Kategorie-Archiv: Frankfurter Museen

„Mut zum Chaos – Ottilie von Goethe und die Welt der Romantik“ – das Porträt eines Lebens „dazwischen“ im Deutschen Romantik Museum

Impression der Ausstellung "Mut zum Chaos" Ottilie von Goethe und die Welt der Romantik (1796 – 1872), Goethes „geliebte Schwiegertochter“, wurde schon von ihren Zeitgenossen überaus kontrovers wahrgenommen. Im Fokus standen stets ihre Rolle als Schwiegertochter Goethes, ihre unglückliche Ehe mit seinem Sohn August und ihre leidenschaftlichen Gefühle. Ihre selbstbestimmten Lebensentscheidungen und ihr freiheitsliebender Geist faszinierten und irritierten zugleich. © Foto Diether von Goddenthow
Impression der Ausstellung „Mut zum Chaos“ Ottilie von Goethe und die Welt der Romantik (1796 – 1872), Goethes „geliebte Schwiegertochter“, wurde schon von ihren Zeitgenossen überaus kontrovers wahrgenommen. Im Fokus standen stets ihre Rolle als Schwiegertochter Goethes, ihre unglückliche Ehe mit seinem Sohn August und ihre leidenschaftlichen Gefühle. Ihre selbstbestimmten Lebensentscheidungen und ihr freiheitsliebender Geist faszinierten und irritierten zugleich. © Foto Diether von Goddenthow

Erstmals rückt eine Ausstellung „Ottilie von Goethes bislang kaum beachtetes intellektuelles Lebenswerk in den Mittelpunkt“, und reduziere sie nicht „bloß“ auf Biografisches, erklärt Dr. Francesca Fabbri, renommierte Weimarer Goethe-Expertin und Kuratorin, beim Presserundgang gleich zum Einstieg in die neue Sonderausstellung „MUT ZUM CHAOS Ottilie von Goethe und die Welt der Romantik“, zu sehen vom 23.6. bis 3.09.2023 im Deutschen Romantik-Museum Frankfurt.
In enger Zusammenarbeit  mit  Professor Konrad Heumanns, dem Leiter der Handschriftenabteilung des Hochstifts, haben Dr. Francesca Fabbri und Sabine Schimma die Ausstellung „Mut zum Chaos“ aus Beständen des Goethe- und Schiller-Archivs Weimar und des Goethe-Hauses (Hochstift) Frankfurt chronologisch zusammengeführt.

Gleich zu Beginn der Ausstellung können sich Besucher ein Bild über Ottilie von Goethes Selbstverständnis ihrer Persönlichkeit bilden. Als Sprössling verarmten Uradels, aber durch die Funktionen ihrer Mutter und Großmutter als Hofdamen in Höfischer Umgebung sozialisiert und gebildet, war Ottilie ein Leben lang „heimatlos“, nämlich innerlich zerrissen, zwischen allen Stühlen „sitzend“ und sehnte sich nach Zugehörigkeit und nach „der“ unbedingten Liebe.
Diese Existenz „dazwischen“ zeigt sich vor allem auch in Ottilies Selbstverständnis ihrer Persönlichkeit. Diese Hintergründe ihrer seelischen Verfassung  sind  wichtig, um sich Ottilie von Goethes Person und Wirken besser annähern zu können.

Ihr befreundeter Schriftsteller Gustav Kühne, so Dr. Francesca Fabbri, beschrieb Ottilie kurz nach ihrem Tod einmal trefflich: Es seien nicht nur ihre Nähe und ihre liebevolle Beziehung zum Dichterfürsten [Wolfgang von Goethe, den sie Vater nannte] gewesen, die ihr eine faszinierende Aura verliehen, sondern eher ihr eigener origineller Charakter, denn ihr »tiefere[s] Interesse, welches Sie Allem entgegenbrachte, ihre Lebendigkeit, ihre geistreiche Schlagfertigkeit, ihr wohlwollend einfaches Wesen machten sie sehr anziehend, ja fesselnd«. Nicht zuletzt faszinierte auch die Tragik ihres Lebens. Neben dem Glanz der Öffentlichkeit stand ihre tief zerrissene private Existenz. Trotz der Geburt dreier sehr geliebter Kinder (Walther im Jahr 1818, Wolfgang zwei Jahre später und Alma im Jahr 1827) gestaltete sich das Zusammenleben mit ihrem Mann sehr unglücklich, erläutert die Kuratorin.

Mit Aquarell-Zeichnungen visualisierte Ottilie von Goethe ihrer Vorstellungen von ihren Charakter-Anteilen. Die hier hochvergrößerten Aquarelle hatte sie in ihrem Buch "Allerlei" eingefügt. © Foto Diether von Goddenthow
Mit Aquarell-Zeichnungen visualisierte Ottilie von Goethe ihrer Vorstellungen von ihren Charakter-Anteilen. Die hier hochvergrößerten Aquarelle hatte sie in ihrem Buch „Allerlei“ eingefügt. © Foto Diether von Goddenthow

Ottilie von Goethe war überzeugt, mehrere Charaktere (Charakteranteile) zugleich in sich zu vereinen, was zu dieser Zeit geradezu provokant war, da sie mit dieser Haltung aus der damaligen typischen Frauenrolle ausbrach. Adele Schopenhauer, eine ihrer Lebensfreundinnen, bestätigte sie in ihrer Auffassung als sie schrieb, dass sie (Ottilie) in schneller Folge „Kind, Jungfrau und Matrone und dazwischen der windigste Leutnant“ sei. Bereits als Verlobte hat Ottilie ihrem Ehemann in spe, August von Goethe,  in einer abendlichen Festveranstaltung empört vorgeworfen, dass er nur bestimmte Anteile ihrer Persönlichkeit von ihr gelten lassen wolle. Sie warnte ihn, sie nur als Hausfrau und Kindesmutter zu betrachten: „Hüte Dich, mein Freund!“.
Sie wollte als Mensch mit vielen Facetten wahrgenommen werden. Das unterstrich sie einmal mehr, indem sie gleich nach ihrer (Zweck-)Heirat mit August von Goethe ein Album für persönliche Aufzeichnungen mit dem Titel „Allerlei“ anlegte. Hierin fügte sie selbst angefertigte Aquarell-Zeichnungen, um ihre Vorstellungen von ihren angenommenen Charaterteilen zu visualisieren. Diesen Charakterbildern stellte sie jeweils einen Buchstaben ihres Namens „Ottilie“ voran. Jeder Buchstabe mit dem dazugehörigem Bild steht für einen Charakteranteil, etwa als „Träumerin“, „spielendes Kind“, „würdige Hausfrau“, „ antike Ritter-Göttin mit Helm, Lanze und Schild“, als „romantische Dichterin“ als ,preußischer Soldat“ und als „graugewandete alte Frau“. Nur zusammen bildeten all diese Charakter-Anteile die Persönlichkeit „Ottilie“, so ihre Überzeugung.

