt sich die investigative Konzeptkünstlerin, Autorin und Filmemacherin Jill Magid (*1973, Bridgeport, Conneticut, USA). In der Schirn zeigt sie Teile von The Spy Project (2005–2010), u. a. die Neonlicht-Installation Miranda IV und die Texte 18 Spies. Die Arbeit wurde vom Niederländischen Geheimdienst (AIVD) beauftragt, später in Teilen zensiert und konfisziert und verwickelte die Künstlerin selbst in die Geheimhaltungsstrategien der Organisation. Die Gruppe Forensic Architecture untersucht weltweit verdeckte Fälle von Menschenrechtsverletzungen, staatlicher Gewalt und Desinformation. In ihrem interdisziplinären Verfahren der forensischen Architektur führt sie eine Vielzahl von Beweisquellen wie Video- und Bildmaterial, Zeugenaussagen und Materialanalysen zur Rekonstruktion eines Tathergangs zusammen. Die in der Schirn gezeigte Arbeit The Killing of Óscar Pérez (2018) behandelt die Ermordung des venezolanischen Rebellenführers und seiner Gefolgsleute im Januar 2018 durch staatliche Sicherheitskräfte.

 Simon Denny Modded Server-Rack Display with David Darchicourt Commissioned Map of Aotearoa New Zealand (2015) © Foto: Diether v. Goddenthow
Simon Denny Modded Server-Rack Display with David Darchicourt Commissioned Map of Aotearoa New Zealand (2015) © Foto: Diether v. Goddenthow

Zentraler Gegenstand der künstlerischen Arbeit von Simon Denny (*1982, Auckland, Neuseeland) sind die Schnittstellen von Design, Technologie und Sprache in der Kommunikation von Geheimdiensten. Seine Installation Modded Server-Rack Display with David Darchicourt Commissioned Map of Aotearoa New Zealand (2015) wurde erstmals bei der Venedig Biennale 2015 als Teil des Projekts Secret Powers vorgestellt. Sie basiert auf der Zusammenarbeit mit David Darchicourt, der als Grafikdesigner für die National Security Agency (NSA) und später für die Defense Intelligence Agency (DIA) tätig war. Zu sehen ist eine von Darchicourt entworfene Weltkarte mit Neuseeland im Zentrum und den von dort ausgehenden Datenströmen in die USA und nach Australien. Trevor Paglen (*1974, Camp Springs, Maryland, USA) widmet sich den Infrastrukturen globaler Überwachung und Datenerfassung. Der Künstler, Geograf und Autor ist dafür bekannt, das Unsichtbare durch das Sichtbare zu erforschen, und setzt hochentwickelte Technologie ein, um Fotos von geheimen Militärstützpunkten in abgelegenen oder gesperrten Gebieten aus mehreren Kilometern Entfernung zu machen. In der Schirn präsentiert er eine Reihe von fotografischen Arbeiten, u. a. aus seiner Serie Limit Telephotography, sowie die monumentale Installation Code Names (2009), die eine Liste mit Namen und Chiffren geheimer Militär- und Geheimdienstprogramme publiziert.

Während der Laufzeit der Ausstellung realisieren die Künstler Gabriel Lester und Jonas Lund mit The Fly on the Wall (2020) eine interaktive Intervention auf der Schirn Website. Diese adressiert die Informationsasymmetrie zwischen Tech-Giganten und Individuen und erforscht Mechanismen riesiger Datensätze, gezielter Werbemaßnahmen, der Modellierung demografischer Daten und benutzerdefinierter Zielgruppen. Ausgehend von einer kleinen Fliege auf der Website entwickeln die Künstler eine Spionage-Agentur: Sie rekrutieren Online-Besucher als Agenten, die wiederum andere Besucher auf Basis ihrer Interaktion mit der Website ausspionieren.

ALLE KÜNSTLERINNEN UND KÜNSTLER DER AUSSTELLUNG

Lawrence Abu Hamdan, Maja Bajevic, Jean-Luc Blanc, Nina Childress, Guy de Cointet, Thomas Demand, Simon Denny, Mauricio Dias & Walter Riedweg, Stan Douglas, Charles und Ray Eames, Forensic Architecture, Dora García, Mathis Gasser, Rodney Graham, Eva Grubinger, Humans since 1982, Alfredo Jaar, Kiluanji Kia Henda, Gabriel Lester, Jonas Lund, Lim Minouk, Dora Longo Bahia, Jill Magid, Fabian Marti, Josephine Meckseper, Mieko Meguro, Metahaven, Aleksandra Mir, Henrike Naumann, Trevor Paglen, Park Chan-Kyong und Park Chan-Wook, Cornelia Schleime, Jim Shaw, Taryn Simon, Jonas Staal, Noam Toran, Suzanne Treister, Nomeda & Gediminas Urbonas, Jane und Louise Wilson, Liam Young und Tamir Zadok

