Kategorie-Archiv: Freiheit für das Wort

UNESCO ruft zum Internationalen Tag gegen die Straflosigkeit für Verbrechen an Journalisten auf – Für die Meinungsfreiheit !!

Ausschnitt aus UNESCO-Plakat zur Kampagne zum Dowload.
Ausschnitt aus UNESCO-Plakat zur Kampagne zum Download.

Seit 2006 weltweit 827 Journalisten aufgrund ihrer Arbeit getötet
2. November: Internationaler Tag gegen die Straflosigkeit für Verbrechen an Journalisten

Anlässlich des Internationalen Tags gegen Straflosigkeit für Verbrechen an Journalisten am 2. November veröffentlicht die UNESCO den Bericht „Sicherheit von Journalisten und die Gefahr der Straflosigkeit“. Die Publikation hält fest: Von 2006 bis Ende 2015 wurden 827 Journalisten bei der Ausübung ihres Berufes getötet. Lediglich acht Prozent der Todesfälle wurden aufgeklärt. 2015 war mit 115 Ermordeten das zweittödlichste Jahr für Journalisten in den letzten zehn Jahren.

„Durchschnittlich alle fünf Tage wird ein Journalist aufgrund seiner Arbeit umgebracht. Hinzu kommen Verbrechen wie Entführungen, willkürliche Verhaftungen, Folter, Einschüchterungen, Belästigungen und die Beschlagnahmung von Recherchematerial. Wenngleich wir eine erhöhte Bereitschaft vieler Länder bei der Ahndung dieser Straftaten feststellen, bleibt die Ermordung von Journalisten bei einer Aufklärungsrate von acht Prozent erschreckend oft ohne Konsequenzen für die Täter. Straflosigkeit stärkt die Täter, gefährdet die Prinzipien des Rechtsstaats und führt zu Angst und Selbstzensur der Journalisten. Darunter leidet die gesamte Gesellschaft.“, sagt Professor Wolfgang Schulz, Vorstandsmitglied der Deutschen UNESCO-Kommission und Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls für Kommunikations- und Informationsfreiheit in Hamburg.

Der UNESCO-Bericht zeigt: In den Jahren 2014 und 2015 wurden 213 Journalisten aufgrund ihrer Arbeit getötet, 78 von ihnen befanden sich in der arabischen Region, die damit aufgrund der Konflikte in Syrien, dem Irak, Jemen und Libyen erneut die für Journalisten weltweit gefährlichste Region war. 51 Journalisten wurden in Lateinamerika und der Karibik umgebracht, 34 in Asien und der Pazifikregion, 27 in Afrika und zwölf in Zentral- und Osteuropa. Mit elf Todesfällen ist die Mordrate unter Journalisten in Westeuropa erheblich gestiegen, insbesondere aufgrund der Tötung von acht Mitgliedern der Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo in Paris im Januar 2015.

In den letzten zehn Jahren wurden insbesondere Printjournalisten Opfer von Tötungsdelikten. 2014 und 2015 hingegen arbeitete die Mehrzahl der ermordeten Journalisten für das Fernsehen. Ein erheblicher Anstieg wurde 2015 bei der Anzahl der getöteten Online-Journalisten verzeichnet. Von den 21 ermordeten Online-Journalisten waren fast die Hälfte syrische Journalisten und Blogger. 59 Prozent aller Todesfälle 2014/2015 ereigneten sich in bewaffneten Konflikten.

Fast 90 Prozent der Opfer in den Jahren 2014 und 2015 waren Lokaljournalisten – ein Trend, der sich bereits in der letzten Dekade abzeichnete. Freie Journalisten, die oft ohne angemessenen Schutz arbeiten, sind die am stärksten gefährdete Gruppe im Mediensektor. 40 freie und Bürgerjournalisten, die online Berichterstattung leisteten, wurden in den vergangenen zwei Jahren umgebracht.

Hintergrund

Die UNESCO fördert die Presse- und Meinungsfreiheit weltweit und unterstützt den Aufbau unabhängiger und pluralistischer Medien. Sie prangert die Ermordung von Journalisten an und arbeitet für die Aufklärung von Verbrechen an Journalisten. Besonders in Krisen- und Konfliktregionen unterstützt die UNESCO freie und unabhängige Medien dabei, Prozesse der Konfliktlösung, der Demokratisierung und der Friedenssicherung zu gestalten. Mit zahlreichen regionalen Projekten fördert sie die Aus- und Fortbildung von Journalisten.

Weitere Informationen

Kurzfassung des UNESCO-Berichts „Sicherheit von Journalisten und die Gefahr der Straflosigkeit“ (in englischer Sprache)
Poster Download
(Das Poster ist komprimiert. Um das Poster in voller Auflösung zu erhalten, schreiben Sie bitte eine E-Mail an die unten genannte E-Mail Adresse.)

Für Meinungsfreiheit und die Freiheit des Wortes – 68. Frankfurter Buchmesse eröffnet mit ein wenig royalem Glanz

Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments eröffnet die Frankfurter Buchmesse. Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow
Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments eröffnet die Frankfurter Buchmesse. Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow

 

Mit einem Appell zur Meinungsfreiheit „Meinungsfreiheit ist ein Menschenrecht!“ und mit eindringlichen Warnungen gegen erstarkende Nationalismen und Intoleranz in Europa wurde am Dienstag die 68. Frankfurter Buchmesse feierlich eröffnet. Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, rief leidenschaftlich den über 1000 Gästen zu: „Es gilt, unser europäisches Gesellschaftmodell gegen die Feinde der Freiheit zu verteidigen“, und dabei könne das Lesen  eine große Hilfe sein,  so Martin Schulz, der durch Lesen einst seinen Weg fand. „Das Lesen hat mich einst gerettet“ sagte er. Nach abgebrochener Ausbildung machte er schließlich eine Buchhändlerlehre, später hatte er selbst einen kleinen Buchladen im Aachener Raum, bevor seine steile politische Karriere begann. „Ein Volk, welches liest,“ so Schulz, „wird nicht gewalttätig!“.
Schulz forderte einen „Aufstand der Anständigen“ gegen den wachsenden Populismus in Europa. Börsenvorsteher Heinrich Riethmüller rief die Besucher der Buchmesse auf, gemeinsam gegen Meinungs- und Redefreiheit aufzustehen.

v.l.n.r. Ihre Majestäten Paola und Philippe von Belgien, Willem von Niederlanden. Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow
v.l.n.r. Ihre Majestäten Mathilde und Philippe von Belgien, Willem von Niederlanden. Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow

Für  royalen Glanz sorgten Ihre Majestäten Philippe von Belgien nebst Gattin Mathilde und Willem-Alexander der Niederlade zum Auftakt der Eröffnungsveranstaltung. Anschließend oblag es der Delegation den Ehrengast-Pavillon  „Flandern und Niederlande“ im Forum Buchmesse zu eröffnen.

 

Kulturelle Reinheit ist ein Widerspruch

Jürgen Boos Direktor der Frankfurter Buchmesse. Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow
Jürgen Boos Direktor der Frankfurter Buchmesse. Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow

Juergen Boos, Direktor der Buchmesse, hatte den Reden-Reigen eröffnet. In  seiner Begrüßung  unterstrich er die Perspektivenvielfalt, die „unsere Kultur beflügele“. Er sei schon sehr zuversichtlich, „dass uns Goethe durch fremde Kultureinflüsse nicht abhanden käme“. Kulturelle Reinheit sei ein Widerspruch an sich. Es gelte die Dinge immer wieder neu zusammenzustellen und neu zu sehen, wozu Juergen Boos David Hockneys Bildcollagen aus den 80er Jahren heranzog: „Wir haben dieses Jahr den großen Maler David Hockney auf der Buchmesse. In den 80er Jahren fotografierte David Hockney Polaroids unterschiedliche Situationen aus mehreren Perspektiven heraus, und klebte diese Polaroids aneinander. Es entstanden traumhafte Bilder, die durch ihre Perspektivenvielfalt die Sicht auf die Dinge erweitern: Von den vielen Menschen, die in den letzten Monaten zu uns ins Land gekommen sind, erwarten wir, wenn sie es denn hierher geschafft haben, dass sie sich integrieren, dass sie sich unauffällig und nahtlos in unsere Kultur einfügen, und diese ansonsten unberührt lassen. Diesen einbetonierten behaupteten kulturellen Status Quo begegnen wir leider zurzeit an vielen Orten der Welt. Kulturelle Reinheit ist ein Widerspruch an sich, da Kulturen schon immer durch Vermischungen entstanden sind, und Kreativität durch irritierende Unterschiede und in der Überraschung des Neuen gedeiht. Das Mir gefällt an Collagen, dass man erst einmal losziehen muss, um verschiedene Situationen, Gedanken und Bilder einzusammeln, die später ein neues Bild ergeben. Danach fängt man an, die einzelnen Elemente aneinanderzulegen, und probiert aus, wie sich Dinge zu einer neuen Idee zusammenfügen lassen. Interessant sind aber die Schnittstellen, an denen die Dinge sich überlappen, sie übereinanderliegen oder eben dort, wo sich Lücken auftun, die an unser Denken appellieren, sie mich Neuem zu füllen.

Statt unser viel zu kurzes Leben mit „unveränderlichen Wahrheiten“ zu verstopfen und sie mit unendlicher Energie und Autorität zu verteidigen, sollten Menschen stattdessen besser verstehen lernen, woher die anderen Menschen kommen, und was sie antreibt. „Ich finde es angebracht, wenn wir erst einmal zu hören, wenn wir sprechen und in unseren Köpfen gedankliche Collagen auf den Schnittstellen zusammenbauen. Das ist die Substanz von Literatur: Für mich ist es nicht nur ein friedlicher Weg, sondern ein kreativer. Ich bin zuversichtlich, dass uns Goethe schon nicht abhandenkommen wird. Und sie ahnen, dass es das ist, was auf dieser Woche hier in Frankfurt passieren soll.“ Er wünschte eine friedliche, vor allem perspektivenreiche Woche.

Eröffnungsrede von Vorsteher Heinrich Riethmüller

Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels.Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow
Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels.Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow

„Dit is wat we delen“ – Dies ist, was wir teilen – unter diesem Motto steht der Schwerpunkt der diesjährigen Buchmesse. Das gilt nicht nur für Flandern und die Niederlande, sondern wir alle müs-sen uns fragen: Was teilen wir? Als Mitglieder der Kultur- und Kreativbranche, als Bürger Europas, als Menschen? Und was werden wir in Zukunft teilen?

