Kategorie-Archiv: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2022

Serhij Zhadan mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2022 in der Frankfurter Paulskirche ausgezeichnet

Der Stiftungsrat hat den ukrainischen Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan zum Friedenspreisträger des Jahres 2022 gewählt. Heute  am Sonntag, 23. Oktober 2022 fand die Verleihung in der Frankfurter Paulskirche statt. © Foto: Diether von Goddenthow
Der Stiftungsrat hat den ukrainischen Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan zum Friedenspreisträger des Jahres 2022 gewählt. Heute am Sonntag, 23. Oktober 2022 fand die Verleihung in der Frankfurter Paulskirche statt. © Foto: Diether von Goddenthow

ffm. Der ukrainische Schriftsteller, Dichter, Übersetzer und Musiker Serhij Zhadan ist am Sonntag, 23. Oktober, mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. Die Verleihung fand vor rund 600 geladenen Gästen in der Frankfurter Paulskirche statt, unter ihnen Kulturstaatsministerin Claudia Roth, Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt sowie die SPD-Vorsitzende Saskia Esken. Die Laudatio hielt  Autor*in, Theatermacher*in und Kurator*in Sasha Marianna Salzmann.

In seiner Dankesrede schildert Zhadan die schmerzhafte Erfahrung, wie der Druck des Krieges Sprache in ihrer gewohnten Form beschädigt. Was tun, fragt er, wenn Wörter das, was passiert, nicht mehr erklären können? Es sei unerträglich, die Sprache als vertrautes Mittel der Verständigung zu verlieren.

„Wie soll man über den Krieg sprechen? Wie soll man mit den Intonationen umgehen, in denen so viel Verzweiflung, Wut und Verletzung mitschwingt, zugleich aber auch Stärke und die Bereitschaft, zueinander zu stehen, nicht zurückzuweichen? Ich glaube, das Problem mit der Formulierung der zentralen Dinge liegt derzeit nicht nur bei uns – die Welt, die uns zuhört, tut sich manchmal schwer, eine einfache Sache zu verstehen – dass wir, wenn wir sprechen, ein hohes Maß an sprachlicher Emotionalität, sprachlicher Anspannung, sprachlicher Offenheit zeigen. Die Ukrainer müssen sich nicht für ihre Emotionen rechtfertigen, aber sicher wäre es gut, diese Emotionen zu erklären. Warum? Schon allein deshalb, damit sie den Zorn und den Schmerz nicht länger allein bewältigen müssen.“

Karin Schmidt-Friderichs, die Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und Vorsitzende des Stiftungsrates, übergab Serhij Zhadan in der Frankfurter Paulskirche die Friedenspreis-Urkunde. © Tobias Bohm
Karin Schmidt-Friderichs, die Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und Vorsitzende des Stiftungsrates, übergab Serhij Zhadan in der Frankfurter Paulskirche die Friedenspreis-Urkunde. © Tobias Bohm

Seine Rede ist der Versuch einer Erklärung gegenüber Menschen, die den Krieg aus der Ferne beobachten – auch indem er von den Lebensrealitäten seiner Landsleute vor Ort berichtet. Das Problem, das er schildert, ist kein rein sprachliches, sondern auch ein ethisches. Zhadan fragt, ob die Welt bereit sei, um „fragwürdiger materieller Vorteile und eines falschen Pazifismus Willen“ ein weiteres Mal „das totale, enthemmte Böse zu schlucken“.