Impression der Ausstellung "Mut zum Chaos" Ottilie von Goethe  und die Welt der Romantik (1796 – 1872), im Deutschen Romantik Museum vom 23. Juni bis 3. September 2023. © Foto Diether von Goddenthow
Impression der Ausstellung „Mut zum Chaos“ Ottilie von Goethe und die Welt der Romantik (1796 – 1872), im Deutschen Romantik Museum vom 23. Juni bis 3. September 2023. © Foto Diether von Goddenthow

Eine Zweck-Ehe
Obwohl ohne Mitgift, stammte Ottilie, wie gesagt, aus zwei der ältesten Adelsgeschlechtern Deutschlands, während die wohlhabende Familie Goethe erst seit wenigen Jahrzehnten ihren Adelstitel führte. Ottilie selbst zweifelte aber aus anderen Gründen: August und sie kannten sich schon seit Jahren »so genau, dass wir gegenseitig jede Miene und Bewegung auszulegen wissen«, aber er war für sie nur ein Freund voller bodenständiger Gesinnung, wie sein Eintrag am 2. April 1816 in ihrem schönen Freundschaftsbuch zeigt. Dennoch heiratete sie ihn. Aus der Freiin von Pogwisch wurde ab 1817 Frau von Goethe. Letztlich war die absehbar unglückliche Ehe eine Zweckheirat zu ihrer existentiellen Absicherung.
So gestaltete sich die „Zusammenarbeit“ mit ihrem Mann trotz der Geburt dreier sehr geliebter Kinder (Walther im Jahr 1818, Wolfgang zwei Jahre später und Alma im Jahr 1827)  sehr unglücklich, so Dr. Francesca Fabbri, „Ottilie suchte schon während der Ehe und auch danach immer wieder vergeblich einen intellektuell und emotional gleichgesinnten Lebensgefährten und sehnte sich offen nach unbedingter Liebe“, eine Liebe, die sie aber nie fand.

Ottilies revolutionäres und bisweilen unstetes Leben, begann so richtig erst nach dem frühen Tod ihres Gatten August von Goethe. Als Witwe Ottilie von Goethe war sie als Dichterin und Übersetzerin äußerst aktiv, auch als Redakteurin und Herausgeberin. Zudem positionierte sie sich zu brisanten politischen Fragen und agierte national wie wie international als eine begnadete Netzwerkerin, besonders in den englischsprachigen Raum hinein. Der Titel des von ihr begründeten und herausgegebenen programmatischen Journals Chaos, wurde für diese Ausstellung „Mut zum Chaos“ adaptiert. Ziel von Ottilies „Chaos-Journal“ war, jegliche Schranken zwischen Nationalitäten, Geschlechtern und Schichten zu überwinden.
„Neben Eifer und Begeisterung bedurfte es gerade bei einer Frau der damaligen Zeit eines unerschütterlichen Glaubens an sich selbst, einer enormen Kraft und einer großen Menge Mutes, die eigenen Ideen trotz aller Widerstände und Kritiken durchzusetzen. Im Kampf um ein selbstbestimmtes Leben nutzte sie immer wieder den Prozess des Schreibens als Raum der Freiheit und Selbst(er)findung.“ so Sabine Schimma, Wissenschaftliche Mitarbeiterin Ausstellungen.

OTTILIE VON GOETHE – KURZBIOGRAPHIE

Ottilie von Pogwisch, später von Goethe (1796 - 1872), porträtiert 1813 vom Maler Franz Heinrich Müller (1793 - 1866), © Foto Diether von Goddenthow
Ottilie von Pogwisch, später von Goethe (1796 – 1872), porträtiert 1813 vom Maler Franz Heinrich Müller (1793 – 1866), © Foto Diether von Goddenthow

1806 kam Ottilie Freiin von Pogwisch (1796 – 1872), mittellose Nachfahrin zweier alter preußischer Adelsfamilien, in die Residenzstadt Weimar, wo ihre in Trennung lebende Mutter Henriette von Pogwisch eine Stelle als Hofdame antrat. Bald war Ottilie im Haus des Staatsministers und „Dichterfürsten“ Johann Wolfgang von Goethe ein willkommener Gast. 1817 heiratete sie gegen die Bedenken ihrer Familie Goethes einzigen Sohn August, der ihr seit langer Zeit vertraut war.

Nach dem Einzug in das Haus am Frauenplan, wo die junge Familie mit dem „Vater“ unter einem Dach wohnte, entfaltete Ottilie von Goethe eine weltoffene Geselligkeit. Besonders interessierte sie sich für die englischsprachige Kultur. Sie übersetzte, dichtete und gründete die mehrsprachige Zeitschrift Chaos. Für Goethe wurde sie mehr und mehr zu einer wichtigen Gesprächspartnerin. Auch wurden drei Kinder geboren: Walther, Wolfgang Maximilian und Alma. Die Ehepartner entfremdeten sich jedoch zusehends, zu unterschiedlich waren ihre Charaktere. So suchte Ottilie von Goethe schon während der Ehe nach einem intellektuell und emotional gleichgesinnten Partner, was in der Stadt für Gesprächsstoff sorgte.