Zur Eröffnung der 68. Frankfurter Buchmesse begrüße ich Sie im Namen der im Börsenverein des Deutschen Buchhandels versammelten Verleger und Buchhändler sehr herzlich. Fünf Tage lang ste-hen auf der weltweit größten Buchmesse wieder Bücher, Inhalte und Ideen im Mittelpunkt. Kein anderer Ort der Welt bietet so viel Raum für Gespräche, Diskussionen und den Erfahrungsaustausch zwischen Verlegern, Buchhändlern und Medienmachern aus der ganzen Welt.

Besonders freue ich mich, die Vertreterinnen und Vertreter des Ehrengastes Flandern und die Niederlande zu begrüßen. Flandern und die Niederlande sind gemeinsam zu Gast in Frankfurt, weil sie vieles verbindet. Und dieses Verbindende stellen sie in den Vordergrund: die niederländische Sprache, eine gemeinsame Geschichte, Kultur und Literatur. Das, was die beiden Regionen trennt – politische Systeme, Mentalitäten und Sprachunterschiede – tritt in den Hintergrund. Das spiegelt sich im Motto ihres Auftritts wider: „Dies ist, was wir teilen“.

Teilen – das steht für das, was uns Menschen verbindet, was uns eint. Menschen teilen Werte, Ein-stellungen und Ziele – Hoffnungen, Ängste und Wünsche. Teilen heißt auch, jemandem etwas abzu-geben von unseren Gedanken und Gütern. Wer teilt, ist mit anderen Menschen in Kontakt. Teilen steht für Dialog, Austausch und Verständigung.

Wenn man das Weltgeschehen betrachtet, kann man zunehmend den Eindruck gewinnen, dass das, was uns Menschen verbindet, überlagert wird von dem, was uns trennt. An die Stelle des Teilens, der Verbundenheit, des Dialogs tritt das Spaltende, der Dissens, die Konfrontation. An alten und neuen Fronten schwelen Konflikte und zeigen sich Spannungen. Viele Gräben, geografische und ideologi-sche, existieren schon so lange, dass sie unüberbrückbar scheinen. Auch in unserer Gesellschaft drif-tet etwas auseinander. Die europäische Idee bröckelt, Themen wie die Flüchtlingsdebatte spalten die Bevölkerung und die Staaten in Europa. Was mich bei alldem beunruhigt, ist, dass der Dialog immer schwieriger wird. Und das schafft den Nährboden für Hass und Gewalt.

Wie lässt sich dieser Entwicklung entgegentreten? Unsere diesjährige Friedenspreisträgerin Carolin Emcke sagt: „Dem Hass begegnen lässt sich nur, indem man seine Einladung, sich ihm anzuverwan-deln, ausschlägt. Es gilt zu mobilisieren, was dem Hassenden abgeht: genaues Beobachten, nicht nachlassendes Differenzieren und Selbstzweifel.“

Mit diesen Worten spricht Carolin Emcke uns alle an. Die Mittel gegen den Hass, die sie aufführt, zäh-len zu unseren ureigenen Aufgaben als Ideen- und Inhaltsvermittler. Wir können, ja müssen hinter-fragen und kritische Distanz einfordern. Wir können und müssen einfachen Wahrheiten und Verein-heitlichung differenzierte Erklärungen und Vielfalt entgegenhalten. Bücher und Medien teilen – sie verbreiten Wissen, Geschichten und Erfahrungen. Bücher bauen Brücken.

Wir alle – Autoren, Verleger, Buchhändler, Übersetzer und alle anderen, die die Kultur- und Kreativ-branche mitgestalten – wir teilen etwas sehr Wichtiges: Wir können Verständigung und Dialog er-möglichen. Wir bieten Meinungen und Ideen eine Plattform. Wir gestalten den gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozess mit. Nie waren Buchmenschen und Kulturschaffende wichtiger als heute.

Vor diesem Hintergrund ist es umso unverständlicher, dass die Gesetzgebung der Buchbranche der-zeit so viele Steine in den Weg legt. Eine Vielzahl geplanter Reformen gefährdet die deutsche Ver-lagslandschaft in ihrer Qualität und Vielfalt und damit ihren gesellschaftlichen Auftrag.

Noch viel dramatischer ist es, wenn die Publikations- und Meinungsfreiheit eingegrenzt wird, wenn Autoren, Verlage und Buchhandlungen nicht mehr das schreiben, publizieren und verbreiten dürfen, was sie für richtig und wichtig erachten. Die Freiheit des Wortes wird in vielen Teilen der Welt angegriffen. Unbequeme Autorinnen und Autoren, Journalistinnen und Journalisten werden unter Druck gesetzt oder mundtot gemacht. Zeitungen, Verlage und Buchhandlungen, die nicht der politischen Linie folgen, werden geschlossen oder enteignet.

Besonders betroffen macht uns aktuell die Situation in der Türkei. Ein demokratisches Land an der Schwelle zu Europa ist in den vergangenen Monaten in extreme Schieflage geraten. Seit dem Putsch-versuch im Juli hat sich die bereits angespannte Lage für Kultur- und Medienschaffende verschärft. Regierungskritische Autoren, Journalisten und Verleger werden massiv drangsaliert und verfolgt. Mindestens 140 Medienhäuser wurden geschlossen, darunter 30 Buchverlage, auch Kinderbuchverla-ge. Mehr als 130 Autoren und Journalisten sitzen momentan in türkischen Gefängnissen.

Gemeinsam mit dem PEN-Zentrum Deutschland und Reporter ohne Grenzen haben wir deshalb die Petition „FreeWordsTurkey“ gestartet. Darin fordern wir die Bundesregierung und die EU-Kommission auf, die Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit in ihren Entscheidungen, Handlungen und Äu-ßerungen kompromisslos einzufordern und sie nicht zum Verhandlungsgegenstand zu machen. Die Freiheit des Wortes ist ein Menschenrecht und nicht verhandelbar. Über 80.000 Menschen haben die Petition bereits unterzeichnet. Doch die Politik schweigt weiter.

Freiheitliche und demokratische Werte werden Nützlichkeitserwägungen geopfert, etwa im Gegenzug dafür, dass die Türkei für uns den Flüchtlingszuzug regelt oder dass Truppenstützpunkte erhalten bleiben. In dem Moment, in dem wir hier feierlich die Buchmesse eröffnen, sitzen Kolleginnen und Kollegen von uns im Gefängnis. Ihr Verbrechen besteht darin, dass sie ihren Beruf ausgeübt und ihre gesellschaftliche Verantwortung ernst genommen haben.

Einer von ihnen möchte ich heute exemplarisch eine Stimme verleihen. Vor genau acht Jahren war sie hier, auf der Frankfurter Buchmesse. Die Türkei war damals Ehrengast. Heute kann sie nicht hier sein. Denn Aslı Erdoğan befindet sich seit 70 Tagen in Haft. Die 49-jährige Autorin und Journalistin wurde am 16. August in ihrer Wohnung festgenommen, am selben Tag wie 20 andere Journalisten und Angestellte der Zeitung „Özgur Gündem“. Aslı Erdoğan schrieb Kolumnen für die pro-kurdische Tageszeitung und saß in ihrem Beirat. Sie ist Autorin von sieben Romanen, die in 15 Sprachen über-setzt wurden, und Mitglied im türkischen PEN. Als Kolumnistin prangerte sie das Vorgehen des türki-schen Staates gegen Kurden an, machte Folter und Gewalt gegen Frauen zum Thema und kritisierte die Bedingungen in türkischen Gefängnissen.

Nun sitzt sie selbst im Gefängnis, in einer Zelle zusammen mit 21 Frauen. Aber jemand wie Aslı Erdoğan schweigt nicht, auch nicht in einer solchen Situation. Aus dem Bakirköy Gefängnis in Istan-bul konnte sie eine Botschaft schmuggeln, die sie heute, zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 2016, an uns richten möchte. Ihre Worte möchte ich Ihnen vortragen:

„Aus einem Istanbuler Gefängnis, einem Frauengefängnis zwischen einer Psychiatrie und einem ehemaligen Lepra-Krankenhaus, rufe ich heraus zu euch Literaten. Hinter Steinen, Beton und Sta-cheldraht rufe ich – wie aus einem Brunnenschacht – zu euch: Hier, in meinem Land, lässt man mit einer unvorstellbaren Rohheit das Gewissen verkommen. Dabei wird gewohnheitsmäßig und wie blind versucht, die Wahrheit zu töten. Auch wenn ich nicht weiß wie, aber die Literatur hat es immer geschafft, Diktatoren zu überwinden. Die Literatur, die wir mit unserem eigenen Blut schreiben, denn diese ist für mich die Wahrheit. Herzliche Grüße, Aslı Erdoğan“

„Dies ist, was wir teilen“ – Wir teilen mit Aslı Erdoğan ihren Eifer für Freiheit und Gerechtigkeit und ihren Glauben an die ungeheure Macht, die Sprengkraft der Literatur. Und ich rufe uns auch dazu auf, ihr Leid zu teilen und Solidarität zu zeigen – mit ihr und den Tausenden von Journalisten und Kulturschaffenden weltweit, die verfolgt werden, weil sie das sagen, was sie meinen. Wir fordern die Bundesregierung und die EU-Kommission auf, alles dafür zu tun, dass Menschen wie Aslı Erdoğan wieder in Freiheit leben und ohne Angst um die nackte Existenz ihre Gedanken mit uns teilen kön-nen.

Stellvertretend für alle Verfolgten und Inhaftieren will ich Aslı Erdoğan antworten: Hoffen Sie weiter, kämpfen Sie, geben Sie nicht auf! Wir stehen an Ihrer Seite! Lassen Sie sich nicht ihre Hoffnung und ihre Worte rauben.

Autoren, Verlage, Buchhandlungen, wir alle hier im Saal: Auch wir dürfen die Hoffnung und die Wor-te nicht verlieren. Wir haben die Kraft, den Dialog zu ermöglichen, dem Trennenden das Verbinden-de entgegenzuhalten, Ketten zu sprengen, Mauern einzureißen.

Machen wir uns bewusst, was wir teilen. Wir schaffen gemeinsam einen starken Buchmarkt. Wir können Toleranz fördern und eine freie und lebenswerte Gesellschaft mitgestalten. Machen wir da-von Gebrauch!