„Frieden sollte doch die Sache sein, die uns zur Verständigung führt“, sagt er. „Warum werden die Ukrainer dann so oft hellhörig, wenn europäische Intellektuelle und Politiker den Frieden zu einer Notwendigkeit erklären? Nicht etwa, weil sie die Notwendigkeit des Friedens verneinen, sondern aus dem Wissen heraus, dass Frieden nicht eintritt, wenn das Opfer der Aggression die Waffen niederlegt. (…) Was sollten sie denn nach Meinung der Anhänger eines um jeden Preis schnell geschlossenen Friedens tun? Wo sollte für sie die Grenze zwischen einem Ja zum Frieden und einem Nein zum Widerstand verlaufen?“

Zhadan weiter: „Wenn wir jetzt, im Angesicht dieses blutigen, dramatischen und von Russland entfesselten Krieges über Frieden sprechen, wollen einige eine simple Tatsache nicht zur Kenntnis nehmen: Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden. Es gibt verschiedene Formen eines eingefrorenen Konflikts, es gibt zeitweilig besetzte Gebiete, es gibt Zeitbomben, getarnt als politische Kompromisse, aber Frieden, echten Frieden, einen Frieden, der Sicherheit und Perspektive bietet, gibt es leider nicht. (…) Wir unterstützen unsere Armee nicht deshalb, weil wir Krieg wollen, sondern weil wir unbedingt Frieden wollen.“

Blick auf die erste Reihe, v.l.n.r.: Doris Plöschberger, Suhrkamp Verlag, Laudator*in Sasha Marianna Salzmann, Preisträger Serhij Zhadan, Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Bertram Schmidt-Friderichs, Verleger, Kulturstaatsministerin Claudia Roth und Kulturdezernentin Ina Hartwig, Copyright: Stadt Frankfurt am Main, Foto: Holger Menzel
Blick auf die erste Reihe, v.l.n.r.: Doris Plöschberger, Suhrkamp Verlag, Laudator*in Sasha Marianna Salzmann, Preisträger Serhij Zhadan, Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Bertram Schmidt-Friderichs, Verleger, Kulturstaatsministerin Claudia Roth und Kulturdezernentin Ina Hartwig, Copyright: Stadt Frankfurt am Main, Foto: Holger Menzel

Sasha Marianna Salzmann betont in der Laudatio, dass Literatur zwar keinen Krieg beenden könne, wohl aber die Welt in sich zusammenhalte, indem sie uns die „Innenseite des Menschlichen“ erfahren lasse. Serhij Zhadan gelinge dies in seinem Werk insbesondere durch die Nähe zum Erleben der geschilderten Personen. „Zhadan, der uns in seinem Werk so viele unterschiedliche Biografien wie nur möglich vergegenwärtigt, wählt nie die Vogelperspektive. Wir werden in seinem Blick keine Distanz erkennen. (…) In einer Zeit, in der Worte, Positionen, Urteile uns wundreiben bis aufs Fleisch, schafft dieser Dichter Momente des Aufatmens durch radikale Menschlichkeit. (…) Jeder einzelne von Zhadans Texten wird bestimmt von der Haltung des Dialogs, der Auseinandersetzung mit seiner Außenwelt.“

Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins, betont, dass der Stiftungsrat mit seiner Entscheidung für den Friedenspreisträger in Zeiten des Krieges in Europa ein Zeichen setzen wollte. Zhadans Werk habe sprachlich, literarisch und musikalisch begeistert, zugleich sei sein Engagement für die Menschen in seiner Heimat zutiefst beeindruckend: „Danke, lieber Serhij Zhadan, dass Sie uns mit Ihrer Dichtung auf die wesentlichen Fragen zurückwerfen, uns herausfordern, verunsichern. Danke, dass Sie die lange Reise auf sich genommen haben, weg von Ihren Landsleuten, um die Sie sich sorgen und für die Sie unermüdlich da sind – unter Einsatz Ihres Lebens! Danke für Ihre Romane, Ihre Gedichte, Ihre Musik. Das Zeugnis, das Sie ablegen. Über den Krieg.“

Auch Kulturdezernentin Ina Hartwig betont die besondere Rolle, die Literatur bei der Vermittlung von Wahrheit einnimmt: „Die Wahrheit der Literatur ist etwas anderes als die der Medien. Poesie und Prosa sind vielschichtiger, widersprüchlicher, mitunter auch hermetischer. Sie sprechen zu uns auf andere Weise, berühren uns anders, tiefer.“

Seit 1950 vergibt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Preisträger waren unter anderem Sebastião Salgado, Albert Schweitzer, Astrid Lindgren, Václav Havel, Jürgen Habermas, Susan Sontag, Liao Yiwu, Navid Kermani, Margaret Atwood, Aleida und Jan Assmann und im vergangenen Jahr Tsitsi Dangarembga. Der Preis ist mit 25.000 Euro dotiert.