PUBLIKATION WE NEVER SLEEP, herausgegeben von Cristina Ricupero, Alexandra Midal und Katharina Dohm. Mit einem Vorwort von Philipp Demandt. Essays von Jörg Heiser, Jelena Martinovic, Marina Otero Verzier, Cristina Ricupero, Noam Toran und Wladimir Velminski sowie Faksimiles bereits erschienener Textbeiträge von Ulrike Knöfel, Metahaven, Joanna Moorhead und Jonas Staal. Engl./Dt. Ausgabe, 184 Seiten, ca. 100 Abb., 20 x 27 cm (Hochformat), Snoeck, ISBN 978-3-86442-318-5, 25 € (SCHIRN), 34 € (Buchhandel)

WIFI GUIDE Das speziell für die Nutzung des kostenlosen SCHIRN WIFI entwickelte Vermittlungsangebot ist in der Schirn über das eigene Smartphone oder Tablet auf Deutsch und Englisch unter www.schirn.de/wifi erreichbar. Der digitale Guide zur Ausstellung „We Never Sleep“ bietet während des Rundgangs Impulse, spielerisch Werke intensiver zu betrachten und kennenzulernen.
ORT SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT, Römerberg, 60311 Frankfurt DAUER 24. September 2020 – 10. Januar 2021 INFORMATION www.schirn.de E-MAIL welcome@schirn.de TELEFON +49-69 29 98 82-0 FAX +49-69 29 98 82-240

EINTRITT 10 €, ermäßigt 8 €; freier Eintritt für Kinder unter 8 Jahren SCHUTZ- UND HYGIENEMASSNAHMEN Um den Ausstellungsbesuch auch während der Corona-Pandemie sicher zu gestalten, wurden in Abstimmung mit den zuständigen Behörden umfassende Schutz- und Hygienemaßnahmen entwickelt. Weitere Informationen unter www.schirn.de/besuch

EINFÜHRUNGEN IM SCHIRN SPACE Di 11 Uhr, Mi 17 Uhr, Do 20 Uhr, Fr 14.30 Uhr, Tickets im Onlineshop erhältlich KULTURPARTNER HR2 KURATORINNEN Cristina Ricupero in Zusammenarbeit mit Katharina Dohm, Schirn Kunsthalle Frankfurt GEFÖRDERT DURCH Stadt Frankfurt am Main und Verein der Freunde der Schirn Kunsthalle e. V. UNTERSTÜTZUNG VON Mitgliedern des Vorstands und des Kuratoriums der Freunde der Schirn Kunsthalle e. V. sowie von dem Mondriaan Fund und Pro Helvetia, der Schweizer Kulturstiftung

HASHTAGS #WENEVERSLEEP #SCHIRN FACEBOOK, TWITTER, YOUTUBE, INSTAGRAM, PINTEREST, SCHIRN MAGAZIN www.schirn.de/magazin SCHIRN MAGAZIN NEWS ausgewählte Artikel, Filme und Podcasts direkt als Nachricht empfangen, abonnieren unter www.schirn.de/magazin/news

Schirn Kunsthalle Frankfurt – FANTASTISCHE FRAUEN SURREALE WELTEN VON MERET OPPENHEIM BIS FRIDA KAHLO – bis 5. Juli verlängert

Noch bis zum 7. Juli 2020 präsentiert die Schirn Kunsthalle Frankfurt die große Überblicksausstellung „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“, die den Künstlerinnen des Surrealismus gewidmet ist. Bildausschnitt: Toyen "Boschaft des Waldes".  Foto: Diether v. Goddenthow
Noch bis zum 7. Juli 2020 präsentiert die Schirn Kunsthalle Frankfurt die große Überblicksausstellung „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“, die den Künstlerinnen des Surrealismus gewidmet ist. Bildausschnitt: Toyen „Boschaft des Waldes“. Foto: Diether v. Goddenthow