Forsa-Umfrage zur Meinungsfreiheit in der Türkei: Bürger fordern stärkeren Einsatz der Bundesregierung


Über zwei Drittel der Menschen in Deutschland sprechen sich für stärkere Kritik an Verletzungen der Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei aus / Umfrage von Forsa im Auftrag des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels / 80.000 Unterzeichner bei Online-Petition #FreeWordsTurkey unter www.freewordsturkey.de/petition / Schwerpunkt Meinungsfreiheit auf der Frankfurter Buchmesse

Die Mehrheit der Bundesbürger fordert ein entschiedeneres Eintreten der deutschen Politik für Meinungsfreiheit in der Türkei. Über zwei Drittel der Menschen (69 Prozent) sind der Ansicht, dass die Bundesregierung die Verletzungen der Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei stärker kritisieren sollte, auch wenn damit Nachteile für Deutschland verbunden wären. Das ergab eine repräsentative Umfrage von Forsa im Auftrag des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels unter 1.000 Bundesbürgern in Deutschland ab 18 Jahren. Ein Großteil der Menschen verfolgt die Entwicklungen in der Türkei aufmerksam. Insgesamt 63 Prozent der Befragten interessieren sich stark für die Geschehnisse, 22 Prozent sogar sehr stark.

Rund 80.000 Menschen haben bereits die Online-Petition #FreeWordsTurkey unter www.freewordsturkey.de/petition unterzeichnet, die vom Börsenverein gemeinsam mit dem PEN-Zentrum Deutschland und Reporter ohne Grenzen initiiert wurde. Sie fordern darin die Bundesregierung und die EU-Kommission auf, die Meinungsfreiheit in ihren Entscheidungen, Handlungen und Äußerungen kompromisslos und aktiv einzufordern und sie nicht zum Verhandlungsgegenstand zu machen.

„Keine Woche vergeht ohne neue Meldungen über Schließungen von Medienhäusern und über verfolgte Journalisten und Autoren in der Türkei. Mit der Verlängerung des Ausnahmezustandes hat sich Präsident Erdoğan für weitere drei Monate einen Freibrief ausgestellt, um unbequeme und regierungskritische Medien zum Schweigen zu bringen. Die Mehrheit der Menschen in Deutschland will von der Bundesregierung ein klares Signal sehen. Die Politik muss sich endlich zu Wort melden und bei der türkischen Regierung die Wahrung der Presse- und Meinungsfreiheit unmissverständlich einfordern“, sagt Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins.

Seit dem Putschversuch im Juli 2016 hat sich die Lage für Medien- und Kulturschaffende in der Türkei erheblich verschärft. Erst kürzlich berichteten Medien über neue Schließungen prokurdischer TV- und Radiostationen. Mehr als 140 Medienhäuser wurden seit Juli geschlossen, darunter 29 Buchverlage. Über 120 Journalistinnen und Journalisten, Autorinnen und Autoren sind derzeit inhaftiert.

Meinungsfreiheit auf der Frankfurter Buchmesse

freewordsturkey_pressebildwDie Freiheit des Wortes ist auch eines der zentralen Themen des Börsenvereins auf der Frankfurter Buchmesse, die am 19. Oktober 2016 startet. Unter dem Motto „Für das Wort und die Freiheit“ finden Veranstaltungen und Aktionen statt. Alle Veranstaltungen an dieser Stelle: http://www.boersenverein.de/de/portal/Veranstaltungen_Meinungsfreiheit/1239255. Hier eine Auswahl:

Lauter werden! Die Verteidigung der Meinungsfreiheit
Freitag, 21. Oktober, 17 Uhr | Forum Börsenverein, Halle 3.1 H 85
Wie ist die Lage von Autorinnen und Autoren, Journalistinnen und Journalisten in der Türkei und in anderen Ländern? Welche Verantwortung hat die Buch- und Medienbranche für die Verteidigung der Meinungsfreiheit? Podiumsdiskussion mit Zeynep Oral (Autorin, PEN Türkei), Daniel Kampa (Hoffmann und Campe Verlag), Moritz Rinke (Autor), Alexander Skipis (Börsenverein), Moderation: Sabine Kieselbach (Deutsche Welle).

Meinungsfreiheit und Populismus in Europa
Mittwoch, 19. Oktober, 11 Uhr | Forum Börsenverein, Halle 3.1 H 85
Zwei Autoren des Ehrengastes Niederlande und Flandern diskutieren mit einer deutschen Autorin. Wie ist es um die Meinungsfreiheit in Belgien, den Niederlanden und Deutschland bestellt? Und welcher Zusammenhang besteht zum Erstarken populistischer Strömungen in den drei Ländern? Podiumsdiskussion mit Khola Maryam Hübsch, Tom Lanoye und Frank Westerman.

Raif Badawi Award for courageous journalists 2016
Mittwoch, 19. Oktober, 15 Uhr | Raum EFFEKT, Halle 3.C Ost
Die Journalistinnen des Dange NWE Flüchtlingsradios aus Halabja (Irak) erhalten in diesem Jahr den Raif Badawi Award. Der Preis würdigt den Einsatz mutiger Journalistinnen und Journalisten in der islamischen Welt und ihre Leistungen für die Meinungsfreiheit. Er wird von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit verliehen, der Börsenverein unterstützt die Auszeichnung.

Friedenspreisträger unterstützen Petition für Meinungsfreiheit in der Türkei #FreeWordsTurkey


Zehn Trägerinnen und Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels stellen sich hinter Petition „Für das Wort und die Freiheit #FreeWordsTurkey“ / Buch- und Medienbranche fordert Bundesregierung und EU-Kommission auf, Meinungsfreiheit kompromisslos zu verteidigen / Bereits über 77.000 Unterzeichner auf www.freewordsturkey.de/petition

Die Petition für Meinungsfreiheit in der Türkei „Für das Wort und die Freiheit #FreeWordsTurkey“ bekommt Unterstützung von Preisträgerinnen und Preisträgern des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Bereits zehn Ausgezeichnete haben sich der Petition angeschlossen und fordern Bundeskanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker auf, sich kompromisslos für die Meinungsfreiheit in der Türkei einzusetzen:

  • Swetlana Alexijewitsch (2013)
  • Carolin Emcke (2016)
  • Alfred Grosser (1975)
  • David Grossmann (2010)
  • Navid Kermani (2015)
  • György Konrád (1991)
  • Wolf Lepenies (2006)
  • Boualem Sansal (2011)
  • Friedrich Schorlemmer (1993)
  • Liao Yiwu (2012)

„Eine jede Demokratie lebt dann und nur dann, wenn sich die Menschen, die in ihr leben, darüber verständigen können, wie sie miteinander leben wollen“, begründet die diesjährige Friedenspreisträgerin Carolin Emcke ihr Engagement, für die Petition einzutreten. „Dafür braucht es das offene Denken und angstfreien Widerspruch, die Freiheit der Kritik wie die der Utopie. Deswegen sind Presse- und Meinungsfreiheit als Grundrechte so existentiell. Journalistinnen und Journalisten, Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu verfolgen, weil sie als unabhängige Instanzen des politischen Wissens und Gewissens ausgeschaltet werden sollen – das alles schützt keine Demokratie. Es zerstört sie.“

Alfred Grosser, Friedenspreisträger von 1975, wirft die Frage auf, ob die augenblickliche Politik der Türkei es überhaupt erlaube, weiter über einen EU-Beitritt des Landes zu sprechen. „Die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören – das ist der Kern des zweiten Artikels der EU-Verfassung. Wenn jeder Journalist, der etwas kritisiert, ein Terrorist sein soll und befürchten muss, keinen Anspruch auf einen fairen Prozess zu haben, dann passt das nicht zu unseren Vorstellungen einer freien, demokratischen Gesellschaft.“

Neben den Preisträgerinnen und Preisträgern unterstützen auch die Laudatorinnen und Laudatoren Wolfgang Frühwald (2007), Hans Maier (1986), Karl Schlögel (2009 und 2013), Gesine Schwan (1977) und Werner Spies (2008) die Petition. Aus dem Stiftungsrat sind Janne Teller und Karl-Josef Kuschel unter den Unterzeichnern.

Über 77.000 Menschen haben bereits die europaweite Online-Petition unter www.freewordsturkey.de/petition unterzeichnet, die vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels, dem PEN-Zentrum Deutschland und Reporter ohne Grenzen initiiert wurde. Autoren, Journalisten, Verlage, Buchhandlungen, Bürgerinnen und Bürger fordern darin die Bundesregierung und die EU-Kommission auf, die Meinungsfreiheit in ihren Entscheidungen, Handlungen und Äußerungen kompromisslos und aktiv einzufordern und sie nicht zum Verhandlungsgegenstand zu machen. Seit dem Putschversuch im Juli 2016 hat sich die Lage für Medien- und Kulturschaffende in der Türkei verschärft. Mehr als 130 Medienhäuser wurden geschlossen, darunter 29 Buchverlage. Über 110 Journalistinnen und Journalisten, Autorinnen und Autoren sind derzeit inhaftiert.

Zur Petition: www.freewordsturkey.de/petition

Petition: Für das Wort und die Freiheit #FreeWordsTurkey

FreeWordsTurkey_PressebildwBundesregierung und EU-Kommission müssen Meinungsfreiheit in der Türkei einfordern 

Börsenverein des Deutschen Buchhandels, PEN-Zentrum Deutschland und Reporter ohne Grenzen fordern von Bundesregierung und EU-Kommission kompromisslosen Einsatz für Meinungsfreiheit in der Türkei / Petition unter http://www.freewordsturkey.de/petition / Bundeskanzleramt mit Aktionsbotschaft angestrahlt

Frankfurt am Main / Berlin / Darmstadt, 29.8.2016 – Die türkische Regierung geht derzeit vehement gegen die Freiheit des Wortes vor. Seit dem Putschversuch vor sechs Wochen werden regierungskritische Autoren, Journalisten, Verleger und andere Medien- und Kulturschaffende massiv drangsaliert und verfolgt. Mindestens 60 Journalisten und Autoren wurden verhaftet, mehr als 130 Medienhäuser wurden geschlossen, darunter 45 Zeitungen, 29 Buchverlage und 15 Magazine. Damit spitzt sich die bereits angespannte Situation für Journalisten, Autoren und Verlage in der Türkei weiter zu.

Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels startet deshalb gemeinsam mit dem PEN-Zentrum Deutschland und Reporter ohne Grenzen die Kampagne „Für das Wort und die Freiheit #FreeWordsTurkey“. Gemeinsam rufen sie dazu auf, eine Online-Petition an die Bundesregierung und die EU-Kommission zu unterzeichnen. Darin appellieren sie an Bundeskanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, die Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit in ihren Entscheidungen, Handlungen und Äußerungen kompromisslos und aktiv einzufordern und sie nicht zum Verhandlungsgegenstand zu machen. Die drei Organisationen fordern die Verantwortlichen dazu auf, ihre Politik gegenüber der Türkei und anderen Ländern, in denen die Meinungsfreiheit massiv eingeschränkt wird, zu überprüfen. Außerdem fordern sie schnelle Hilfe für verfolgte Journalisten und Autoren, zum Beispiel durch die unbürokratische Ausstellung von Nothilfe-Visa.

