Kategorie-Archiv: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2016

„Wir müssen uns nicht mögen!“ – Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2016 an Carolin Emcke

Konzentriert lauschen die prominenten Gäste in der Paulskirche Seyla Benhabibs Laudatio   (v.r.) Bundespräsident Joachim Gauck, Friedenspreisträgerin Carolin Emcke. Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow
Konzentriert lauschen die prominenten Gäste in der Paulskirche Seyla Benhabibs Laudatio (v.r.) Bundespräsident Joachim Gauck, Friedenspreisträgerin Carolin Emcke. Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow

Die deutsche Journalistin und Publizistin Carolin Emcke ist heute mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. Die Verleihung fand vor rund 1.000 geladenen Gästen in der Frankfurter Paulskirche statt, unter ihnen Bundespräsident Joachim Gauck. Die Laudatio hielt die Philosophin Seyla Benhabib.

Oberbürgermeister Peter Feldmann. Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow
Oberbürgermeister Peter Feldmann. Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow

Oberbürgermeister Peter Feldmann hatte bei seiner Begrüßung im Namen der Stadt Frankfurt unter anderem darauf hingewiesen, dass der Ort, an dem diese Auszeichnung alljährlich vergeben wird, die Wiege der Demokratie in Deutschland sei. Er hatte Carolin Emcke gratuliert und für ihr unermüdliches  Engagement gedankt, trotz oder wegen weltweiter Kriege und der wachsenden Zahl religiöser wie nationalistischer Fanatiker, die das gesellschaftliche Klima vergifteten, „unablässig an Aufklärung, Moral und Humanität“ zu appellieren. „Sie tun dies nicht mit dem Pathos des erhobenen Zeigefingers“, so Feldmann, „sondern schlicht und ergreifend dadurch, das Sie die Dinge zeigen und benennen, wie sie sind“.

Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow
Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow

„Carolin Emcke macht uns klar, dass es einen Zusammenhang zwischen Gewalt und Sprache und Gewalt und Sprachlosigkeit gibt“, sagte Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins. „Sie schreibt das auf, was andere ihr erzählen und was sie selbst dabei empfindet, nämlich oft Angst, Wut und Hilflosigkeit. Ihre Reportagen und Briefe über ihre Reisen zu den Brennpunkten unserer Welt sind somit mehr als nüchterne Berichte. Sie rufen uns immer wieder und neu ins Gedächtnis, dass die Welt in Aufruhr ist, dass es an allen Ecken und Enden brennt. Auch der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels lebt von der Sprache und setzt mit den Reden seiner Preisträger Zeichen für Frieden und Verständigung.“
(Das vollständige Grußwort von Heinrich Riethmüller).

Professor Dr. Seyla-benhabib. Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow
Professor Dr. Seyla-benhabib. Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow

In ihrer Laudatio stellte Seyla Benhabib Carolin Emckes Erzählkunst in den Mittelpunkt, die es ihr ermögliche, Dinge so zu benennen und zu erzählen, dass das Schweigen durchbrochen wird. „Als Erzählerin hat sie eine einmalige Mischung aus Reportage, philosophischer Reflektion und literarischer Komposition geschaffen, durch die sie ,moralisches Zeugnis‘ ablegen kann über menschliches Leid in gewaltsamen Konflikten, aber auch über andere Formen von Leid und Schweigen, die all jene verspüren, die anders sind, sei es sexuell, psychologisch, religiös oder ethnisch. Dadurch erlöst sie den Schmerz der Nicht-Sagbarkeit und bringt die Mauern des Schweigens und Leids zu Fall, hinter denen sich das Trauma des Unsäglichen auftürmt“, so Benhabib.
(Die vollständige Laudatio von Seyla Benhabib)

Wir müssen uns nicht mögen – aber in unserer Andersartigkeit respektieren.
Carolin Emcke auf der Pressekonferenz.  Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow
Carolin Emcke auf der Pressekonferenz. Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow

Carolin Emcke rief in ihrer Dankesrede dazu auf, sich gemeinsam für eine freiheitliche und demokratische Gesellschaft einzusetzen. „Wir dürfen uns nicht wehrlos und sprachlos machen lassen. Wir können sprechen und handeln. Wir können die Verantwortung auf uns nehmen. Und das heißt: Wir können sprechend und handelnd eingreifen in diese sich zunehmend verrohende Welt“, so Emcke.

Dieser ausgrenzende Fanatismus“, so Emcke“ beschädigt nicht nur diejenigen, die er sich zum Opfern sucht, sondern alle, die in einer offenen, demokratischen Gesellschaft leben wollen. Das Dogma des Homogenen, Reinen, Völkischen verengt die Welt. Es schmälert den Raum, in dem wir einander denken und sehen können. Es macht manche sichtbar und andere unsichtbar. Es versieht die einen mit wertvollen Etiketten und Assoziationen und die anderen mit abwertenden. Es begrenzt die Phantasie, in der wir einander Möglichkeiten und Chancen zuschreiben. Mangelnde Vorstellungskraft und Empathie aber sind mächtige Widersacher von Freiheit und Gerechtigkeit.