Die Reden von Serhij Zhadan und Sasha Marianna Salzmann sind abrufbar unter friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de. Das Buch mit allen Reden der Preisverleihung ist ab dem 23. November zum Preis von 19,90 Euro im Buchhandel oder beim MVB-Kundenservice per E-Mail an kundenservice@mvb-online.de erhältlich.

Serhij Zhadan erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2022

© Mykola Swarnyk (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en)
© Mykola Swarnyk (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en)

Der Stiftungsrat des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hat den ukrainischen Schriftsteller, Dichter, Übersetzer und Musiker Serhij Zhadan zum diesjährigen Träger des Friedenspreises gewählt.

In der Begründung des Stiftungsrats, dessen Vorsitzende Börsenvereins-Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs ist, heißt es:
„Wir ehren den ukrainischen Schriftsteller und Musiker für sein herausragendes künstlerisches Werk sowie für seine humanitäre Haltung, mit der er sich den Menschen im Krieg zuwendet und ihnen unter Einsatz seines Lebens hilft. In seinen Romanen, Essays, Gedichten und Songtexten führt uns Serhij Zhadan in eine Welt, die große Umbrüche erfahren hat und zugleich von der Tradition lebt. Seine Texte erzählen, wie Krieg und Zerstörung in diese Welt einziehen und die Menschen erschüttern. Dabei findet der Schriftsteller eine eigene Sprache, die uns eindringlich und differenziert vor Augen führt, was viele lange nicht sehen wollten. Nachdenklich und zuhörend, in poetischem und radikalem Ton erkundet Serhij Zhadan, wie die Menschen in der Ukraine trotz aller Gewalt versuchen, ein unabhängiges, von Frieden und Freiheit bestimmtes Leben zu führen.“

Serhij Zhadan, der zu den wichtigsten Stimmen der ukrainischen Gegenwartsliteratur gehört, wurde am 23. August 1974 in Starobilsk im Gebiet Luhansk der (damaligen Sowjetrepublik) Ukraine geboren. In Charkiw studierte Zhadan Literaturwissenschaft, Ukrainistik sowie Germanistik und promovierte 1996 mit einer Arbeit zum ukrainischen Futurismus. Seit Anfang der 1990er Jahre prägt er die Kulturszene Charkiws, organisiert Literatur- und Musikfestivals und veröffentlicht Romane, Gedichte, Erzählungen und Essays. Seit der Besetzung der Krim 2014 engagiert er sich mit sozialen und kulturellen Projekten in der zum Teil von den prorussischen Separatisten besetzen Ostukraine. Mit Beginn des Einmarschs Russlands in die Ukraine Ende Februar 2022 leistet er verstärkt humanitäre Hilfe.

In seinen frühen literarischen Werken setzt sich der Autor intensiv mit der postsowjetischen Umbruchszeit auseinander. Sein dritter Roman „Die Erfindung des Jazz im Donbass“ (2012, Org. 2010), eine Art Road-Novel, spielt im Industrierevier Donbass, das mit surrealen Elementen und einer anarchischen Erzählweise poetisch aufgeladen wird und den Hintergrund bildet für eine Suche nach Heimat inmitten einer zunehmend entgrenzten Welt. Die ukrainische BBC wählte den Text zum „Buch des Jahrzehnts“. Sein Werk wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und erhielt weitere Auszeichnungen wie den Brücke Berlin Literatur- und Übersetzerpreis und den Vasyl-Stus-Preis des ukrainischen PEN-Zentrums. Sein jüngster Roman „Internat“ (2018, Original: 2017) erzählt eindrücklich vom Krieg im Donbass. Ein durch das Kriegsgebiet reisender Lehrer gerät im dichten Nebel immer wieder zwischen die Frontlinien und wird mit der Frage konfrontiert, ob man im Krieg neutral bleiben kann. Die Roman-Übersetzung erhielt 2018 den Preis der Leipziger Buchmesse.