„Die türkische Regierung greift die Meinungsfreiheit massiv an. Die Bundesregierung und die EU-Kommission dürfen dazu nicht länger schweigen. Die Freiheit des Wortes ist ein Menschenrecht und nicht verhandelbar. Die Politik muss dieses Recht kompromisslos vertreten, sie darf es nicht aufgrund von Nützlichkeitserwägungen auf Spiel setzen. Lassen Sie uns gemeinsam das Schweigen brechen und ein Zeichen für die Meinungsfreiheit setzen“, sagt Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins.

„Die Verhaftungen, Einschüchterungen und Behinderungen von Autoren in der Türkei müssen umgehend aufhören. Wir haben das Recht und die Pflicht, für die Kollegen zu kämpfen, weil mit den gezielten Maßnahmen gegen die Presse- und Meinungsfreiheit nicht nur die türkische Demokratie massiv gefährdet wird, sondern durch die Tatenlosigkeit der europäischen Politik gegenüber diesen Vorgängen auch unsere Werte massiv beschädigt werden. Das dürfen wir nicht hinnehmen“, sagt Sascha Feuchert, Vizepräsident und Writers-in-Prison-Beauftragter des PEN-Zentrums Deutschland.

„Schweigen ist angesichts der Situation in der Türkei keine Option. Gegen die massenhafte Verfolgung von Journalisten und Autoren gilt es jetzt, klar Stellung zu beziehen. Die verfolgten türkischen Medienschaffenden brauchen unsere Solidarität und unsere praktische Unterstützung“, sagt Michael Rediske, Vorstandssprecher von Reporter ohne Grenzen.


Gemeinsame Bewegung der Buch- und Medienbranche

Verlage, Buchhandlungen und andere Medienunternehmen unterstützen die Kampagne aktiv. Unternehmen schalten ihren Webseiten ein Bild mit der Aktionsbotschaft „Für das Wort und die Freiheit #FreeWordsTurkey“ vor. Buchhandlungen rufen ihre Kundinnen und Kunden in den kommenden Tagen mit Plakaten in ihren Läden zur Teilnahme an der Petition auf. Die drei Organisationen fordern Partnerorganisationen im In- und Ausland dazu auf, sich der Kampagne anzuschließen und die Petition zu verbreiten.

Zur Petition: www.freewordsturkey.de/petition


Kanzleramt mit Aktionsbotschaft angestrahlt

FreeWordsTurkeyKanzeleramtwDie Kampagne wird begleitet von mehreren öffentlichkeitswirksamen Aktionen. Zum Auftakt wurde am Samstagabend das Bundeskanzleramt in Berlin mit der Aktionsbotschaft „Für das Wort und die Freiheit #FreeWordsTurkey“ angestrahlt. Die Initiatoren planen in den nächsten Tagen weitere Aktionen.

 

Erklärung des Writers-for-Peace-Commitees des Internationalen PEN zur Lage in der Türkei

freiheit-des-wortesDas Writers-for-Peace-Committee des Internationalen PEN beobachtet mit großer Sorge die Ereignisse in der Türkei. Wir, die Schriftsteller des Internationalen PEN, unterstützen die demokratischen Institutionen in der Türkei. Wir halten den versuchten militärischen Putsch für einen inakzeptablen Akt, unwürdig einer modernen  demokratischen Gesellschaft, und lehnen ihn als solchen kategorisch ab.

Gleichwohl müssen wir mit ebenso großem Bedauern feststellen, daß gewisse aktuelle Dekrete der türkischen Regierung ebenfalls zur Besorgnis Anlass geben, weil sie mit Angriffen auf die demokratischen Strukturen des türkischen Staats  verbunden sind. Die Entlassung von Tausenden von Richtern, Lehrern, Universitätsprofessoren und Leitern kultureller Institutionen sowie die Inhaftierung von Schriftstellern und Journalisten stellen eine große Gefahr dar für die demokratische Gesellschaft, welche das türkische Volk und seine Regierung noch eben in den dramatischen Augenblicken des versuchten Militärputschs unter großer Opferbereitschaft vor Schaden bewahren konnten. Inhalt und Tragweite dieser Dekrete lassen keine Zweifel aufkommen, dass sie weit über den Rahmen der Konsolidierung hinaus gehen und somit als Akte der Verfolgung der politischen Opposition zu verstehen sind, als Angriffe auf die demokratischen Institutionen eines modernen Staats, als Versuch, Meinungen und Positionen zum Schweigen zu bringen, die durch die Verfassung und das Recht dieses Staates geschützt sind.

Wer die Meinungsfreiheit einschränkt und mögliche politische Oppositionelle der Verfolgung aussetzt, schafft damit neue Quellen der Gewalt, und nimmt der türkischen Gesellschaft die Chance auf einen nachhaltigen Frieden.

Deshalb appellieren wir an die türkische Regierung, an das türkische Parlament sowie an Präsident Erdogan, die Verfolgung von Zivilisten, deren Arbeit weder die militärische Sicherheit noch die Sicherheit der türkischen Gesellschaft bedroht, sofort einzustellen, und den Lehrern, Journalisten und Schriftstellern die freie und verantwortungsvolle Ausübung ihres Berufes zu ermöglichen.

Für das PEN-Zentrum Deutschland
Hans Thill
Writers-for-Peace-Beauftragter

Das PEN-Zentrum Deutschland ist eine der weltweit über 140 Schriftstellervereinigungen, die im PEN International vereint sind. Die drei Buchstaben stehen für die Wörter Poets, Essayists, Novelists. Der PEN wurde 1921 in England als literarischer Freundeskreis gegründet. Schnell hat er sich über die Länder der Erde ausgebreitet und sich als Anwalt des freien Wortes etabliert – er gilt als Stimme verfolgter und unterdrückter Schriftsteller.
PEN-Zentrum Deutschland Kasinostraße 3 64293 Darmstadt Tel.06151-23120 Fax 06151-293414

eMail: info@pen-deutschland.de www.pen-deutschland.de

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Der deutsche PEN bekräftigt seine Forderungen an die Türkei – Zurückweisung der irrtumsbedingten Kritik von Elfriede Jelinek

literaturhaus-darmstadtWie das deutsche PEN-Zentrum gemeinsam mit dem Internationalen PEN am 19. Juli berichtet hat, wurde in der Türkei nach der Säuberung in der Justiz mit einer Kampagne zur Ausschaltung von regierungskritischen Journalisten, Schriftstellern und Professoren begonnen. Von Anfang an wurde der Ausnahmezustand dazu genutzt, neben der Bestrafung der vermeintlich Schuldigen auch mit frei denkenden Bürgern abzurechnen. Mittlerweile hat diese Hetzkampagne ein Ausmaß angenommen, das alle demokratisch gesinnten Kräfte entsetzt.

Nach den offiziellen Zahlen des türkischen Innenministeriums sind seit dem 15. Juli 25.917 Personen festgenommen worden. Die Reisepässe von 74.562 Personen wurden für ungültig erklärt. Mehr als 1.500 Hochschuldekane wurden zum Rücktritt gezwungen. Wissenschaftler werden an internationalen Kontakten gehindert. 60.000 Staatsbedienstete wurden suspendiert, mehr als 20.000 Privatlehrer haben ihre Lehrberechtigung verloren.

Aber das war nur der erste Schritt. Mittlerweile sind 132 Medienunternehmen geschlossen, darunter 3 Nachrichtenagenturen, 23 Radiosender, 16 Fernsehsender, 45 Zeitungen, 15 Magazine und 29 Verlage, deren Vermögen, inklusive Copyrights und Urheberrechten, dem Staat zugefallen sind.

Mindestens 62 Journalisten und Schriftsteller sind in türkischen Gefängnissen eingesperrt, weil sie öffentlich ihre Meinung geäußert haben. Andere Journalisten, deren Medien nun geschlossen wurden, befinden sich auf der Flucht.

Die deutsche Bundesregierung und alle demokratischen Rechtsstaaten dieser Welt sind aufgerufen, nicht länger zuzusehen, wie in der Türkei fundamentale Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Wir fordern die Regierung der Türkei auf:

  • Alle wegen ihrer Gesinnung Gefangenen, die am Militärputsch nicht beteiligt waren, sind freizulassen.
  • Alle Formen von Folter sind einzustellen.
  • Das Recht zur freien Meinungsäußerung muss unbeschränkt gelten.

Wir verurteilen mit aller Schärfe die Verfolgung unserer Kolleginnen und Kollegen in der Türkei. Wir erwarten von der Bundesregierung und den europäischen Regierungen, dass sie den zu Unrecht Verfolgten und Inhaftierten jede Hilfe zukommen lassen, die sie zur Wahrung ihrer Menschenrechte brauchen.
P.S.: Die Namen der inhaftierten Autoren und der verbotenen Medien finden Sie in den Updates auf der Website des Internationalen PEN, http://www.pen-international.org/

Für das PEN-Zentrum Deutschland
Josef Haslinger
Präsident

Das PEN-Zentrum Deutschland ist eine der weltweit über 140 Schriftstellervereinigungen, die im PEN International vereint sind. Die drei Buchstaben stehen für die Wörter Poets, Essayists, Novelists. Der PEN wurde 1921 in England als literarischer Freundeskreis gegründet. Schnell hat er sich über die Länder der Erde ausgebreitet und sich als Anwalt des freien Wortes etabliert – er gilt als Stimme verfolgter und unterdrückter Schriftsteller.

PEN-Zentrum Deutschland
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Der deutsche PEN weist die Kritik von Elfriede Jelinek an der Untätigkeit der Autorenverbände zurück

Ergänzend wird folgend die Stellungnahme des internationalen PENs vom 30. Juli 2016, nämlich das Türkische Tagebuch XI des Bloggers Yavuz Baydar betreffend, veröffentlicht. Die Süddeutsche Zeitung war wohl am 29. Juli 2016 irrtümlich davon ausgegangen, dass der PEN bislang untätig geblieben sei, was aber nicht stimmt. Auch Elfriede Jelinek hatte die Süddeutsche wohl zur Quelle Ihres entsprechenden Statements genommen. Um nun alle Wogen zu glätten, es geht ja immerhin darum, alle gemeinsam an einen Strang zu ziehen, wird folgend die Presseerklärung des PEN vom 30.Juli 2016 abgedruckt. Hierin  geht Autor Yavuz Baydar auf den Irrtum in der Süddeutschen Zeitung ein und belegt, dass sich der internationale. und türkische PEN schon am 16. Juli 2016, entsprechend früh positioniert hatten:

Betr.: Türkisches Tagebuch (XI), Schweigen ist jetzt der Feind der Demokratie

von Yavuz Baydar
Die Behauptung des Autors, dass weder der türkische noch der internationale PEN gegen Verhaftungen von Hilmi Yavuz und Sahin Alpay protestiert hätten, ist falsch.