Göttin, Teufelin, Puppe, Fetisch, Kindfrau oder wunderbares Traumwesen – die Frau war das zentrale Thema surrealistischer Männerfantasien. 1924 in Paris gegründet, waren die meisten offiziellen Mitglieder der surrealistischen Bewegung männlich. Nach den katastrophalen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs suchten sie nach grundlegender geistiger Erneuerung und alternativen Lebensformen, fußend auf den Theorien Sigmund Freuds zum Unbewussten und seiner Traumdeutung, praktizierten die écriture automatique (automatisches Schreiben), feierten den Zufall, die sexuelle Anarchie in der Tradition des Marquis de Sade (1740–1814) und künstlerische Experimenten auf allen Ebenen.
Ab etwa 1930 gelangten immer mehr Künstlerinnen, oft zunächst als Partnerin oder Modell, in den Kreis um den Gründer der Surrealisten-Gruppe, André Breton. Mit vielen internationalen Ausstellungen unter anderem in London, New York und sogar Tokyo verbreiteten sich die surrealistischen Ideen über mehrere Kontinente. Dabei war die Beteiligung von Künstlerinnen an der Bewegung, an Ausstellungen und Publikationen, wesentlich umfassender als allgemein bekannt ist und bislang dargestellt wurde.

Umkehr der Perspektive. Der weibliche Blick  auf einen Männerakt in Frauenposition. Leonor Fini Portrait de-Nico. © Foto: Diether v. Goddenthow
Umkehr der Perspektive. Der weibliche Blick auf einen Männerakt in Frauenposition. Leonor Fini Portrait de-Nico. © Foto: Diether v. Goddenthow

Was die Künstlerinnen von ihren männlichen Kollegen vor allem unterscheidet, ist die Umkehr der Perspektive: Durch Befragung des eigenen Spiegelbilds oder das Einnehmen verschiedener Rollen sind sie auf der Suche nach einem (neuen) weiblichen Identitätsmodell. Auch das politische Zeitgeschehen, die Literatur sowie außereuropäische Mythen sind Themen, mit denen sich die Surrealistinnen in ihren Werken auseinandersetzen.

Mit rund 260 Gemälden, Papierarbeiten, Skulpturen, Fotografien und Filmen von 34 Künstlerinnen aus Europa, den USA und Mexiko – hauptsächlich aus den 1930er bis 1960er Jahren – bildet die coronabedingt um drei Monate verschobene, ab 6. Mai eröffnete Ausstellung „Fantastische Frauen Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“ ein vielfältiges stilistisches und inhaltliches Spektrum der Künstlerinnen ab. Die Ausstellung konzentriert sich dabei auf Künstlerinnen, die direkt mit der surrealistischen Bewegung verbunden waren, wenn auch oft nur für kurze Zeit: Sie waren mit André Breton persönlich bekannt, stellten mit der Gruppe aus oder verarbeiteten surrealistische Ideen in unterschiedlichster Weise. Präsentiert werden surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“. Die Künstlerinnen gelangten zunächst als Partnerin oder Modell in den Kreis um den Gründer der Surrealisten-Gruppe, André Breton. Schnell brachen sie aus diesem Rollenverständnis aus und schufen selbstbewusst unabhängige Werke.

Ausstellungsimpression „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“, Schirn Kunsthalle Frankfurt.© Foto: Diether v. Goddenthow
Ausstellungsimpression „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“, Schirn Kunsthalle Frankfurt.© Foto: Diether v. Goddenthow

Neben bekannten Namen wie Louise Bourgeois, Claude Cahun, Leonora Carrington, Frida Kahlo, Meret Oppenheim oder Dorothea Tanning sind zahlreiche bislang weniger bekannte Persönlichkeiten wie Toyen, Alice Rahon oder Kay Sage aus mehr als drei Jahrzehnten surrealistischer Kunst zu entdecken. Sie werden in der Schirn jeweils mit einer repräsentativen Auswahl ihrer Arbeiten vorgestellt. Die Ausstellung spiegelt zudem Netzwerke und Freundschaften zwischen den Künstlerinnen in Europa, den USA und Mexiko. Für die Präsentation konnte die Schirn bedeutende Leihgaben aus zahlreichen deutschen und internationalen Museen, öffentlichen wie privaten Sammlungen gewinnen und in Frankfurt zusammenführen, u. a. aus dem Metropolitan Museum of Art, New York; der Tate, London; den National Galleries of Scotland, Edinburgh; dem Centre Pompidou, Paris; dem Musée d’art moderne de la ville de Paris; dem Musée national Picasso, Paris; dem Kunstmuseum Bern; dem Kunstmuseum Basel; dem Moderna Museet, Stockholm; dem mumok – Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien, und dem Museum de Arte Moderno, Mexiko-Stadt.
Die Ausstellung „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“ konnte dank der Unterstützung des Kulturfonds Frankfurt RheinMain und der Dr. Marschner Stiftung realisiert werden. Hinzu kommt die Förderung der Bank of America als Partner der Schirn 2020.