Zhadan verfasst seine Texte auf Ukrainisch, er übersetzt aber auch Lyrik aus dem Deutschen, Englischen, Belarussischen und Russischen ins Ukrainische. Zudem schreibt er Songtexte für verschiedene Rockbands und ist seit 2007 Sänger der ukrainischen Band „Sobaki v kosmosi“ (deutsch: Hunde im Weltraum).

Die von ihm gegründete Serhiy Zhadan Charitable Foundation, die seit 2017 Bildungs- und Kulturinitiativen in den Kriegsgebieten der Ostukraine fördert, ist nur ein Beispiel für sein intensives soziales und kulturelles Engagement, das sich nach dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine noch verstärkt hat: Weiterhin in Charkiw lebend, organisiert er Konzerte, rettet Menschen aus umkämpften Vierteln, liest Gedichte und verteilt Hilfsgüter in der Stadt. Seine jüngsten Artikel über die Situation in der Ukraine sind aktuelle Zeitdokumente darüber, wie die dort lebenden Menschen im Angesicht von Gewalt und Bedrohung versuchen, ihren Alltag zu organisieren.

Dem Stiftungsrat gehören an: Klaus Brinkbäumer, Prof. Dr. Peter Dabrock, Prof. Dr. Raphael Gross, Prof. Dr. Moritz Helmstaedter, Dr. Nadja Kneissler, Felicitas von Lovenberg, Prof. Dr. Ethel Matala de Mazza, Prof. Bascha Mika sowie Karin Schmidt-Friderichs.

Die Verleihung des Friedenspreises findet am Sonntag, 23. Oktober 2022, in der Frankfurter Paulskirche statt und wird live um 10.45 Uhr in der ARD übertragen. Der Friedenspreis wird seit 1950 vergeben und ist mit 25.000 Euro dotiert.

Weitere Informationen sind abrufbar unter www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de.

Kandidaten für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2022 gesucht

Die öffentliche Ausschreibung für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2022 beginnt: Ab sofort kann jeder seine Favoriten für die Auszeichnung vorschlagen. Einreichungsschluss für die Vorschläge ist der 1. März 2022.

Seit 1950 würdigt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels mit dem Preis alljährlich das Schaffen einer „Persönlichkeit, die in hervorragendem Maße vornehmlich durch ihre Tätigkeit auf den Gebieten der Literatur, Wissenschaft oder Kunst zur Verwirklichung des Friedensgedankens beigetragen hat“. Der Preis ist mit 25.000 Euro dotiert.

2021 wurde die simbabwische Autorin und Filmemacherin Tsitsi Dangarembga mit dem Friedenspreis ausgezeichnet. Zu den weiteren Preisträgern  zählen unter anderem der in 2020 ausgezeichnete Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Amartya Sen sowie Jürgen Habermas, Orhan Pamuk, David Grossman, Swetlana Alexijewitsch, Carolin Emcke, Margaret Atwood, Sebastião Salgado sowie Aleida und Jan Assmann.

Die Vorschläge mit Angaben zu Leistungen und Veröffentlichungen der Persönlichkeit können online, per E-Mail oder per Post eingereicht werden. Selbstvorschläge sind nicht möglich. Die Empfehlungen nimmt entgegen: Börsenverein des Deutschen Buchhandels, Geschäftsstelle Friedenspreis, z. Hd. Martin Schult, Schiffbauerdamm 5, 10117 Berlin, E-Mail: m.schult@boev.de.

Im Frühjahr 2022 wählt der Stiftungsrat des Friedenspreises aus den Vorschlägen den oder die diesjährige Preisträger/in. Bekanntgegeben wird die Entscheidung im Juni 2022. Die Preisverleihung findet am 23. Oktober 2022 zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse in der Paulskirche in Frankfurt statt.

Weitere Informationen gibt es unter www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de.