Nach dem Tod des Ehemanns im Jahr 1830 und des Schwiegervaters zwei Jahre später führte sie ihr Leben selbstbestimmt und weitgehend unabhängig von den damaligen Konventionen. Ihre liebes- und lebenshungrige Haltung ersparte ihr keine Kritik – sie selbst sprach vom „Doppelurteil, was von mir in der Welt herrscht“. Nach einer Beziehung mit einem englischen Captain gebar sie 1834 inkognito in Wien ein viertes Kind, das jedoch ein Jahr später in der Pflege starb.
1837 zog Ottilie von Goethe mit ihrem Sohn Walther nach Leipzig. Hier und in Wien, wo sie ab 1842 dauerhaft lebte, begeisterte sie sich für die literarisch-politischen Strömungen des Liberalismus. 1844 starb in Wien ihre 16-jährige Tochter Alma an Typhus – ein unüberwindbarer Schicksalsschlag für die ganze Familie. Gleichwohl entschied sie sich, in der Stadt zu bleiben. In ihrem angesehenen Salon verkehrte über zwei Jahrzehnte die literarische Szene Wiens. 1870 kehrte sie nach Weimar zurück und verbrachte im Haus am Frauenplan ihre letzten zwei Lebensjahre.
Katalog: OTTILIE VON GOETHE – Mut zum Chaos. Ein Ausstellungsbuch, herausgegeben von Francesca Fabbri,mit Beiträgen von Francesca Fabbri, Waltraud Maierhofer und Yvonne Pietsch

PROGRAMM ZUR AUSSTELLUNG
FÜHRUNGEN
ÖFFENTLICHE FÜHRUNGEN
Di, 27. Juni, 16:30 Uhr
So, 2. Juli, 14 und 16 Uhr
Di, 4. Juli, 16:30 Uhr
So, 9. Juli, 14 und 16 Uhr
Di, 11. Juli, 16:30 Uhr
So, 16. Juli, 14 und 16 Uhr
Di, 18. Juli, 16:30 Uhr
So, 30. Juli, 14 und 16 Uhr
So, 13. August, 14 und 16 Uhr

Im Eintrittspreis inklusive
THEATER-FÜHRUNGEN
mit Katharina Schaaf
So, 25. Juni, 15 und 16:15 Uhr
Sa, 1. Juli, 15 Uhr
Do, 6. Juli, 18 Uhr
Do, 13. Juli, 18 Uhr
Sa, 15. Juli, 15 und 16:15 Uhr
Sa, 22. Juli, 15 Uhr
So, 23. Juli, 15 Uhr
Sa, 29. Juli, 15 und 16:15 Uhr
Sa, 5. August, 15 Uhr
So, 6. August, 15 Uhr
So, 20. August, 15 Uhr

Kosten 5 € zzgl. Eintritt. Anmeldung erforderlich
Es besteht die Möglichkeit zu individuellen Führungen.

VERANSTALTUNGEN
Do, 29. Juni, 19 Uhr
DIE SCHWIEGERTOCHTER
Das Leben der Ottilie von Goethe
Buchvorstellung mit Dagmar von Gersdorff
In ihrem jüngsten Werk entwirft die bekannte Biographin Dagmar von Gersdorff ein facettenreiches Bild der lebenshungrigen Ottilie von Goethe, von den schwierigen Jugendjahren über die Heirat mit Goethes einzigem Sohn August bis hin zur langen Phase des Witwenstandes mit Freundschaftsbünden und rastlosen Aktivitäten. Im Zentrum steht die Zeit an der Seite Goethes, dem sie über 15 Jahre die nächste Vertraute war.
Ort: Freies Deutsches Hochstift, Arkadensaal, Großer Hirschgraben 23-25
8 € / 4 € für Mitglieder des Freien Deutschen Hochstifts.

Di, 4. Juli, 19 Uhr
SCHREIBEN OHNE NAMEN
Schriftstellerinnen um 1800 Gespräch mit Francesca Fabbri und Materina Wernli. Lesung: Barbara Englert
Wie stand es um die Publikationsmöglichkeiten von Autorinnen um 1800? Sophie La Roches ‚Fräulein von Sternheim‘ (1771) wurde von Christoph Martin Wieland herausgegeben, Dorothea Veit-Schlegels Roman ‚Florentin‘ (1801) erschien unter dem Namen ihres Mannes Friedrich Schlegel und Karoline von Günderrode nutzte das Pseudonym Tian, das einen männlichen Autor suggerierte. Welche Rolle spielte in solchen Zeiten Ottilie von Goethe und die von ihr von 1829 bis 1831 herausgegebene Zeitschrift ‚Chaos‘, die die Redeordnungen der Zeit programmatisch unterlief?
Ort: Freies Deutsches Hochstift, Arkadensaal, Großer Hirschgraben 23-25
8 € / 4 € für Mitglieder des Freien Deutschen Hochstifts.

Mi, 19. Juli, 19:30 Uhr
LIED & LYRIK:WALTHER VON GOETHE
Lieder, Balladen, Texte – Versuch eines Porträts Mit Ulf Bästlein, Bassbariton und Hedayet Jonas Djeddikar, Klavier
Carl Friedrich Zelter versprach, Obacht auf die musikalische Entwicklung Walther von Goethes (1818 – 1885), Sohn von Ottilie und August von Goethe und Enkel des „großen“ Goethe, zu geben. Robert Schumann, der ihm seine Davidsbündlertänze widmete, wurde sein Freund. Kompositionsunterricht erhielt er u. a. von Felix Mendelssohn-Bartholdy und Carl Loewe. Doch trotz großer Begabung verstummte Walther von Goethe früh als Komponist. Die Last der Ansprüche, die man an den Namen Goethe stellte, war übergroß. Seine Rezensionen, Essays und sozialkritischen Novellen erschienen unter Pseudonym. Dennoch ist es wesentlich auch sein Verdienst, dass Weimar die „Stadt der Klassik“ blieb.
Das jüngst wiederentdeckte kompositorische Werk Walther von Goethes, in dessen Zentrum Lied und Ballade stehen, bedarf indes einer Neubewertung. Ulf Bästlein und Hedayet Jonas Djeddikar versuchen, ein Portrait dieses liebenswürdigen, humorvollen und feinsinnig gebildeten Menschen und Künstlers zu zeichnen.
Ort: Freies Deutsches Hochstift, Arkadensaal, Großer Hirschgraben 23-25
16 € / 8 € für Mitglieder des Freien Deutschen Hochstifts

BESUCHERINFOS & KONTAKT
ÖFFNUNGSZEITEN
Freitag bis Mittwoch, Feiertage 10 – 18 Uhr*
Donnerstag 10 – 21 Uhr
*Geänderte Öffnungszeit: 28. August 10–17 Uhr

Ort und Kontakt:
Deutsches Romantik-Museum & Frankfurter Goethe-Haus
Großer Hirschgraben 21
60311 Frankfurt am Main
www.freies-deutsches-hochstift.de