Das ist eben das, was die Fanatiker und Populisten der Reinheit wollen: sie wollen uns die analytische Offenheit und Einfühlung in die Vielfalt nehmen. Sie wollen all die Gleichzeitigkeiten von Bezügen, die uns gehören und in die wir gehören, dieses Miteinander und Durcheinander aus Religionen, Herkünften, Praktiken und Gewohnheiten, Körperlichkeiten und Sexualitäten vereinheitlichen.“

Emcke gleißelt die Pathologie unserer Zeit, nämlich, dass Menschen „nach Begriffen und Hautfarben, nach Herkunft und Glauben, nach Sexualität und Körperlichkeiten“ klassifiziert und damit Ausgrenzung und Gewalt gegen sie gerechtfertigt würden.

Emcke hinterfragt auch die Bedeutung von „Zugehörigkeit“ : „Ist Zugehörigkeit also etwas, das aufscheint im Zusammensein mit anderen oder etwas, das aufscheint, wenn man als einziger aus einer Gemeinschaft herausfällt? „ und fragte dann: „Wem gehört also dieses An-gehöreneinem selbst oder den anderen? Gibt es das nur in einer Form oder in verschiedenen? Und vor allem: wieviele Kontexte und Verbindungen können für mich in diesem Sinne relevant und wichtig sein? Wieviele Schnittmengen gibt es von Kreisen, in denen ich passend bin und aus denen ich mich als Individuum zusammensetze?“

Aufgrund ihrer Homosexualität hat Carolin Emcke selbst erfahren, wie es sich anfühlen kann, als „nichtzugehörig“ eingestuft zu werden. So ahnte sie nicht, als sie sich das erste Mal in eine Frau verliebte, dass dies mit einer „Zugehörigkeit verbunden wäre“. Carolin Emcke war der Ansicht, „wie und wen ich liebe, sei eine individuelle Frage, eine, die vor allem mein Leben auszeichnete und für andere, Fremde oder gar den Staat, nicht von Belang. Jemanden zu lieben und zu begehren, das schien mir vornehmlich eine Handlung oder Praxis zu sein, keine Identität.

Es ist eine ausgesprochen merkwürdige Erfahrung, dass etwas so Persönliches für andere so wichtig sein soll, dass sie für sich beanspruchen, in unsere Leben einzugreifen und uns Rechte oder Würde absprechen wollen. Als sei die Art wie wir lieben für andere bedeutungsvoller als für uns selbst, als gehörten unsere Liebe und unsere Körper nicht uns, sondern denen, die sie ablehnen oder pathologisieren. Das birgt eine gewisse Ironie: Als definierte unsere Sexualität weniger unsere Zugehörigkeit als ihre. Manchmal scheint mir das bei der Beschäftigung der Islamfeinde mit dem Kopftuch ganz ähnlich. Als bedeutete ihnen das Kopftuch mehr als denen, die es tatsächlich selbstbestimmt und selbstverständlich tragen.“ so Emcke.

Es ist  die fremdbestimmende, entmündigende und einengende Übergriffigkeit  in die Freiheit des Lebens anderer, die Emcke geißelt, wer auch immer ihre Urheber sind,  privat wie auch öffentlich. Sie stellt dem Gleichschaltungswahn von „homogenen Volk“ oder „wahrer Religion„, „das Recht auf Verschiedenheit“ gegenüber. „Verschiedenheit ist kein Grund für Ausgrenzung, Ähnlichkeit  keine Voraussetzung für Grundrechte“ , so Carolin Emcke,:

Das bedeute, „dass wir uns nicht mögen müssen. Wir müssen einander nicht einmal verstehen in unseren Vorstellungen vom guten Leben. Wir können einander merkwürdig, sonderbar, altmodisch, neumodisch, spießig oder schrill finden.
Um es für Paulskirchen-Verhältnisse mal etwas salopp zu formulieren: ich bin Borussia Dortmund Fan. Ich habe, nun ja, etwas weniger Verständnis dafür, wie man Schalke Fan sein kann. Und doch käme ich nie auf die Idee, Schalke Fans das Recht auf Versammlungsfreiheit zu nehmen.“

Hardcover,  € (D) 20,00,  € (A) 20,60, ISBN: 978-3-10-397231-3
Hardcover, € (D) 20,00, € (A) 20,60 , ISBN: 978-3-10-397231-3

Menschen sollen selbst wählen können, wie und mit wem sie leben oder glücklich werden und an was sie glauben oder nicht glauben wollen, solange sie das Anderssein anderer respektieren.