Kuratiert hat die Ausstellung Dr. Ingrid Pfeiffer, die mit „Fantastische Frauen“ ein wenig die Lücke schließen möchte, einige der bis heute oft in Publikationen und Überblicksausstellungen vielen fehlenden Namen und Werke von Vertreterinnen des weiblichen Surrealismus zu  präsentieren. „In der Zusammenschau werden das internationale Netzwerk, die unglaubliche Vielfalt und die beeindruckende Eigenständigkeit der bekannteren wie auch unbekannteren Künstlerinnen des Surrealismus deutlich. Denn der Surrealismus war eine Geisteshaltung, kein Stil“, so die Kuratorin.

THEMEN UND KÜNSTLERINNEN DER AUSSTELLUNG

Ausstellungsimpression „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“, Schirn Kunsthalle Frankfurt. Meret Oppenheim "Abendkleid mit Büstenhalter" © Foto: Diether v. Goddenthow
Ausstellungsimpression „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“, Schirn Kunsthalle Frankfurt. Meret Oppenheim „Abendkleid mit Büstenhalter“ © Foto: Diether v. Goddenthow

Die große Überblicksausstellung erstreckt sich über die gesamte Länge beider Galerien der Schirn und stellt die Künstlerinnen des Surrealismus mit einer repräsentativen Auswahl an Werken und auch in topografischen Räumen vor. Denn viele der Künstlerinnen bildeten in den unterschiedlichen Zentren des Surrealismus Netzwerke: in Frankreich, England, Belgien, der Tschechoslowakei, der Schweiz, Skandinavien, später in den USA und Mexiko.

Gleich zu Beginn der Ausstellung präsentiert die Schirn Meret Oppenheim (1913 Berlin – 1985 Basel), die als eine der ersten surrealistischen Künstlerinnen zu frühem Ruhm gelangte. Sie bewegte sich in jungen Jahren im unmittelbaren Umfeld der Surrealisten in Paris. Die Gruppe traf sich regelmäßig, diskutierte über politische Entwicklungen ebenso wie über die damals neue Psychoanalyse, deren Erkenntnisse sie als Impulse nutzte, um die Gesellschaft mit den Mitteln der Kunst zu verändern. Bereits 1936 nahm das New Yorker Museum of Modern Art Oppenheims ikonische „Pelztasse“ in seine Sammlung auf – sie gilt bis heute als das surrealistische Objekt schlechthin. Die Schirn zeigt Werke der Künstlerin aus den 1930er- bis 1970er-Jahren, darunter Skulpturen wie Urzeit-Venus (1933/62) und Gemälde, etwa Das Auge der Mona Lisa (1967). Die offiziellen Mitglieder der surrealistischen Gruppe um André Breton waren zunächst Männer, ab den 1930er-Jahren stießen zahlreiche Künstlerinnen dazu und beteiligten sich an den internationalen Surrealismus-Ausstellungen, etwa in New York (1936), Paris (1936 und 1938), Tokyo (1937), Amsterdam (1938) und Mexiko-Stadt (1940). Man kann von verschiedenen Generationen des Surrealismus sprechen: Die Künstlerinnen waren meist jünger, viele ihrer Hauptwerke entstanden daher in den 1940er- und 1950er-Jahren. Obwohl bis in die 1960er-Jahre weitere Ausstellungen der Gruppe stattfanden und sie sich erst 1969 auflöste, sahen zahlreiche Chronisten den Surrealismus mit dem Zweiten Weltkrieg als beendet an. Auch aufgrund dieser Erzählweise fanden die Werke der Künstlerinnen bislang zu wenig Berücksichtigung.

Ausstellungsimpression „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“, Schirn Kunsthalle Frankfurt. Hier Werke von Leonora Carrington © Foto: Diether v. Goddenthow
Ausstellungsimpression „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“, Schirn Kunsthalle Frankfurt. Hier Werke von Leonora Carrington © Foto: Diether v. Goddenthow