„Plastic World“ Die Materialgeschichte und Ästhetik von Plastik in der Bildenden Kunst in der Schirn Kunsthalle Frankfurt ab 22.06.2023

Die Schirn Kunsthalle Frankfurt widmet vom 22. Juni bis zum 1. Oktober 2023 der bewegten Geschichte von Plastik in der bildenden Kunst erstmals eine große Themenausstellung. Diese eröffnet das breite Panorama der künstlerischen Verwendung und Bewertung des Materials von den 1960er-Jahren bis heute. Das Spektrum reicht von der Euphorie der Popkultur über den futuristischen Einfluss des Space Age und die Trash-Arbeiten des Nouveau Réalisme bis zu ökokritischen Positionen der jüngsten Zeit; es umfasst Architekturutopien ebenso wie Experimente mit Materialeigenschafte. © Foto Diether von Goddenthow
Die Schirn Kunsthalle Frankfurt widmet vom 22. Juni bis zum 1. Oktober 2023 der bewegten Geschichte von Plastik in der bildenden Kunst erstmals eine große Themenausstellung. Diese eröffnet das breite Panorama der künstlerischen Verwendung und Bewertung des Materials von den 1960er-Jahren bis heute. Das Spektrum reicht von der Euphorie der Popkultur über den futuristischen Einfluss des Space Age und die Trash-Arbeiten des Nouveau Réalisme bis zu ökokritischen Positionen der jüngsten Zeit; es umfasst Architekturutopien ebenso wie Experimente mit Materialeigenschafte. © Foto Diether von Goddenthow

Plastik, das „Wundermaterial“, ist in Verruf geraten. Es ist  ein rohölbasierter, synthetischer Werkstoff, welcher wohl wie kaum ein anderer Gesellschaften  in so kurzer Zeit weltweit beeinflusst und verändert hat, nicht zuletzt auch das Schaffen von  Künstlerinnen und Künstlern, die „das“ Plastik seit den 1960er Jahren mehr und mehr  als idealen Werkstoff für sich entdeckten.

Vor diesem Hintergrund   widmet die Schirn Kunsthalle Frankfurt vom 22. Juni bis zum 1. Oktober 2023 der bewegten Geschichte von Plastik in der bildenden Kunst erstmals eine große Themenausstellung. Dabei versammelt die Schirn 100 Werke von über 50 inter­na­tio­na­len Künst­lern und Künstlerinnnen, die auf unter­schied­lichste Weise mit Kunst­stoff arbei­ten, darun­ter Monira Al Qadiri, Archi­gram, Arman, César, Christo, Haus-Rucker-Co, Eva Hesse und Hans Hollein, Niki de Saint Phalle usw.. Es wird sicht­bar, wie sich der erfolg­rei­che viel­sei­tige Werk­stoff Plas­tik in seiner kurzen Geschichte vom Inbe­griff für Fort­schritt, Moder­ni­tät, utopi­schem Geist und Demo­kra­ti­sie­rung des Konsums zu einer Bedro­hung der Umwelt wandelte.
SCHIRN KUNST­HALLE FRANK­FURT am Main GmbH
Römer­berg
D-60311 Frank­furt am Main
Tel +49 69 299882-0
Fax +49 69 299882-240
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Einführung:

Plastic World, Otto Piene, Anemones: An Air Aquarium, 1976, Neuproduktion 2023, Installationsansicht, © Foto Diether von Goddenthow
Plastic World, Otto Piene, Anemones: An Air Aquarium, 1976, Neuproduktion 2023, Installationsansicht, © Foto Diether von Goddenthow

Plastik ist eine Substanz, die Kunst und Gesellschaft in einem kurzen Zeitfenster radikal verändert hat. Plastik ist der Wunderstoff, aus dem man beinahe alle erdenklichen Dinge erstellen kann – vom Turnschuh über den Zahnersatz bis zum Computer. Hart oder flexibel, transparent, opak, gemustert, glatt, zart oder bunt, kann Plastik fast jede Form annehmen. Für die Kunst war und ist Plastik ein Vehikel der Innovation. Seinen großen Durchbruch hatte es dort parallel zu den Konsumwellen seit den 1950er-Jahren mit ihrer Massenproduktion und einer Massenkultur, die sich für Nylonhemden und Tupperware begeisterte. Auf der Suche nach dem Neuen wurde in der Kunst mit den jeweils neuesten verfügbaren Stoffen experimentiert, sei es Plexiglas, Styropor, Silikon, Vinyl oder Polyurethan. Das Gebrauchsmaterial der Industriegesellschaft ist im 20. und 21. Jahrhundert der zentrale Rohstoff für die künstlerische Arbeit. Die bildende Kunst erzählt auf diese Weise eine hoch interessante Materialgeschichte mit nie gekannten Möglichkeiten für die Künstlerinnen und Künstler: Arman benutzt Acrylglas, Cesar Polyurethan, ebenso Lynda Benglis. Alina Szapocznikow kaut Kaugummi, HazMatLab produziert Schleim oder wie Monira Al Qadiri Skulpturen mit dem 3D-Drucker. James Rosenquist zeigt seine Motive auf Polyesterfilm, der kurz zuvor von der NASA für die Raumfahrt entwickelt wurde. PVC-Rohre werden ebenso verarbeitet wie Plastikschläuche, zersägte Schaufensterpuppen, Industrielacke, überhaupt industrielle Werkstoffe, banale Alltagsdinge oder auch deren Überreste, etwa alte Rasierapparate, ausrangierte Kabel oder Computerplatinen.