Der türkische PEN hat sich in mutigen Statements klar positioniert und sehr wohl gegen die Verhaftung des großen Poeten Hilmi Yavuz und anderer protestiert. Yavuz wurde am selben Tag wieder entlassen. Während der gesamten Zeit seiner Inhaftierung standen die türkischen PEN-Kollegen in Kontakt mit seinem Sohn, der dem türkischen PEN für die Unterstützung gedankt hat. Auch die Situation von Sahin und anderen hat man im Blick.

Bereits am 16. Juli hat der türkische PEN in einer öffentlichen Erklärung die Bedeutung des säkularen Rechtsstaats und der Gewaltenteilung als Grundprinzipien für Demokratie und Frieden betont. In einer Erklärung vom 26. Juli wandte sich der türkische PEN erneut gegen die Verhaftung aller inzwischen verhafteten Journalisten. Diese Erklärung wurde in den meisten Zeitungen abgedruckt sowie auf der Webseite und im Blog des türkischen PEN veröffentlicht. Sie ist in englischer Fassung auf der Facebook-Seite von PEN Turkey zu finden: https://www.facebook.com/PEN-Yazarlar-Derne sowie auch auf den – öffentlich zugänglichen – Fb-Seiten des deutschen PEN, auf denen wir laufend auch über andere Fälle berichten, etwa Bülent Mumay.
Auch PEN International setzt sich unermüdlich für die Meinungsfreiheit in der Türkei ein, wovon sich Blogger, Zeitungsredakteure sowie interessierte Leserinnen und Leser auf der Homepage unter www.pen-international.org selbst ein Bild machen können. Auch das PEN-Zentrum Deutschland wirkt in der Türkei-Arbeitsgruppe des internationalen PEN mit und steht in engem Kontakt mit türkischen Oppositionellen, für die wir uns teils öffentlich, teils auch – um sie nicht weiter zu gefährden – nicht-öffentlich einsetzen. Mit der Verleihung des Hermann Kesten-Preises 2016 an Can Dündar und Erdem Gül setzt der deutsche PEN darüberhinaus ein weiteres Signal der Solidarität.
Das mutige Engagement der Kolleginnen und Kollegen im türkischen PEN verdient unseren Respekt und braucht unsere Unterstützung, nicht aber haltlose Kritik und Fehlinformation in der Süddeutschen Zeitung.
Regula Venske Hamburg, 30. Juli 2016
Generalsekretärin
PEN-Zentrum Deutschland
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Wer über https://www.facebook.com/PEN-Yazarlar-Derne nicht die Blog-Beiträge öffnen kann, geht am besten über den Beitrag der Süddeutsche Zeitung http://www.sueddeutsche.de/kultur/tuerkisches-tagebuch-xi-schweigen-ist-jetzt-der-feind-der-demokratie-1.3099986?source=rss:

Der besagte und oben richtig gestellte SZ-Beitrag vom 29. Juli 2016  ist – bis auf die zum Schluss geäußerte Falschkritik an PEN,  gut geschrieben. Darunter sind die einzelnen Blockbeiträge aufgeführt.

Auch sei auf  das SZ-Interview von Charlotte Haunhorst mit dem 23-jährigen Journalisten Yusuf* aus einer Stadt an der türkischen Ägäis : „Ich habe Angst, dass ich gejagt werde“ aufmerksam gemacht (http://www.jetzt.de/interview/interview-mit-einem-tuerkischen-journalisten)

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Schließung von Medien und Verlagen in der Türkei: „Massiver Angriff auf die Meinungsfreiheit“

buchtipps1b-800Die bereits angespannte Situation für Medien und Verlage in der Türkei hat sich seit dem Putschversuch im Juli 2016 verschärft. Die türkische Regierung geht inzwischen breit angelegt gegen regierungskritische Journalisten und Medien vor. Neben über hundert Printredaktionen, TV- und Radiostationen wurden bereits 29 Buchverlage, darunter Bildungs- und Kinderbuchverlage, geschlossen.

„Wir verurteilen die Verhaftungen von Autoren und Journalisten sowie die Schließungen von Verlagen und anderen Medienhäusern aufs schärfste. Die türkische Regierung greift die Meinungsfreiheit massiv an. Autoren, Verleger und Journalisten werden wie Verbrecher behandelt. Das ist untragbar. Die Freiheit des Wortes ist ein Menschenrecht, das unter allen Umständen geschützt werden muss. Denn unabhängige Verlage, Buchhandlungen und Medien sind Grundlage einer freien und demokratischen Gesellschaft. Als Buchbranche treten wir entschieden für die Freiheit des Wortes ein. Wir fordern die Bundesregierung und die EU-Kommission auf, eine klare Haltung zur Situation in der Türkei zu zeigen und die Meinungsfreiheit kompromisslos zu verteidigen“, sagt Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels.

Der Börsenverein steht mit Partnerorganisationen aus dem Medien- und Kulturbereich im engen Austausch über die Situation vor Ort und mögliche gemeinsame Maßnahmen.

 

 

Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2015 an Navid Kermani in der Paulskirche verliehen


Verleihung des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2015 als Navid Kermani in der Frankfurter Paulskirch © massow-picture
Verleihung des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2015 an Navid Kermani (mitte) in der Frankfurter Paulskirche © massow-picture

Der deutsche Orientalist, Schriftsteller und Essayist Navid Kermani ist am 18. Oktober 2015 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. Die Verleihung fand vor rund 1.000 geladenen Gästen in der Frankfurter Paulskirche statt, unter ihnen Bundestagspräsident Norbert Lammert. Oberbürgermeister

Peter Feldmann hieß die Gäste im Namen der Stadt Frankfurt  herzlich willkommen „in der Paulskiche, dem Wahrzeichen unserer deutschen Demokratie zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Navid Kermani“. „In Frankfurt“, so der Oberbürgermeister weiter, „leben 720 000 Menschen: Keine Religion, die hier nicht vertreten ist. Von über 190 Nationen weltweit sind 180 Nationen in unserer Stadt vertreten, internationaler geht es nicht. Und wir kommen mit unserem Kosmos gut klar.“ Und es sei sicherlich kein Zufall gewesen, so Peter Feldmann, „dass in Frankfurt vorletzte Woche drei Tage ’25 Jahre Deusche Einheit‘ gefeiert wurde. „Deutschland kann Integration; und Frankfurt sicherlich ganz besonders.  1989 hätte es gegolten, im geeinten Deutschland  zwei Drittel Bevölkerung im Westen mit dem einen Drittel im Osten zusammenzubringen. Heute bestünde die deutsche Realität darin, dass hier zwei Drittel Bevölkerung mit deutschen Vorfahren und ein Drittel mit Wurzeln in einem anderen Land einer anderen Kultur miteinander zusammenzubringen. „Das große Projekt unserer Generation ist die europäische Einheit: Es ist eine Einheit der Werte, unserer Werte, wie die unseräußerlichen Menschenrechte, die Rechtsstaatlichkeit und selbstverständlich die repräsentative Demokratie.

Diese Werte stehen in Anbetracht der grauenhaften Geschehnisse im Nahen Osten vor einer Bewährungsprobe. Wir erleben gerade einen Stresstest für unsere Werte. Wir sind aufgerufen“, so Peter Feldmann weiter, „diese Werte konsequent zu verteidigen. Nur dann werden wir die Menschen, die derzeit zu uns fliehen, und die, die in ihren Herkunftsländern bleiben, überzeugen, die freie Gesellschaft ebenfalls zu unterstützen. “
An Navid Kermani gerichtet, sagte der Oberbürgermeister:“Wie, Herr Kermani, zeigten sich in der letzten Woche besorgt, wie zerstritten und wie unsolidarisch Europa teiweise in dieser Situation agiert. Eines dieser Rechte, für das Menschen über Jahrhunderte in diesem Europa ihr Leben riskiert haben, ist das Recht der freien Meinungsäußerung.
Unser diesjähriger Preisträger weiß aus eigener Lebenserfahrung, wie kostbar dieses Recht ist. Wir danken ihm dafür, dass er von diesem Recht unerschrocken, unermüdlich und auch radikal Gebrauch macht. Wir bewundern und unterstützen das. Lieber Herr Kermani! Lieber Preisträger! Herzlichen Glückwunsch zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“

Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels unterstrich in seinem Grußwort dass Navid Kermani uns erklärt, „wie viel die großen Weltreligionen miteinander verbindet, und er schlägt Alternativen für ein friedliches Zusammenleben vor, auch in dem Wissen um die nicht lösbare Aufgabe.“ Zudem betonte Riethmüller:“Unsere Welt braucht Vorbilder – einen aufgeklärten Bürger wie Navid Kermani. Einen, der Hölderlin und die Poesie liebt. Menschen, die uns Orientierung geben, die zeigen, dass es sich lohnt, füreinander einzustehen, sich zu engagieren, die beweisen, dass Frieden und Freiheit nur dann gelingen können, wenn man über den Rand des eigenen Horizontes blickt, wenn man sich aktiv einmischt und wenn man bereit ist, für die Freiheit und gegen ihre inneren wie äußeren Feinde einzutreten.“ Für den Stiftungsrat des Friedenspreises sei der Mensch Navid Kermani solch ein Vorbild, fuhr Riethmüller fort: „ein aufgeklärter Bürger, der Hölderlin und die Poesie liebt, der aus der Literatur und aus seiner Religiosität die Anregungen, Erkenntnisse und Kraft schöpft, die wir, angesichts einer Welt, die aus den Fugen zu geraten scheint, alle brauchen.“, so der Börsenvereins-Vorsteher, und fügte hinzu: „Der Buchhandel in Deutschland ist stolz darauf, dass mit der Verleihung des Friedenspreises an Navid Kermani ein Kosmopolit ausgezeichnet wird, der glaubwürdig und engagiert für Toleranz, Offenheit und Freiheit wirbt.“

Navid Kermani fordert in seiner Dankesrede ein entschlossenes Verhalten von Europa in Bezug auf den Krieg in Syrien: „Darf ein Friedenspreisträger zum Krieg aufrufen? Ich rufe nicht zum Krieg auf. Ich weise lediglich darauf hin, dass es einen Krieg gibt – und dass auch wir, als seine nächsten Nachbarn, uns dazu verhalten müssen, womöglich militärisch, ja, aber vor allem sehr viel entschlossener als bisher diplomatisch und ebenso zivilgesellschaftlich. (…) Und erst wenn unsere Gesellschaften den Irrsinn nicht länger akzeptieren, werden sich auch die Regierungen bewegen. Wahrscheinlich werden wir Fehler machen, was immer wir jetzt noch tun. Aber den größten Fehler begehen wir, wenn wir weiterhin nichts oder so wenig gegen den Massenmord vor unserer europäischen Haustür tun, den des ‘Islamischen Staates‘ und den des Assad-Regimes.“ Der Islam führe keinen Krieg gegen den Westen. „Eher führt der Islam einen Krieg gegen sich selbst, will sagen: wird die Islamische Welt von einer inneren Auseinandersetzung erschüttert, deren Auswirkungen auf die politische und ethnische Kartographie an die Verwerfungen des ersten Weltkrieges heranreichen dürfte“, so Kermani.