Le désir (das erotische Begehren) ist ein zentrales Thema des Surrealismus, der Körper der Frau ein wiederkehrendes Motiv in den Werken. Das Verhältnis der männlichen Surrealisten zu ihren Kolleginnen ist insgesamt als ambivalent zu bewerten. In vielerlei Hinsicht lehnte die Bewegung traditionell bürgerliche Vorstellungen von Familie, Sexualmoral und Eheleben ab. In den Werken der Künstler wird die Frau aber oft objektiviert, als passive Kindfrau, Fetisch oder Muse, fragmentiert oder geköpft dargestellt. Davon unterscheidet sich die Perspektive der Künstlerinnen: Zahlreiche Selbstporträts und Darstellungen der Frauen sind geprägt von einem spielerischen, selbstbewussten Umgang mit ihrem Körperbild und der weiblichen Sexualität. Die Ausstellung zeigt u. a. das Autoportrait, à l’auberge du Cheval d’Aube (1937/38) von Leonora Carrington (1917 Clayton Green – 2011 Mexiko-Stadt), in dem sie sich in der Kleidung eines jungen Mannes aus dem 18. Jahrhundert in Hosen dargestellt hat, flankiert von ihrem wiederkehrenden Alter Ego, einem Pferd, und einer Hyäne als Symbol ihres Freiheitsdrangs. Ithell Colquhoun (1906 Assam – 1988 Lamorna) malte mit Tree Anatomy (1942) eine humorvolle Umdeutung einer Vulva. Die Künstlerin Claude Cahun (1894 Nantes – 1954 Saint Helier) schuf bereits in den 1920er-Jahren ihr Hauptwerk, eine Serie von beeindruckenden und äußerst aktuellen fotografischen Selbstporträts und Fotomontagen, in der sie Androgynität und das Spiel mit Geschlechterrollen thematisierte, etwa um 1927 in Self-Portrait (I am in Training … Don’t Kiss Me). Das Werk von Leonor Fini (1907 Buenos Aires – 1996 Paris) enthält überproportional viele Männerakte, denen starke Frauenfiguren den Weg weisen wie in Dans la tour (Im Turm; 1952) oder Schutz gewähren wie in Divinité chtonienne guettant le sommeil d’un jeune homme (Erdgottheit, die den Schlaf eines Jünglings bewacht; 1946). Die Künstlerinnen rebellierten gegen geschlechtsspezifisches Rollenverhalten und präsentierten sich auch selbst mit einem betont androgynen Aussehen (Oppenheim, Cahun, Toyen) oder in unterschiedlichen Rollen und Maskeraden (Fini).

Ausstellungsimpression „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“, Schirn Kunsthalle Frankfurt.  Remedios Varo Schoepfung mit Hilfe der Gestirne. © Foto: Diether v. Goddenthow
Ausstellungsimpression „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“, Schirn Kunsthalle Frankfurt. Remedios Varo Schoepfung mit Hilfe der Gestirne. © Foto: Diether v. Goddenthow

Die Surrealisten nutzten Spiele und Techniken wie die écriture automatique (automatisches Schreiben), Traumprotokolle oder Collagen, um Zugang zum Unbewussten zu eröffnen und dem Zufall Raum zu geben. Jacqueline Lamba (1910 Saint-Mandé – 1993 La Rochecorbon), Emmy Bridgwater (1906 Birmingham – 1999 Solihull) oder Unica Zürn (1916 Berlin – 1970 Paris) arbeiteten in ihrem Werk ganz zentral mit diesen Methoden. Eine eigene Sektion der Ausstellung ist den cadavres exquis gewidmet. Diese Zeichnungen oder Collagen entstanden als Gruppenspiel: Auf einem gefalteten Papier führten die Teilnehmer nacheinander die Darstellung des Vorgängers fort, ohne zu sehen, was jener kreiert hatte. Solche kollektiven Kunstwerke sollten auch den Zusammenhalt der Gruppe stärken. An diesen Spielen nahmen Mitglieder der Gruppe wie André Breton, Paul Éluard, Valentine Hugo (1887 Boulogne-sur-Mer – 1968 Paris), Jacqueline Lamba oder Yves Tanguy ebenso teil wie Laien oder Autodidakten, etwa Nusch Éluard (1906 Mulhouse – 1946 Paris).

Im Kreis der Surrealisten spielte die Auseinandersetzung mit antiker Mythologie sowie vorchristlichen und außereuropäischen Mythen und Sagen eine wichtige Rolle. Die mythische Sagengestalt des Mittelalters Melusine (Frau und Meereswesen) und die rätselhafte ägyptische Sphinx (Frau und Löwe mit Flügeln) stehen oft als Symbole für die Metamorphose, das Veränderliche, aber auch für die dämonische Verführerin und Femme fatale. Auf der Suche nach Vorbildern für ein weibliches Identitätsmodell griffen die Künstlerinnen das Motiv des Mischwesens besonders häufig auf. Die Schirn zeigt u. a. La venadita (Der kleine Hirsch; 1946) von Frida Kahlo und die Skulptur La Grande Dame (1951) von Leonora Carrington und José Horna. Die tschechische Malerin Toyen (1902 Prag – 1980 Paris) entwickelte für sich ein geschlechtsneutrales Pseudonym, abgeleitet vom französischen citoyen (Bürger). Ihr ging es nicht um Gegensätze zwischen männlich und weiblich, animalisch und menschlich, sondern um Ähnlichkeiten. In Le Paravent (1966) setzt sie einen Mund an die Stelle des Geschlechts der weiblich anmutenden Figur und schafft eine Szene, die zwischen Begehren und Furcht changiert.