KURATORIN Dr. Martina Weinhart, Schirn hat gemeinsam mit ihrer Assistentin  Anna Huber eine wunderbare Überblicks-Schau geschaffen. © Foto Diether von Goddenthow
KURATORIN Dr. Martina Weinhart, Schirn hat gemeinsam mit ihrer Assistentin Anna Huber eine wunderbare Überblicks-Schau geschaffen. © Foto Diether von Goddenthow

Die Ausstellung „Plastic World“ widmet sich diesem zentralen Material der zeitgenössischen Kunst. Es ist Symptom und Symbol unserer Massengesellschaft, die spätestens seit den 1950erJahren auch eine Wegwerfgesellschaft ist. Dabei eröffnet die Ausstellung ein breites Panorama der künstlerischen Verwendung und Bewertung von Plastik, die den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext spiegelt und nicht selten Überraschungen birgt. Sie reicht von der Euphorie der Popkultur in den 1960er-Jahren über den futuristischen Einfluss des Space Age und die Trash-Arbeiten des Nouveau Realisme, Architekturutopien, Experimente mit Materialeigenschaften bis zu ökokritischen Positionen der jüngsten Zeit. Die Bestandsaufnahme unseres Plastikzeitalters zeigt in mehreren Kapiteln die Vielfalt der Stoffe, Formen und Materialien in der Kunst, die dieser omnipräsente Stoff in seiner kurzen Geschichte seit den 1960er-Jahren durchlaufen hat. Damals wurde das Plastic Age geboren und damit auch eine Materialkultur, die noch heute dominiert und von der wir uns unter ökologischem Druck gerade zu befreien suchen. Als geschichtsloser Alleskönner war Plastik einmal das Material der Zukunft, inzwischen schaut man eher auf die synthetische Ewigkeit, die wir mit ihm verbringen werden. Plastik ist gekommen, um zu bleiben. Insgesamt hat sich Kunststoff zu einer kulturellen Kraft mit fundamentalem Einfluss entwickelt. Also begeben wir uns auf die Suche nach seiner Ästhetik, denn Plastik ist, um mit Roland Barthes zu sprechen, ,,im Grunde ein Schauspiel, das entziffert werden muss“.

PLASTIC POP
Plastik ist Pop, in Kunst und Design gleichermaßen beliebt und steht in den 1960er-Jahren für den neuen Lifestyle der Jugend, die sich von der konservativen Elterngeneration absetzen will. Plastik ist bunt, hat grelle Farben. Plastik ist schlichtweg das ikonische Material der Zeit. „Everybody’s plastic – but I love plastic. I want to be plastic“, schreibt Andy Warhol und lässt synthetische Silver Clouds (1966) durch den Raum schweben. Merce Cunningham tanzt mit ihnen und baut sie 1968 kongenial in seine Choreografie RainForest ein. James Rosenquist bannt seine Motive auf riesige Vorhänge aus Polyesterfilm, experimentiert spektakulär mit den Materialeigenschaften der Mylar-Folie und erweitert auf diese Weise gleichermaßen die Malerei und den traditionellen Kanon der Kunstgeschichte. Fasziniert von den Banalitäten der Konsumkultur und den Dingen des täglichen Lebens, baut Claes Oldenburg Waschbecken, Eisbeutel oder Lichtschalter aus Vinyl. Thomas Bayrle spiegelt mit seiner Tassentasse (1969/96) die Begeisterung der Pop Art für das neue Material, das auch er als Fetisch der Alltagskultur karikiert. Oyvind Fahlströms raffinierte Umkodierung des Markenzeichens ESSO in LSD persifliert 1967 auf spielerische und provokante Weise die Logokultur der Werbung – und reflektiert nicht zuletzt die Allgegenwärtigkeit der Petrochemie als Basis dieser Kultur.

PLASTIK KÖRPER

In der männlich dominierten Kunst der 1960er-Jahre ist der nach eigenen Wünschen formbare weibliche Körper omnipräsent, etwa bei Tom Wesselmann oder John de Andrea. Dieser Körper findet durch seine direkte Abformung mittels Silikons und in der Ausführung in Polyester eine kongeniale Materialität. Nun ist ein vorher nie gekannter Realismus – der Hyperrealismus – möglich. Zunächst weniger prominent, nehmen sich im Umfeld der Pop Art aber auch Künstlerinnen wie Nicola L., Evelyne Axell, Niki de Saint Phalle und Lourdes Castro der Formen des Körpers an. Kiki Kogelnik dreht den Spieß um. Für ihre Cut-outs schneidet sie häufig die Konturen ihrer männlichen Künstlerkollegen aus. Am Boden liegend dienen sie ihr dafür als Modelle. Nicola L. setzt sich offensiv damit auseinander, wie der weibliche Körper zum Objekt wird. Augenzwinkernd und provokativ macht sie ihn zum variablen Sofamöbel. Evelyne Axell schließlich schafft selbstbewusst weibliche Akte in erotischer Pose. Niki de Saint Phalle macht mit ihren Nanas üppige Frauenfiguren jenseits körperlicher Normen zu Ikonen einer feministischen Kunstgeschichte.

Ausstellungsansicht Plastic World - im Vordergrund: Monira Al Qadiri, Orbital 1, 2022 © Foto Diether von Goddenthow
Ausstellungsansicht Plastic World – im Vordergrund: Monira Al Qadiri, Orbital 1, 2022 © Foto Diether von Goddenthow

OTTO PIENE, ANEMONES: AN AIR AQUARIUM

Nicht selten wird Plastik zu begehbaren Environments geformt. Otto Pienes Anemones: An Air Aquarium (1976) macht die Unterwasserwelt in Form von riesigen aufblasbaren und durchsichtigen Seeanemonen und anderen Unterwasserwesen erfahrbar. Es wurde zuerst 1976 für die Organisation Creative Time in New York produziert. Die zu ihrer Entstehungszeit rein poetische und spielerische Arbeit erhält in ihrer heutigen Rekonstruktion oder Wiederaufführung eine Erweiterung der Perspektive: Die historische Sichtweise von Plastik als gefeiertem Werkstoff für die Kunst wird durch den Diskurs um die Verschmutzung der Meere durch Plastik und Mikroplastik überlagert. Pienes Arbeit veranschaulicht die Ambivalenz des Materials Plastik. Exemplarisch wird in ihr auch die Zeitgebundenheit von Plastik, die es notwendig macht, historische Arbeiten wie diese neu zu produzieren, da die Ursprungsversion durch den Verfall des Vinyls mittlerweile nicht mehr funktionstüchtig und präsentabel ist. Auch dies ist ein Aspekt des Verhältnisses von Natur und Künstlichkeit.