Navid Kermani nach seiner Dankesrede  © massow-picture
Navid Kermani nach seiner Dankesrede © massow-picture

Seine Kritik an Europas Verhalten: „Nur drei Flugstunden von Frankfurt entfernt werden ganze Volksgruppen ausgerottet oder vertrieben, Mädchen versklavt, viele wichtige Kulturdenkmäler der Menschheit von Barbaren in die Luft gesprengt (…) – aber wir versammeln uns und stehen erst auf, wenn eine der Bomben dieses Krieges uns selbst trifft wie am 7. und 8. Januar in Paris, oder wenn die Menschen, die vor diesem Krieg fliehen, an unsere Tore klopfen.“ Der Einsatz für die Flüchtlinge in Europa sei beglückend, aber zu unpolitisch. „Wir führen keine breite gesellschaftliche Debatte über die Ursachen des Terrors und der Fluchtbewegung und inwiefern unsere eigene Politik vielleicht sogar die Katastrophe befördert, die sich vor unseren Grenzen abspielt. Wir fragen nicht, warum unser engster Partner im Nahen Osten ausgerechnet Saudi-Arabien ist. (…) Nichts ist uns eingefallen, um den Mord zu verhindern, den das syrische Regime seit vier Jahren am eigenen Volk verübt“, so Kermani.

Zuvor sprach Kermani über das Miteinander von Christentum und Islam, über die religiöse Kultur des Islams der Geschichte, dessen Originalität, seine geistige Weite, ästhetische Kraft und humane Größe. Er erzählt die Geschichte von Pater Jacques, einem syrischen Christen, der den Islam liebt und ihn stets gerechtfertigt habe. Navid Kermani ist Muslim, er sagt: „Wer als Muslim nicht mit ihm (dem Islam) hadert, nicht an ihm zweifelt, nicht ihn kritisch hinterfragt, der liebt den Islam nicht.“ 

In seiner Laudatio stellte Norbert Miller die Literatur Kermanis in den Mittelpunkt und spannte den Bogen vom Romanschreiber über den Orientalisten, den Reporter und den Bildbetrachter bis hin zum Berichterstatter. Navid Kermanis Leben ist ein Roman, so die zentrale Aussage Millers. „Dieses Festhalten am Schreibvorgang als Lebensprogramm des Schriftstellers Kermani, der Endlichkeit entgegengehalten, begreift in sich auch alle künftigen Äußerungen. Sie alle sind, bis auf diesen heutigen Tag, Teil eines roman à faire“, so Miller.

Navid Kermani (m.) mit Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann (l.) und dem Vorsteher des Börsenvereins, Heinrich Riethmüller (r.) Copyright: Tobias Bohm
Navid Kermani (m.) mit Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann (l.) und dem Vorsteher des Börsenvereins, Heinrich Riethmüller (r.) Copyright: Tobias Bohm

„Unsere Welt braucht Vorbilder. Menschen, die uns Orientierung geben, die zeigen, dass es sich lohnt, füreinander einzustehen, sich zu engagieren, die beweisen, dass Frieden und Freiheit nur dann gelingen können, (…) wenn man bereit ist, für die Freiheit und gegen ihre inneren wie äußeren Feinde einzutreten. Für den Stiftungsrat des Friedenspreises ist der Mensch Navid Kermani solch ein Vorbild: ein aufgeklärter Bürger, der Hölderlin und die Poesie liebt, der aus der Literatur und aus seiner Religiosität die Anregungen, Erkenntnisse und Kraft schöpft, die wir, angesichts einer Welt, die aus den Fugen zu geraten scheint, alle brauchen“, sagte Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins. 

In der Begründung des Stiftungsrates heißt es:
„Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein im Jahr 2015 an Navid Kermani. Der deutsche Schriftsteller, Orientalist und Essayist ist eine der wichtigsten Stimmen in unserer Gesellschaft, die sich mehr denn je den Erfahrungswelten von Menschen unterschiedlichster nationaler und religiöser Herkunft stellen muss, um ein friedliches, an den Menschenrechten orientiertes Zusammenleben zu ermöglichen.
Seine wissenschaftlichen Arbeiten, in denen er Fragen der Mystik, der Ästhetik und der Theodizee insbesondere im Raum des Islam nachgeht, weisen Navid Kermani als Autoren aus, der mit großer Sachkenntnis in die theologischen und gesellschaftlichen Diskurse einzugreifen vermag.
Die Romane und Essays von Navid Kermani, insbesondere aber auch seine Reportagen aus Krisengebieten zeigen, wie sehr er sich der Würde des einzelnen Menschen und dem Respekt für die verschiedenen Kulturen und Religionen verpflichtet weiß, und wie sehr er sich für eine offene europäische Gesellschaft einsetzt, die Flüchtlingen Schutz bietet und der Menschlichkeit Raum gibt.“

Navid Kermani © massow-picture
Navid Kermani © massow-picture

Navid Kermani, geboren am 27.11.1967 in Siegen, studierte Islamwissenschaften, Philosophie und Theaterwissenschaft. Bereits mit seiner Dissertation „Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran“ sorgte er 1999 im Feuilleton und in der Fachpresse für Aufmerksamkeit. Neben seiner Tätigkeit als Dramaturg am Theater an der Ruhr in Mühlheim (1994/95) und am Schauspielhaus Frankfurt (1998/99) schrieb er zudem regelmäßig Literaturkritiken und Reportagen. 1994 gründete er in Isfahan das erste internationale Kulturzentrum, das infolge von Spannungen im deutsch-iranischen Verhältnis 1997 wieder schließen musste.

Nach einem Forschungsaufenthalt am Berliner Wissenschaftskolleg und der Veröffentlichung von „Das Buch der von Neil Young Getöteten“ (2002) und „Schöner neuer Orient. Berichte von Städten und Kriegen“ (2003) hat sich Kermani entschieden, fortan als freier Schriftsteller zu arbeiten. Gleichwohl habilitierte er sich 2005 im Fach Orientalistik mit der grundlegenden Studie „Der Schrecken Gottes – Attar, Hiob und die metaphysische Revolte“. 2010 hielt Kermani die Frankfurter Poetikvorlesungen, ein Jahr später erschien sein Roman „Dein Name“, für den er mit dem Joseph-Breitbach-Preis (2014) geehrt wurde. 2014 analysierte er in einer vielbeachteten Rede vor dem Deutschen Bundestag anlässlich der Verkündung des Grundgesetzes vor 65 Jahren dessen normative Kraft und kritisierte zugleich die deutsche Asylgesetzgebung.

Die literarischen Arbeiten Kermanis, die im Ammann Verlag und seit 2011 im Carl Hanser Verlag erschienen sind, thematisieren wie zuletzt in „Große Liebe“ (2014) die Grundfragen und Grenzerfahrungen der menschlichen Existenz wie Liebe und Sexualität, Verzückung und Tod. Wie in „Zwischen Koran und Kafka. West-östliche Erkundigungen“ (2014) sind die Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen, im Verlag C.H. Beck herausgegebenen Bücher der Koran und die islamische Mystik. Zudem berichtet er in zahlreichen Reportagen aus Kriegs- und Krisengebieten, die unter anderem in „Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt“ (2013) erschienen sind.

Ende August 2015 erscheint sein neuestes Buch „Ungläubiges Staunen. Über das Christentum“ im Verlag C.H. Beck.

Für sein Werk und das gesellschaftliche Engagement hat Navid Kermani weitere Preise erhalten, darunter Hessischer Kulturpreis (2009), Hannah-Arendt-Preis (2011), Buber-Rosenzweig-Medaille (2011), Heinrich-von-Kleist-Preis (2012), Kölner Kulturpreis (2012), Cicero-Rednerpreis (2012) sowie den Gerty-Spies-Literaturpreis (2014).

Navid Kermani lebt seit 1988 in Köln und ist mit Katajun Amirpur verheiratet, die als Professorin für Islamwissenschaft an der Universität Hamburg lehrt. Das Paar hat zwei Töchter.

Seit 1950 wird der Friedenspreis vergeben
Seit 1950 vergibt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Preisträger waren neben Amos Oz und Albert Schweitzer unter anderem Astrid Lindgren, Václav Havel, Siegfried Lenz, Susan Sontag, David Grossman, Boualem Sansal, Swetlana Alexijewitsch und im vergangenen Jahr Jaron Lanier. Der Preis ist mit 25.000 Euro dotiert. 

 

Frankfurter Buchmesse im Zeichen des Kampfes um die „Freiheit des Wortes“ am 13. Okt. 2015 eröffnet

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Zur Eröffnung präsentiert sich die 67. Frankfurter Buchmesse in zweierlei Hinsicht als Branchen-Netzwerk. Einerseits ist sie als weltweit größter Handelsplatz für Inhalte das relevanteste Business-to-Business-Netzwerk der Branche. Sie bringt die Beteiligten miteinander in Austausch: Internationaler Rechtehandel, Technologie trifft auf Content, klassische Verlage treffen auf Startups. Andererseits ist die Frankfurter Buchmesse internationale Andockstelle für alle, die sich mit Inhalten, Literatur und Storytelling auseinandersetzen, darüber diskutieren oder sogar streiten. Denn Publishing und Literatur waren schon immer auch Störenfriede, haben am vorherrschenden Konsens gerüttelt. „Literatur hat die Aufgabe Zustände zu benennen, scheinbare Selbstverständlichkeiten zur Diskussion zu stellen,“ so Buchmesse-Direktor Juergen Boos. „In unserem internationalen Netzwerk gilt im Übrigen die Regel: es gibt keine überlegenen Ideen, keine überlegene Kultur. Vielmehr ist es unsere Aufgabe, den Respekt für das jeweils Andere herzustellen. Dies gilt für Autoren wie auch für Publisher.“

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Indonesien ist Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Unter dem Titel 17 000 Inseln der Imagination präsentiert das viertgrößte Land der Welt seine facettenreiche Literatur- und Kulturlandschaft, 75 indonesische Autorinnen und Autoren, über 500

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Veranstaltungen auf dem Messegelände und in Frankfurt sowie zahlreiche deutschlandweite Aktionen laden zu einer Entdeckungstour ein, die ihren mit der Präsentation von vor allem kulinarischen Werken und Hunderten Gewürzen  im Pavillon des Gastlandes gipfelt (im Forum 1, über ARD).