Ausstellungsimpression „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“, Schirn Kunsthalle Frankfurt. Rachel Baes "Die absolute Unendlichkeit" © Foto: Diether v. Goddenthow
Ausstellungsimpression „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“, Schirn Kunsthalle Frankfurt. Rachel Baes „Die absolute Unendlichkeit“ © Foto: Diether v. Goddenthow

Während des Zweiten Weltkriegs emigrierten viele der Surrealisten, u. a. in die USA oder nach Mexiko. Eine lebendige surrealistische Szene entwickelte sich in Mexiko um Frida Kahlo (1907 Coyoacán – 1954 Mexiko-Stadt). Die Malerin kombinierte in ihrer individuellen Ikonografie Motive der präkolonialen Kultur Mexikos mit christlichen Symbolen sowie ihrer persönlichen Biografie. Sie betonte matriarchale, feministische Traditionen und trug bewusst die Tracht der Gegend um Tehuana, die für ihre von Frauen dominierte Kultur bekannt war. Die Schirn zeigt u. a. ihre Hauptwerke Autorretrato con collar de espinas y colibrí (Selbstbildnis mit Dornenhalsband; 1940) und Autorretrato en la frontera entre México y los Estados Unidos (Selbstbildnis auf der Grenze zwischen Mexiko und den USA; 1932). Zu einer zentralen Persönlichkeit in Mexiko-Stadt wurde auch die Dichterin und Malerin Alice Rahon (1904 Chenecey-Buillon – 1987 Mexiko-Stadt), die erste Frau, deren Texte 1936 in den Éditions surréalistes verlegt wurden. Unter den weiteren surrealistischen Künstlerinnen, die sich in Mexiko niederließen und sich intensiv mit der präkolumbianischen Vergangenheit, der überbordenden Natur und den mexikanischen Mythen auseinandersetzten, waren die Malerin und Schriftstellerin Leonora Carrington, die Malerin Bridget Tichenor (1917 Paris – 1990 Mexiko-Stadt) sowie Remedios Varo (1908 Anglés – 1963 Mexiko-Stadt), deren Malstil die surrealistischen Techniken der Fumage, Frottage und Décalcomanie mit der Darstellung detailreicher altmeisterlicher Figuren vereint.

Ausstellungsimpression „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“, Schirn Kunsthalle Frankfurt.© Foto: Diether v. Goddenthow
Ausstellungsimpression „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“, Schirn Kunsthalle Frankfurt.© Foto: Diether v. Goddenthow

Die Fotografie bot den Surrealistinnen zahlreichen Möglichkeiten, die Abbildung der Realität durch Retuschen, nachträgliches Kolorieren, Montagen und extreme Belichtungen zu verfremden und infrage zu stellen. Jane Graverol (1905 Ixelles – 1984 Fontainebleau) oder Lola Álvarez Bravo (1903 Lagos de Moreno – 1993 Mexiko-Stadt) nutzten zudem die Technik der Collage, um Widersprüchliches zu verbinden. Gerade unter den Fotografinnen positionierten sich einige Künstlerinnen politisch. Das Werk von Dora Maar (1907 Paris – 1997 ebenda) weist neben surrealistischen Themen, die Schirn zeigt etwa 29, rue d’Astorg (1936), ein tiefgreifendes Interesse am Zeitgeschehen auf. Neben Breton unterzeichnete sie 1934 das Manifest Appel à la lutte (Aufruf zum Kampf) gegen die erstarkenden faschistischen Strömungen. Claude Cahun war in den Jahren um 1940 aktiv im Widerstand tätig und verstarb letztlich an den Folgen einer Inhaftierung. Eine besondere Rolle nimmt Lee Miller (1907 Poughkeepsie – 1977 Chiddingly) ein, die nach ihrer surrealistischen Phase ab 1944 als Kriegsfotografin tätig war.