NATUR UND KÜNSTLICHKEIT

Industrielle Werkstoffe werden zur Darstellung oder gar für ein Ersatz-Erlebnis der Natur genutzt – der Gegensatz könnte nicht größer sein. Er beschäftigt eine ganze Reihe von Künstler*innen. In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre erkunden Arbeiten im Umfeld der italienischen Arte Povera das Verhältnis von Natur und Künstlichkeit. Man interessiert sich für „arme“, gewöhnliche Materialien, und auch Banales soll zum Kunstwerk werden. Gleichzeitig sind in Italien die neuen synthetischen Materialien durch die Innovationsschübe des überaus lebendigen Designsektors besonders präsent. Dies führt zu einer lebendigen Überschneidung und gegenseitigen Befruchtung der Bereiche Kunst und Design. Vor diesem Hintergrund betreiben Künstler wie Gina Marotta oder Piero Gilardi die Subversion traditioneller Konzepte von Mimesis in der Darstellung der Natur. Wie aus einem riesigen Modellbaukasten fügt Marotta ein künstliches Paradies zusammen: Eden Artificiale (1967-1973). Für seine alternative Natur verwendet er transparentes Acrylglas, den wohl haltbarsten Kunststoff überhaupt. In spielerischer Leichtigkeit präsentiert uns Marotta keimfreie und nüchterne Acrylglas-Abstraktionen einer offensiven NichtNatur. Das genaue Gegenteil ist die ästhetische Strategie des Arte-Povera- Künstlers und Umweltaktivisten Piero Gilardi, der mit seinen Tappeti Ausschnitte aus der Natur entwirft. Sie bestehen aus Polyurethanschaum und erscheinen so täuschend echt, dass sie mit dem bloßen Auge kaum als künstlich zu enttarnen sind. In perfekter Mimikry entstehen ein synthetischer Dschungel oder ein artifizieller Strand. Die „Tappeto-Natura“ zielt in ihrer hyperrealistischen Nachbildung auf die Erfahrung der Betrachter*innen. Sie ist einer relationalen Ästhetik verbunden und auch dem sozialen Anliegen, dem Publikum drängende umweltpolitische Probleme nahezubringen.
Andere greifen die Idee der offensiven Künstlichkeit auf. Der französische Maler Bernard Rancillac bannt das Bild eines Dschungels auf eine gefärbte Acrylglasscheibe. Die Belgierin Evelyne Axell kombiniert für Le Pre (1970) eine Clartex-Platte mit grünem Kunstfell und vereint in flachem Relief eine Frau mit einer Wiese. 1987 verbindet der US-Amerikaner Mike Kelley eine ganze Reihe von niedlichen Plüschtieren zu einem ironischen Plush Kundalini Chakra Set.

 

PLASTIKUTOPIEN

Weltraumforschung, Raumfahrttechnologie und nicht zuletzt die Mondlandung selbst hinterlassen einen tiefen Eindruck in der Popkultur, dem Design und dem utopischen Geist der 1960er-Jahre. Inspirierend wirkt vor allem die Apollo-Mission der NASA mit eigens entwickelten High-TechMaterialien wie etwa der Mylar-Folie für die Raumanzüge mit integriertem Helm. Vor allem die Jugend ist von der coolen technoiden Asthetik fasziniert. Filme wie Barbarella oder 2001: Odyssee im Weltraum (beide 1968) begeistern das breite Publikum. Gleichzeitig prägt eine Atmosphäre des Aufbruchs die Gesellschaft. Im Space-Age-Style kommuniziert das Material Kunststoff einen unerschütterlichen Glauben an die Zukunft und den gesellschaftlichen Wandel. Futuristische, aber auch spielerische und hedonistische Formen scheinen die Regeln der Schwerkraft hinter sich zu lassen. Schwerelosigkeit, Leichtigkeit, Mobilität, Flexibilität und nicht zuletzt das Arbeiten im Kollektiv stehen für diese Zeit.

Die britische Gruppe Archigram entwirft assoziative Bildmontagen mit einer gewisse Nähe zur Pop Art wie etwa Instant City, Glamour (1969), die sie ab 1961 im Magazin Archigram publizieren. Bei ihren Utopien und visionären Modellen geht es um die Idee, nicht um die Ausführung. So ist Air Hab (1966) der Entwurf für eine Klimakapsel, in der die High-TechFantasie durch Kunstgras und Picknickdecke ironisiert wird. In San Francisco gründen Chip Lord und Doug Michels 1968 die Gruppe Ant Farm, Ausdruck einer Gegenkultur, in der die Künstler eher eine Rockband als herkömmliche Architekten sein wollen. Im selben Jahr kommen in Wien Wolf Prix, Helmut Swiczinsky und Michael Holzer zu Coop Himmelb(l)au zusammen. Ein Jahr zuvor schließen sich dort Günter Zamp Kelp, Laurids Ortner und Klaus Pinter zu Haus-Rucker-Co zusammen, später stößt noch Manfred Ortner hinzu.

Utopische Objekte erweitern Körper und Räume und öffnen neue Wege der Wahrnehmung und Kommunikation. Neue Körpererfahrungen im urbanen Raum gehören ebenso dazu wie bewegliche Raumhüllen aus Kunststoff. Hans Hollein schlägt 1969 ein aufblasbares Mobiles Büro vor, Walter Pichler 1964 einen Kleinen Raum, den man mit sich herumtragen kann, fast wie ein Astronaut seinen Helm. Temporäre Architekturen und aufblasbare Strukturen wie bei Graham Stevens spielen eine große Rolle. Erfindungsreich und nonkonformistisch setzt man die Leichtigkeit des Materials gegen verstaubte Traditionen. Wegweisend war der US-Amerikaner Richard Buckminster Fuller, der ein systematisches Zusammenwirken von Technik und sozialen Aspekten unter Verwendung von neuen Materialien untersuchte. Seine geodätischen Kuppeln prägten ganze Generationen. Auch der Niederländer Constant hat mit seinen utopischen Entwürfen für ein ,,Neues Babylon“ entscheidende Impulse geliefert. Die Nähe zwischen Architektur und bildender Kunst zeigt sich in seinen architektonischen Skulpturen wie Konstruktion mit durchsichtigen Flächen (1955), die das synthetische Material für ein freies Spiel utopischer Ideen nutzen.