Redeauszüge von Juergen Boos

„Wenn es darum geht, Falschheit und Täuschungen durch Diskussion bloßzustellen und das Böse durch den Prozess der Erziehung abzuwenden, dann ist das Mittel der Wahl immer noch mehr reden (sprechen), keinesfalls die erzwungene Stille“.

Juergen Boos, Direktor der Frankfurter Buchmesse. © massow-picture
Juergen Boos, Direktor der Frankfurter Buchmesse.
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Dieses Zitat von Louis Brandeis, einem Richter des Supreme Court in den USA in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts setzte Juergen Boos, Direktor der Frankfurter Buchmesse an den Anfang seines Statements bei der Eröffnungspressekonferenz der 67. Frankfurter Buchmesse am 13. Oktober 2015. Diese stand ganz im Zeichen des Kampfes um die Freiheit des Wortes und der Meinungsäußerung. Grundwerte, die nicht überall auf der Welt so  selbstverständlich wie bei uns sind, und zunehmend bedroht zu sein scheinen.

„Für Brandes“, so Boos, „war die freie Rede nicht nur eine abstrakte Tugend, sondern ein Grundelement, das im Zentrum jeder demokratischen Gesellschaft verankert ist. Brandes trat bereits im Jahr 1920 nicht für nur das Recht, sondern auch die Pflicht der Bürger zur freien Meinungsäußerung. Sie sollten sich am Regierungsakt und an der Bildung einer demokratischen Gesellschaft beteiligen und dies gelang seiner Auffassung nach nur dann, wenn sie die Regierung umfassend und angstfrei kritisieren könnten.“ Für Juergen Boos liegt der Kern dieses Zitates auf dem Begriff des Redens, der Diskussion!

„In den letzten Tagen wurde weltweit berichtet über den Auftritt von Salman Rushdie bei uns sowie über den iranischen Boykott der Buchmusse. Ich möchte Ihnen sagen“, so der Buchmessendirektor, „dass ich nicht froh bin über den Boykott des Irans. Denn damit geht einher, das wir eine weitere Gelegenheit verpassen uns mit den iranischen Kollegen auszutauschen.

Er gibt den einen zentralen Aspekt der menschlichen Zivilisation, der für mich nicht verhandelbar ist. Das ist die Freiheit des Wortes, die freie Meinungsäußerung.

Über alles andere soll man nicht nur, man muss darüber reden.

Salman Rushdie, © massow-picture
Salman Rushdie, © massow-picture

Dazu passt die Stelle in dem neuen Roman von Salman Rushdie („Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte“), in der der Geist des Philosophen Ibn Ruschd aus dem Grab heraus seinen ebenfalls vor Jahrhunderten verstorbenen Widersacher Ghzali auffordert, ihre völlig konträren Standpunkte endlich aufrichtig zu verhandeln. „Die Hindernisse von Zeit und Entfernung stellen kein Problem mehr dar“, sagte er zur Begrüßung zu seinem Feind. „Da können wir die Dinge diskutieren, so wie es sich gehört. Höflich im Umgang mit dem Kontrahenten, aber hart in der Sache“. 

Die Aussage, die dahinter liegt, ist völlig simpel, dafür umso wahrer. Eine Idee, eine Haltung ist sowieso nicht totzukriegen. Sie geht nicht weg, auch wenn man all diejenigen umbringt, die sie formulieren. Was einzig bleibt, ist das Reden.

Reden ist die besser Alternative! Eine Erzählung, die diese für mich so wichtige Haltung transportiert wie keine andere (und auch hier stößt uns Rushdie noch einmal mit der Nase drauf), sind „Geschichten aus 1001 Nacht“ aus dem 10. Jahrhundert, in denen sich Scheherazade aktiv in die Hände des Kalifen begibt, um durch ihre Fantasie, ihre Beredsamkeit sein Morden zu beenden. Und die zweite weitere Moral aus den Geschichten aus 1001 Nach lautet, dass die Geschichten des Anderen so interessant sein können, dass man die eigene Haltung komplett zu verändern vermag, wenn man sich nur auf das Unterfangen einlässt!

Die Freiheit des Wortes befindet sich zurzeit einem sehr fraglichen Zustand. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes unter Beschuss. Wir erleben eine Zeit, die von gewaltsamen Konflikten geprägt ist, in der die Spirale der Gewalt sich scheinbar immer nur in eine, in die falsche, Richtung dreht. Was können wir als Branche hier tun?

Wenn es die eine wichtige Aufgabe für die Literatur und das Verlegertum gibt, dann diese: Sie müssen stören. Sehen Sie Rushdie an. Er stört mit seiner Literatur. Die Verleger müssen auch stören. Sie müssen gedankliche Stolpersteine herstellen! Mit ihrem Programm, mit Mut zur Kontroverse. Der Friedenspreisträger Navid Kermani sagt hierzu: „Jedweder Anspruch an Literatur lautet: Respekt für das Andere und Unerbitterlichkeit für das Eigene, die Verteidigung des Marginalisierten und Bestreitung des Herrschenden“.

Ich betone wieder die Notwendigkeit der Kontroverse. Höflich, aber hart in der Sache!

Machen wir uns nichts vor, wir haben uns geistig sehr gemütlich eingerichtet. Wie wähnen uns hier auf der richtigen Seite der Mauer. Diese spezifischen Mauern nennt man auch Scheuklappen. Sie bewahren uns vor Unbequemlichkeit und den Gefahren einer klaren Stellungnahme. Gleichzeitig können sie zu Fehleinschätzungen führen und uns zu Mittätern machen.

Wenn der Claim der Frankfurter Buchmesse „Die Welthauptstadt der Ideen“ überhaupt für irgendetwas nützlich ist, dann für die Erkenntnis, dass Ideen aus der ganzen Welt hier zusammentreffen, aber noch lange nicht nahtlos zusammenpassen. Und dass dieses Zusammentreffen etwas bewirken muss. Die Kunden, die Besucher sollen nach einer Woche Buchmesse eine neue Perspektive eingenommen haben.“ (Juergen Boos)

Die Meinungs- und Publikationsfreiheit ist nicht verhandelbar
Heinrich Riethmüller, © massow-picture
Heinrich Riethmüller, © massow-picture

Heinrich Riethmüller,Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, stellte noch deutlicher die Verantwortung der Verleger, Buchhändler und Publizisten für eine offene und feie Gesellschaft in den Mittelpunkt seiner Rede. „Die Meinungs- und Publikationsfreiheit sind für uns keine verhandelbare Werte, denn sie sind die Grundlage einer freien, demokratischen Gesellschaft und damit auch Grundlage unseres Schaffens“, so Riethmüller. „Von der diesjährigen Frankfurter Buchmesse geht gerade auch vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingsströme der Ruf nach Freiheit und Toleranz in die Welt. Bücher leisten einen zentralen Beitrag für eine offene und tolerante Gesellschaft. In diesem Kontext haben Verleger, Buchhändler und Publizisten eine große Verantwortung. So müssen sie sich immer wieder aufs Neue hinterfragen, wieviel Selbstzensur auch zu ihrer täglichen Arbeit gehört“, so Riethmüller.

Desweiteren führte der Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels:
In diesem Jahr treffen wir uns in einer besonderen Situation. Die Welt ist in Aufruhr. Der Kampf zwischen den Religionen und das Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich, verfolgt und geborgen, gefangen und frei, hungrig und satt findet derzeit in Europa seinen Ausdruck in hunderttausenden von Flüchtlingen. Sie sind auf der Suche nach Freiheit, Frieden und einem menschenwürdigem Leben.

Es sind Männer, Frauen, Kinder – Familien aus anderen Kulturen als der europäischen, mit einer anderen religiösen Sozialisation, mit Erfahrungen, die uns unbekannt sind, und mit einer Kraft, die sie bis nach Europa getrieben hat. Mich berühren die Bilder, die ich sehe, die Geschichten der Flüchtlinge, die ich höre, mich berührt ihr Wille, frei zu leben und der Mut, in eine andere Welt aufzubrechen.

Nach den Anschlägen auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo Anfang des Jahres, ist den Verlegern und Buchhändlern in Deutschland bewusst geworden, wie notwendig es ist, sich wieder
stärker für das Wort und die Freiheit einzusetzen.

Ich freue mich deshalb, dass Salman Rushdie unserer Einladung gefolgt ist und heute Vormittag auf der Eröffnungspressekonferenz der Buchmesse zu uns gesprochen hat. Es war in Vergessenheit geraten, dass er immer noch mit einer Todesdrohung belegt ist. Und das darf nicht vergessen werden. Die Meinungs- und Publikationsfreiheit sind für uns keine verhandelbare Werte, denn das Recht auf freie Meinungsäußerung und der Zugang zu jeglicher Information, so wie es in Artikel 19 der Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben ist, ist die Grundlage einer freien, demokratischen Gesellschaft und damit auch Grundlage unseres Schaffens.

Das ist nicht überall auf der Welt so. Fünf Beispiele, die Sie auf der Website des PEN Deutschland ausführlicher nachlesen können:
Susana Chávez Castillo aus Mexiko war eine bekannte Dichterin und Frauenrechtlerin. Sie wurde vor viereinhalb Jahren ermordet aufgefunden. Sie war erwürgt worden, man hatte ihr eine Hand abgetrennt. Sie hatte sich als Aktivistin und Dichterin für Gerechtigkeit für hunderte von ermordeten Frauen in der Juárez Region in Mexiko eingesetzt. Ihr Gedicht “Sangre Nuestra” (Unser Blut) war aus der Sicht eines Opfers geschrieben.

Wie bei ähnlich gelagerten Fällen schlossen die mexikanischen Behörden einen Zusammenhang zwischen ihrer Arbeit als Aktivisten und Dichterin und ihrer Ermordung aus. Seit 2004 sind nach Angaben des PEN mindestens 67 Journalisten, Blogger und Schriftsteller in Mexiko ermordet worden.

Mohammed al-Ajami ist Dichter aus Katar und Ehrenmitglied des deutschen PEN-Zentrums. Ende November 2012 war er wegen angeblicher „Anstiftung zum Sturz des herrschenden Regimes” und „Beleidigung des Emirs” zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden. Diese wurde später auf 15 Jahre verkürzt. al-Ajami muss die restliche Haftstrafe komplett absitzen.

Der chinesische Aktivist, Schriftsteller und Dichter Li Bifeng verbrachte wegen seiner politischen Aktivitäten und seinem kritischen Schreiben seit 1990 insgesamt über 12 Jahre in Haft.