Auch zum surrealistischen Film leisteten Künstlerinnen wesentliche Beiträge: Die Schirn zeigt La Coquille et le clergyman (Die Muschel und der Kleriker; 1927) von Germaine Dulac (1882 Amiens – 1942 Paris), der heute als erstes surrealistisches Werk der Filmgeschichte gilt. Maya Deren (1917 Kiew – 1961 New York) war eine Hauptakteurin der US-amerikanischen filmischen Avantgarde der Nachkriegszeit. Mit Filmproduktionen wie Meshes of the Afternoon (1943) hatte sie schon zuvor gegen die vorherrschenden Erzählstrukturen Hollywoods, in denen Weiblichkeit zumeist von einem männlichen Standpunkt aus beleuchtet wurde, gearbeitet.

Ausstellungs-Impression Fantastische Frauen.  © Foto: Diether v. Goddenthow
Ausstellungs-Impression Fantastische Frauen. © Foto: Diether v. Goddenthow

Einige der vorgestellten Künstlerinnen waren nur kurzzeitig mit dem Surrealismus verbunden. Die US-amerikanische Künstlerin Dorothea Tanning (1910 Galesburg – 2012 New York) wandte sich in der Zwischenkriegszeit dem Surrealismus zu, um eine alternative Erzählung für die Kunst, die Gesellschaft und sich selbst zu finden. Wie auch Oppenheim oder Carrington wollte sie später nicht (mehr) als Surrealistin bezeichnet werden oder ihre Werke in Ausstellungen nur mit Arbeiten von Frauen zeigen. Die Künstlerinnen des Surrealismus betrachteten sich als Individuen, die unabhängig von ihrem Geschlecht und einer stilistischen Festlegung wahrgenommen werden wollten. Dennoch gehörten sie historisch zur surrealistischen Bewegung und spielten in dem in der Schirn vorgestellten Netzwerk eine zentrale Rolle.

Den Schlusspunkt und gleichzeitig Ausblick der Ausstellung bildet das Werk von Louise Bourgeois (1911 Paris – 2010 New York), die sich in ihren Gemälden, etwa der Serie Femme maison (1945-47), und ihrer skulpturalen Objektkunst intensiv mit Sexualität und weiblicher Identität auseinandersetzte. Sie gehörte derselben Generation von Künstlerinnen an wie Meret Oppenheim; die Rezeption ihres Werkes begann aber erst viel später. Es wird heute eher der Gegenwartskunst zugeordnet.

0katalog-fantastische-frauenKATALOG FANTASTISCHE FRAUEN. SURREALE WELTEN VON MERET OPPENHEIM BIS FRIDA KAHLO, herausgegeben von Ingrid Pfeiffer. Mit einem Vorwort von Philipp Demandt, SCHIRN, und Poul Erik Tøjner, Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk. Mit Beiträgen von Patricia Allmer, Tere Arcq, Kirsten Degel, Heike Eipeldauer, Annabelle Görgen-Lammers, Rebecca Herlemann, Karoline Hille, Silvano Levy, Alyce Mahon, Christiane Meyer-Thoss, Laura Neve, Ingrid Pfeiffer, Gabriel Weisz Carrington sowie Biografien der einzelnen Künstlerinnen und farbigen Ansichten der Werke. Deutsche und englische Ausgabe, je 420 Seiten, 350 Abb., 24 x 29 cm, Hardcover, Hirmer Verlag, 39 € (SCHIRN), ca. 49,90 € (Buchhandel).

Ort:
0schirnSCHIRN KUNST­HALLE FRANK­FURT
Römer­berg
60311 Frank­furt
welcome@​SCHIRN.​de

Fragen zu Besuch /Ticket-Online-Kauf in Zeiten von Corona finden sie unter: https://www.schirn.de/besuch/

DIE SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT, DAS STÄDEL MUSEUM UND DIE LIEBIEGHAUS SKULPTURENSAMMLUNG ÖFFNEN WIEDER

Die Schirn Kunsthalle Frankfurt ist ab dem 6. Mai 2020, das Städel Museum und die Liebieghaus Skulpturensammlung sind ab dem 9. Mai 2020 wieder geöffnet. Alle Sonderausstellungen der Häuser werden verlängert.

Die Schirn Kunsthalle Frankfurt präsentiert die Ausstellungen „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“ und „Richard Jackson. Unexpected Unexplained Unaccepted“, beide werden bis 5. Juli verlängert.