Aber das muss geübt werden: „Eine freie, säkulare, demokratische Gesellschaft ist etwas, das wir lernen müssen. Immer wieder. Im Zuhören aufeinander. Im Nachdenken über einander. Im gemeinsamen Sprechen und Handeln. Im wechselseitigen Respekt vor der Vielfalt der Zugehörigkeiten und individuellen Einzigartigkeiten. Und nicht zuletzt im gegenseitigen Zugestehen von Schwächen und im Verzeihen.“

Natürlich wäre das mühsam und konfliktreich, etwa wenn „die jeweiligen religiösen Bezüge und die säkulare Ordnung in eine gerechte Balance“ gebracht werden müssten.

„Aber warum sollte es auch einfach zugehen?“, fragt Emcke. „Wir können immer wieder anfangen.
Was es dazu braucht?
Nicht viel: etwas Haltung, etwas lachenden Mut und nicht zuletzt die Bereitschaft, die Blickrichtung zu ändern, damit es häufiger geschieht, dass wir alle sagen: Wow. So sieht es also aus dieser Perspektive aus.“, so die Friedenspreisträgerin.

(Den kompletten Text von Carolin Emckes Friedenspreisrede):

Begründung der Jury
Carolin Emcke mit Urkunde  Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow
Carolin Emcke mit Urkunde Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow

„Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein im Jahr 2016 an
Carolin Emcke
und ehrt damit die Journalistin und Publizistin, die mit ihren Büchern, Artikeln und Reden einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Dialog und zum Frieden leistet.

Ihre Aufmerksamkeit gilt dabei besonders jenen Momenten, Situationen und Themen, in denen das Gespräch abzubrechen droht, ja nicht mehr möglich erscheint. Carolin Emcke setzt sich schwierigen Lebensbedingungen aus und beschreibt – vor allem in ihren Essays und ihren Berichten aus Kriegsgebieten – auf sehr persönliche und ungeschützte Weise, wie Gewalt, Hass und Sprachlosigkeit Menschen verändern können. Mit analytischer Empathie appelliert sie an das Vermögen aller Beteiligten, zu Verständi-gung und Austausch zurückzufinden.

Das Werk von Carolin Emcke wird somit Vorbild für gesellschaftliches Handeln in einer Zeit, in der politische, religiöse und kulturelle Konflikte den Dialog oft nicht mehr zulassen. Sie beweist, dass er möglich ist, und ihr Werk mahnt, dass wir uns dieser Aufgabe stellen müssen.“

Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels:
Paulskirche. Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow
Paulskirche. Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow

Seit 1950 vergibt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Preisträger waren neben Amos Oz und Albert Schweitzer unter anderem Astrid Lindgren, Václav Havel, Jürgen Habermas, Susan Sontag, David Grossman, Liao Yiwu, Swetlana Alexijewitsch und im vergangenen Jahr Navid Kermani. Der Preis ist mit 25.000 Euro dotiert.

Weitere Informationen!

 

Buchmesse: Zwischen Zeilen: Literatur aus Kriegs- und Krisengebieten in Frankfurt am Main

freewordsturkey_pressebildwSchriftstellerinnen und Schriftsteller lesen Texte von Kollegen aus Kriegs- und Krisengebieten. Während der Frankfurter Buchmesse lädt die Geschäftsstelle des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels zur Veranstaltungsreihe „Zwischen Zeilen – eine Stunde Schönheit“ in die Katharinenkirche an der Hauptwache ein. Vom 18. bis zum 22. Oktober 2016 machen die Lesungen auf Literatur aufmerksam, die trotz Gewalt und Leid in den betroffenen Regionen geschrieben wird.

Zum Auftakt diskutieren am 18. Oktober um 20 Uhr die syrische Autorin Rasha Abbas und die syrischen Autoren Mohammad Al Attar und Aref Hamza mit Najem Wali und Christine Thalmann über die eigene Identität in einem fremden Land. Sie stellen dabei die Anthologie „Weg sein – hier sein“ (Secession Verlag) vor, die sie gemeinsam mit weiteren syrischen Autoren und Autorinnen geschrieben haben.

Bei „Zwischen Zeilen“ lesen in diesem Jahr außerdem Juri Andruchowytsch, Sherko Fatah, Felicitas Hoppe, Ursula Krechel, Michael Krüger, Martin Mosebach, Edgar Rai, Antje Rávic Strubel, Moritz Rinke, Janne Teller, Ilija Trojanow und Najem Wali Literatur aus dem Irak, Iran, Haiti, Gaza, Türkei und weiteren Ländern im Unruhezustand.

„Die Literatur ist für das gegenseitige Verstehen unabdingbar und deswegen wollen wir mit diesen Lesungen ein Zeichen der Solidarität mit den im Krieg lebenden Menschen und ihren Schriftstellerinnen und Schriftstellern setzen“, so die Initiatoren der Veranstaltungsreihe, die dänische Autorin Janne Teller, Verlegerin Felicitas von Lovenberg und Deutschlandfunk-Korrespondent Stephan Detjen.

Der Eintritt zu den Veranstaltungen ist frei.