Nach Informationen des internationalen PEN wurde er 2011 erneut inhaftiert und 2012 vom Volksgerichtshof wegen einer angeblichen Betrugssache zu einer Gefängnisstrafe von 12 Jahren verurteilt. Es wird angenommen, dass Li Bifeng wegen seines friedlichen politischen Aktivismus angegriffen wird, insbesondere wegen seiner Beziehungen zu dem exilierten chinesischen Schriftsteller Liao Yiwu,

Dem saudi-arabischen Redakteur und Blogger Raif Badawi wird „Beleidigung des Islams“ und die „Gründung einer liberalen Webseite“ vorgeworfen. Derzeit ist Raif Badawi in Saudi-Arabien inhaftiert, an ihm wird seit Januar die barbarische Strafe von 1000 Peitschenhieben vollzogen.

Der Autor und Augenarzt Abdelwahhab Azzawi lebte in Syrien. Bereits vor Ausbruch des Bürgerkriegs veröffentlichte Azzawi mehrere Texte, die die Regierung kritisierten. Seine Texte wurden sowohl von der syrischen Regierung als auch von islamistischen Gruppen als Bedrohung aufgefasst. Beide drohten ihm deshalb mit Arrest, Entführung und Gewalt. Der Autor vom Sicherheitsdienst auf offener Straße attackiert und geschlagen. Abdelwahhab Azzawi flüchtete mit seiner Frau und den zwei Töchtern in den Jemen. Da die Familie dort ebenfalls bedroht wurde, musste Azzawi seine Familie verlassen.
Er konnte sich retten und ist vorerst in Deutschland aufgenommen worden. Von Dortmund wurde er über Aachen nach Eisenhüttenstadt verlegt, wo er lange auf die Bewilligung seines Asylantrags warten musste. Mittlerweile ist er anerkannt. Jetzt wartet Abdelwahhab Azzawi auf die Ankunft seiner Familie.

Für das Wort und die Freiheit – dieser Anspruch ist groß und ein weites Feld. Die Autorin und die drei Autoren haben dafür gekämpft oder kämpfen noch heute dafür. Sie alle haben dafür bezahlt. Mit Haft, Folter, Flucht oder ihrem Leben. Wir sind in einer komfortablen Situation. Wir brauchen keine Sanktionen zu befürchten. Gerade deshalb kann man es uns zumuten, Verantwortung zu übernehmen. Als Verleger, als Buchhändler, als Publizist.

Hunderttausende von Menschen suchen derzeit Zuflucht. Gegensätzliche Weltanschauungen treffen dabei aufeinander. Viel Toleranz ist vonnöten, auch bei den Flüchtlingen, die jetzt plötzlich mit Menschen anderer religiöser Herkunft auf engstem Raum zusammenleben müssen. Viele geflüchtete Menschen müssen diese Toleranz lernen, denn ihre Welt war bislang eine mit anderen Regeln. Ihr Weltbild ein fremdes. Was können wir tun? Wie können wir helfen? Unsere Aufgabe ist es nicht, alles zu tolerieren, aber unsere Aufgabe könnte es sein, Toleranz zu vermitteln.

Bücher leisten hier einen zentralen Beitrag. Literatur öffnet die Türen zu Sprache, Wissen und Kultur. Literatur macht Verständigung möglich – zwischen Menschen, Ländern und Religionen. Literatur baut Brücken und macht Geschichten und Geschichte erlebbar. Literatur ist Nahrung für den Kopf. Bereitet
in ihrer Vielfalt den Boden für die nötige und notwendige Toleranz.

Ein Beispiel ist die Aktion der deutschen Verleger und Buchhändler „Bücher sagen Willkommen“. Sie wurde zum Weltbildungstag im September initiiert – zusammen mit der Frankfurter Buchmesse und der LITCAM, eine gemeinnützige Gesellschaft, die von der Frankfurter Buchmesse ins Leben gerufen wurde und sich für Bildungsgerechtigkeit und Integration einsetzt. Mit dieser Aktion fördert die Buchbranche notwendige Plätze zum Lesen und Lernen in der unmittelbaren Umgebung von Flüchtlingsunterkünften und ruft zu Spenden im Buchhandel auf, um diese Orte mit ausgewählten Büchern auszustatten.

Viele der Flüchtlinge, die täglich nach Deutschland kommen, werden länger hier bleiben. Sie sollen und wollen sich integrieren, das Land kennenlernen, das sie aufgenommen hat, und die Menschen verstehen, die hier zu Hause sind. Neben den lebensnotwendigen Ressourcen wie Unterkunft und Verpflegung können Bücher, Bildung und Kultur diese Integration entscheidend unterstützen.

Die Frankfurter Buchmesse ist der Ort, an dem über einhundert Länder und Kulturen zusammentreffen, sie ist fünf Tage das WeltCamp der Ideen, der Inhalte und des Austauschs. Wenn nicht von hier, von wo aus sonst sollte der Ruf nach Freiheit und Toleranz in die Welt gehen. Und die Forderung an die Regierenden, sich dafür mit ganzer Kraft einzusetzen.

Navid Kermani, der am kommenden Sonntag in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält, erinnerte nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo daran, dass Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit weder selbstverständlich noch kostenlos sind. Gerne zitieren ich ihn zum Abschluss: „Der Kampf gegen Unfreiheit und Gewalt findet nicht nur in Kobani oder Aleppo statt, nicht nur am 11. September 2001 in New York oder am 7. Januar 2015 in Paris. Wir müssen für die Ideale der Gerechtigkeit und der Toleranz jeden Tag eintreten, im Alltag, am Arbeitsplatz oder in der Schule, in den Parteien, Gewerkschaften oder religiösen Gemeinden.“ Also auch – so möchte ich ergänzen – hier auf der Frankfurter Buchmesse.“

Eröffnungsfeier der 67. Buchmesse im Congress Center

eroeffnung-buchmesseIm Beisein zahlreicher prominenter Ehrengäste wurde gegen Abend die 67. Frankfurter Buchmesse im Congress Center feierlich eröffnet. Im gleichen Tenor, die Meinungsfreiheit gegen alle Ideologien und religionsfanatistischen Dogmen zu verteidigen, sprachen sich sämtliche Redner für eine Vielfalt der Ideen aus. Unter ihnen:  Juergen Boos, Direktor der Frankfurter Buchmesse, Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Prof. Monika Grütters MdB, Staatsministerin für Kultur und Medien, Peter Feldmann, Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt, Goenawan Mohamad, Literarischer Redner des Ehrengastes Indonesien und Dr. Anies Rasyid Baswedan, Minister für Bildung und Kultur des Republik Indonesien. Die Sängern Endah Laras  sang für Freiheit und Frieden.

Dr. Anies Rasyid Baswedan, Minister für Bildung und Kultur der Republik Indonesien. © massow-picture
Dr. Anies Rasyid Baswedan, Minister für Bildung und Kultur der Republik Indonesien. © massow-picture

Besonders herzlich begrüßte Heinrich Riethmüller die Vertreterinnen und Vertreter des Gastlands Indonesien. „Wir sind gespannt auf die Begegnungen und Gespräche mit den indonesischen Kolleginnen und Kollegen, wir freuen uns auf eine Literatur, die in Europa heute noch wenig bekannt ist“, sagte der Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und stellte klar, dass er sich sicher sei, dass sich dies ändern werde, nicht zuletzt durch die diesjährige Frankfurter Buchmesse. Indonesien sei ein Land, das innerhalb von 70 Jahren einen grundlegenden Wandel durchlaufen habe, von der Kolonie zur Demokratie. „An der Literatur eines Landes geht das nicht spurlos vorbei, eine solche Entwicklung spiegelt sich dort wider. ‚17.000 Inseln der Imagination‘ haben unsere Gäste ihren Buchmesseauftritt betitelt – wir alle sind hier, um diese 17.000 Inseln zu entdecken.“, so der Riethmüller.
Dem deutschen Buchmarkt geht es nach Aussagen des Vorstehers des Börsenvereins gut. „Verlage und Buchhandlungen wissen um ihre Kompetenzen, stellen sich selbstbewusst auf und bieten dem digitalen Kapitalismus Paroli, also all denen, die zentrale Strukturen des Marktes okkupieren und dadurch zerstören wollen“, so Riethmüller. Der Buchmarkt und die Marktteilnehmer hätten sich in den letzten Jahren stark weiterentwickelt, im Mittelpunkt stünden dabei nach wie vor die eigentlichen Kernaufgaben – die Entdeckung, Publikation, Kuratierung und Vermarktung von Inhalten. „Ob E-Books oder Social-Reading-Portale – das alles ist kein großes Thema mehr, sondern Bestandteil eines breiter gewordenen Marktes.“

Die Welt des Publishing rückt – analog zum immer enger vernetzten Handel – auch in den Messehallen stärker zusammen. So wird die englischsprachige Welt näher an das räumliche Zentrum der Messe geholt. Jeder potentielle Geschäftsabschluss ist jetzt nur noch fünf Minuten Fußweg durch die Hallen entfernt. Das Konzept geht auf: Die Frankfurter Buchmesse wächst mit rund 7.200 Ausstellern aus 104 Ländern. Dazu kommen neue Angebote wie der Orbanism Space für digital getriebene Communities, die neue und internationale Gourmet Gallery oder der Handmade-Day für die Prosumenten der Do-It-Yourself-Community.Das Näher-Aneinander-Rücken bedeutet aber auch: Die Buchmesse ist weltweiter Treffpunkt der Autoren, Journalisten, Kreativen und Kulturvermittler, die in von Extremismus geprägten Zeiten für eine besonnen geführte Diskussion stehen. An keinem Ort wird das besser sichtbar als im neu platzierten „Weltempfang“ in Halle 3.1. Der Themenschwerpunkt lautet dieses Jahr „Grenzverläufe“ und wurde bereits lange vor den Flüchtlingswellen im Sommer festgelegt. Dort finden interkulturelle Feminismus-Debatten, Panels mit Internet-Aktivisten und ein Kompendium politischer Autoren statt.

Der Umsatz im Buchmarkt lag bis Ende September 2015 bei minus 2,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, doch das allein sagt nach Einschät-zung von Heinrich Riethmüller über die eigentliche Marktentwicklung nicht viel aus. „Die Umsatzzahlen bilden einen Markt ab, dessen Jahresergebnis geprägt ist von einzelnen Titeln, die sich ausnehmend stark verkaufen. Harry-Potter-Jahre oder Shades-of-Grey-Jahre waren stets die umsatzstärksten für den Buchhandel. Deshalb sehen wir ein leichtes Minus auch mit Gelassenheit, weil es lediglich zeigt, dass wir diese wirtschaftlichen Ausnahmetitel in diesem Jahr nicht haben.“ Er gehe dennoch davon aus, nach einem starken Herbst in etwa auf Vorjahresniveau zu landen.