MATERIALEXPERIMENTE

Im 20. Jahrhundert fanden Kunststoffe den Weg in die Kunst, anfangs in engen Grenzen, verstärkt seit den 1960er-Jahren. Voller Begeisterung für das Neue wurde mit den jeweils aktuellsten verfügbaren Stoffen experimentiert. Plastik kann fast jede Form annehmen, hart oder flexibel sein, transparent, opak, gemustert, glatt oder strukturiert. Die Wahl des Materials ist ein entscheidender Faktor bei der Entstehung eines Werks, und so werden Kunststoffe in ungeheurer Experimentierfreude genutzt: Der französische Bildhauer Cesar faltet MethacrylatFolien zu einer Compression (1970) oder gießt in seinen Expansions Polyurethan in freie Formen. Die Amerikanerin Lynda Benglis integriert die Fragilität von Polyurethanschaum in das Konzept der performativen Schüttungen ihrer Frozen Gestures. Von den Arbeiten bleibt oft nur die Dokumentation. Das gleiche gilt für die Photosculptures (1971) der polnischen Künstlerin Alina Szapocznikow, performativen Skulpturen aus gekauten Kaugummis. Eva Hesse wiederum entwickelt Mitte der 1960er-Jahre ein singuläres künstlerisches Werk zwischen Minimal Art, Surrealismus und Konzeptkunst, in dem der Materialität ein zentraler Platz zukommt. Mit der Bereitschaft der Künstlerinnen, gänzlich neue Wege zu gehen, nehmen die radikalen Experimente von Eva Hesse und Lynda Benglis eine Vorreiterrolle ein, nicht zuletzt im Rahmen einer feministischen Kunstgeschichte.

In Deutschland ,,malt“ Gerhard Hoehme seine informellen Kastenobjekte mit Nylonschnüren oder arrangiert diese zu einem Strahlenfall (1968). Ferdinand Spindel, der sich ganz auf Kunststoff als Material konzentriert, nutzt die Flexibilität von Schaumstoff für Objekte seiner Soft Art. Sein Kollege Joachim Bandau verwendet in seinen Parodien einer Gebrauchsästhetik Materialien wie aus dem Baumarkt-Armaturen, PVC-Rohre, Plastikschläuche, aber auch zersägte Schaufensterpuppen, die er mit Industrielacken überzieht. Hans Haacke schließlich untersucht in Welle mit Unterbrechung (1965) die physikalischen Eigenschaften von Acrylglas und verweist nicht zuletzt auf dessen Nutzung in Forschung und Technik.

Heute trägt das Frankfurter Künstlerinnenkollektiv HazMatLab (Sandra Havlicek, Tina Kohlmann und Katharina Schücke) das Experiment bereits mit einiger Ironie in seinem Namen. Die Künstlerinnen nutzen ungewöhnliche Substanzen wie synthetischen Schleim, industrielle Nagellacke, aber auch das neuere 3D-Druck-Verfahren für ihre kreative Materialforschung.

PLASTIC TRASH

Niki de Saint Phalle © Foto Diether von Goddenthow
Niki de Saint Phalle © Foto Diether von Goddenthow

Bereits in den 1960er-Jahren interessieren sich Künstler des Nouveau Réalisme wie etwa Cesar oder Arman weniger für das glatte, schöne Material als für das, was am Ende übrig bleibt. In ihren Assemblagen nehmen sie den Konsumrausch der westlichen Welt in den Jahrzehnten nach dem Krieg ins Visier. Dabei spiegeln sie aber eher die dunkle Seite der Wegwerfgesellschaft. Anfang der 1960er-Jahre häuft Arman in seinen Poubelles (Mülleimern) aus Acrylglas das AbfallSammelsurium seiner Zeit an. Er stellt einen Kasten voller alter Rasierapparate aus und konterkariert auf diese Weise die Plastikbegeisterung der Popkultur. Die Nouveaux Réalistes nehmen eine grundsätzliche Umwertung tradierter Vorstellungen vom Kunstwerk und seiner Materialität vor.

So auch Christo. Seine Arbeit lebt aus dem Paradox, banale Dinge des Alltags gerade durch ihre Verhüllung sichtbar zu machen. Ein frühes Beispiel ist Look (um 1965): Einen Stapel von Ausgaben des gleichnamigen Magazins umschließt eine Hülle aus Synthetikmaterial. Die Verpackung nimmt in der kapitalistischen Wirtschaft eine zentrale Rolle ein, die Verpackungsindustrie ist ein Motor der Wegwerfgesellschaft. Indem er die Gewichtung von Verpackung und Inhalt austauscht, macht Christo die Verpackung selbst zum Hauptakteur seiner Kunst. Auf diese Weise enthüllt er die Mechanismen unserer Konsumgesellschaft. Heute ersticken wir mehr denn je in Plastikmüll, und so nehmen Künstler*innen den gesamten Lebenszyklus von Plastik ins Visier. Francis Alÿs zeigt in seinem Film Barrenderos (2004) Straßenkehrer bei ihrer nächtlichen Arbeit in Mexico City. Der Müll, den sie entsorgen, besteht hauptsächlich aus Plastikflaschen und anderen Plastikverpackungen. Der Äthiopier Elias Sime fertigt großformatige Materialcollagen aus Dingen, die man auf den Märkten in Addis Abeba oder an anderen Orten des globalen Südens finden kann. Bei näherer Betrachtung enthüllen die abstrakten Arbeiten, dass sie aus Zivilisationsabfall zusammengebaut wurden. Elektroschrott, Computerplatinen aus Kunststoff oder plastikummantelte Kabel fügen sich zu einer besonderen Kartografie unserer Gegenwart zusammen.

ÖKOKRITIK

Das Anthropozän hat seine Spuren hinterlassen. Plastik hat alle Lebenswelten durchdrungen: die Meere ebenso wie die Strände, die Wälder, die Landschaft, den Stadtraum, die Körper der Menschen wie der Tiere. Plastik ist unaufhaltbar und kaum einzugrenzen. Mikroplastik und Nanoplastik findet man in der Tiefsee, in der Arktis und in den Organen von Lebewesen. Die naive Begeisterung für Plastik in all seinen Erscheinungen hat ein Ende gefunden. Die Ölkrisen der 1970er-Jahre, Massenkonsum und Wegwerfgesellschaft sowie deren lnfragestellung bewirkten im Laufe der Zeit eine Umwertung. Vom Symbol für Fortschritt, Modernität, utopischen Geist und Demokratisierung des Konsums wandelte sich Plastik zur ökologischen Zeitbombe. Diesen nachhaltigen Mentalitätswandel der Gesellschaft spiegeln Werke einer jüngeren Künstlergeneration wider. Ihre ökokritischen Arbeiten formulieren Einwände vor allem gegen den übermäßigen Gebrauch von Plastik im Alltag.