Neben der Sammlungspräsentation im Städel Museum ist die Sonderausstellung „EN PASSANT. Impressionismus in Skulptur“ mit der Öffnung des Museums erstmals für das Publikum zu sehen. Sie wird bis 25. Oktober verlängert. Die geplante Ausstellung der Graphischen Sammlung „Städels Erbe. Meisterzeichnungen aus der Sammlung des Stifters“ wird am 13. Mai eröffnet. Ab dem 19. Mai ist ebenfalls die neupräsentierte Dauerausstellung der Sammlung Gegenwartskunst „ZURÜCK IN DIE GEGENWART. NEUE PERSPEKTIVEN, NEUE WERKE – DIE SAMMLUNG VON 1945 BIS HEUTE“ für das Publikum zugänglich.

In der Liebieghaus Skulpturensammlung werden die Sammlungspräsentation mit „White Wedding. Die Elfenbein-Sammlung Reiner Winkler jetzt im Liebieghaus. Für immer“ und die Sonderausstellung „BUNTE GÖTTER – GOLDEN EDITION. Die Farben der Antike“ wieder geöffnet. Die Sonderausstellung wird bis 17. Januar 2021 verlängert.

Philipp Demandt, Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt, des Städel Museums und der Liebieghaus Skulpturensammlung über die Wiedereröffnungen der Häuser: „Dass es in den letzten Wochen in vielen persönlichen Gesprächen gelungen ist, unsere Leihgeber in den wichtigsten internationalen Museen von einer substantiellen Verlängerung unserer Sonderausstellungen zu überzeugen, ist ein besonderes Zeichen der Solidarität und ein Beweis für den herausragenden Ruf unserer Häuser. Für die einmalige Gelegenheit, Meisterwerke von Frida Kahlo, Edgar Degas, Auguste Rodin und John Singer Sargent nun Monate länger als geplant unserem Publikum zeigen zu dürfen, danke ich meinen Kolleginnen und Kollegen weltweit von Herzen und wünsche unseren Besucherinnen und Besuchern viel Freude.“

Der Museums- und Ausstellungsbetrieb in den Häusern wird mit Umsetzung umfassender Hygieneund Schutzmaßnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus (Covid-19) aufgenommen.

HYGIENEPLAN UND VORSORGEMASSNAHMEN

Die Öffnung von Schirn, Städel und Liebieghaus erfolgt entsprechend eines Hygieneplans, der nach behördlichen Vorgaben entwickelt und umgesetzt wurde. Die Vorsorgemaßnahmen für den Infektionsschutz umfassen u. a. eine Besucherbegrenzung und bessere Regulierung der Besucher durch online erhältliche Zeitfenstertickets, eine optimierte Besucherführung in den Häusern sowie eine vermehrte Reinigung neuralgischer Punkte. Die Besucherinnen und Besucher werden vor Ort auf die Hygienevorschriften hingewiesen. Es gilt, in den Häusern die Abstandsregel von mindestens 1,5 Metern und die Nies- und Hust-Etikette einzuhalten sowie einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Dieser kann mitgebracht oder an den Kassen erworben werden.

ÖFFNUNGSZEITEN UND ZEITFENSTERTICKETS IM ONLINESHOP

Schirn Kunsthalle Frankfurt © Foto: Diether v Goddenthow
Schirn Kunsthalle Frankfurt © Foto: Diether v Goddenthow

Die Öffnungszeiten der Schirn werden um den Montag erweitert, beginnend am 11. Mai. Die MINISCHIRN bleibt vorerst geschlossen. Für das Städel und das Liebieghaus gelten die regulären Öffnungszeiten. Von der Öffnung ausgenommen sind die Bibliothek & Mediathek im Städel Museum sowie die Cafés der Museen. Das Schirn Café bietet Speisen und Getränke zum Mitnehmen.

Zeitfenstertickets für die Schirn, das Städel und Liebieghaus sind vor dem Besuch in den Onlineshops zu erwerben, beginnend am 5. Mai.
Schirn Kunsthalle Frankfurt: www.schirn.de/tickets
Städel Museum: shop.staedelmuseum.de
Liebieghaus Skulpturensammlung: liebieghaus.ticketfritz.de

Bis auf Weiteres finden in allen drei Häusern keine Veranstaltungen und Führungen statt.
Informationen zu allen ausstellungsbegleitenden digitalen Vermittlungsangeboten wie etwa Audioguide-Apps und Digitorials® finden sich auf den Websites und in den Social Media Kanälen von Schirn, Städel und Liebieghaus.

DIE SONDERAUSSTELLUNGEN UND PRÄSENTATIONEN IN DER ÜBERSICHT

SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT

STÄDEL MUSEUM

LIEBIEGHAUS SKULPTURENSAMMLUNG

Alle Informationen finden sich auch online unter www.schirn.de, www.staedelmuseum.de und
www.liebieghaus.de.