Monira Al Qadiri befasst sich mit der Dominanz der Ölindustrie, die ihr aus ihrer Kindheit in Kuwait vertraut ist. Die Petrokultur und ihre globalen Auswirkungen durchdringen ihr gesamtes Werk. Sie hat die unterschiedlichen Formen von Bohrköpfen für Ölbohrungen zum Vorbild für eine Reihe von Skulpturen genommen, die sich wie Preziosen in der Auslage eines Juweliers auf Sockeln drehen. Mit ihrer irisierenden, perlmuttähnlichen Oberfläche erscheinen die Objekte wie majestätische Kronen – Fetische der Golfregion, Trophäen des Anthropozäns. Dennis Siering wiederum hat aus Pyroplastik ein künstlerisches Projekt gemacht. Dabei handelt es sich um an Stränden, auf Schiffen oder in Mülldeponien verbrannte Plastikteile, die auf verschiedenen Wegen in die Ozeane geraten sind. Sie sind durch jahrzehntelange Erosion so geformt, dass sie mit dem bloßen Auge kaum von natürlichen Steinen zu unterscheiden sind. Der dänische Künstler Tue Greenfort, der sich in zahlreichen Projekten mit der Ökologie, der Natur und unserem Umgang mit ihr beschäftigt hat, wirft in seiner jüngsten Arbeit einen Blick auf die Entdeckung von Studierenden der Yale-University, die im Amazonas-Regenwald feststellten, dass ein Pilz mit dem Namen Pestalotiopsis microspora offenbar tatsächlich in der Lage ist, Plastik zu verstoffwechseln. Er konsumiert Polyurethan und wandelt es in organisches Material um. Pinar Yoldaş, die an der Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft tätig ist, entwickelt seit 2014 An Ecosystem of Excess. Im Zentrum stehen die Ozeane – einstmals Ursprung des Lebens und heute von Plastik durchseucht. Ausgehend vom Great Pacific Garbage Patch, einem riesigen Müllteppich zwischen Hawaii und Kalifornien, kreiert sie ein posthumanes Ökosystem. Dort leben spekulative Organismen, die sich diesen Bedingungen evolutionär angepasst haben und Kunststoffe verarbeiten können. An Ecosystem of Excess ist im Senckenberg Naturmuseum Frankfurt zu sehen.

VERFÜHRERISCHES PLASTIK
Was fasziniert uns eigentlich an dem Material Plastik? Vielleicht die Farben – Rot, Gelb, Grün, Lila –, leuchtend in allen möglichen Schattierungen oder zart, pastellig, transparent? Oder auch die plakative Künstlichkeit der Oberflächen, die Glätte, wenn es neu und unberührt ist, die Reinheit suggeriert, Unschuld, Sauberkeit? Die Welt der cleanen Oberflächen erschlossen die sogenannten Finish Fetish Artists im Kalifornien der späten 1960er-Jahre – inspiriert durch Surfboards, Autolacke und das grelle Licht, das alles bescheint. Craig Kauffman ist einer von ihnen und der erste Künstler, der die industrielle Technik des Vakuumformens von Duroplast in der Kunst anwendet, nachdem er sich 1964 bei Planet Plastics mit dem Verfahren vertraut gemacht hat. Mit seinen minimalistischen Reliefs aus transluzenten und transparenten Materialien ist er ein perfekter Vertreter des L.A.-Look, passend zum sleeken Image der WestCoast-Metropole. Wegen der Perfektion seiner glänzenden, beinahe feucht schimmernden Oberflächen wird diesen Objekten nicht selten eine nahezu erotische sensuelle Qualität bescheinigt.

John de Andrea, Woman Leaning Against Wall, 1978. © Foto Diether von Goddenthow
John de Andrea, Woman Leaning Against Wall, 1978. © Foto Diether von Goddenthow

Ähnliches gilt für die Skulpturen von Berta Fischer, die in Transparenz und Leichtigkeit im Raum schweben. Die Künstlerin verwendet nahezu ausschließlich normierte und handelsübliche Plexiglasplatten in unterschiedlichen Farbtönen, nicht selten Neonfarben, die sich durch die makellose Glätte ihrer Oberflächen auszeichnen. Fischer nutzt die Formbarkeit der Platten durch Hitzeeinwirkung und schickt die einzelnen Segmente durch eine riesige Mangel. Dabei entstehen komplexe Konstruktionen in formalem Reichtum. Künstlichkeit als Konzept bewegt auch Richard Artschwager in seiner Arbeit zwischen Pop Art, Konzeptkunst und Minimalismus. Er ist bekannt für seine möbelähnlichen Objekte, die Materialien wie Resopal oder andere Imitate nutzen – künstliche und billige Baustoffe, die häufig in amerikanischen Haushalten verwendet werden. Dieser Materialfamilie entstammt auch Exclamation Point (Chartreuse) (2008), für das er grüngelbe Plastikbürsten zu einem riesigen, demonstrativ im Raum platzierten Ausrufezeichen kombiniert. Der amerikanische Objektkünstler Paul Thek schließlich konfrontiert in seinen Technological Reliquaries spannungsreich die organische Textur des als Reliquie eingeschlossenen Fleischstücks aus Wachs mit der Glätte des umschließenden Behälters, der in seiner Form und dem neongrünen Plastik so gar nicht zu den üblichen Vorstellungen von einem traditionellen Reliquienschrein passt. Paul Theks Reliquiare schreien den Gegensatz der Materialien geradezu heraus, zwischen dem verrottenden Fleisch und seiner schrillen neonfarbenen Umhüllung in brillanter, scheinbar unverrottbarer Künstlichkeit.

PASCALE MARTHINE TAYOU, L’ARBRE A PALABRES

In seinen oft monumentalen Installationen verwendet Pascale Marthine Tayou aus Kamerun, der heute in Belgien lebt, dünne bunte Plastiktüten, wie man sie zuhauf in seiner afrikanischen Heimat benutzt, oder auch Plastikwannen, -eimer oder -schüsseln, die die Krone eines verstörend schönen künstlichen Baumes formen. Vor dem Hintergrund seiner postkolonialen Erfahrung verweist Tayou plakativ auf den üblichen massenhaften Gebrauch des günstigen Materials (nicht nur) in Afrika und liefert zugleich einen Kommentar über den Zustand unserer Ökosysteme.

Kooperation mit Senckenberg-Naturmuseum  – Pınar Yoldaş zeigt im Saal der Wale die Installation An Ecosystem of Excess

Pathologisch-anatomischen Präparaten zum Verwechseln echt,  präsentiert die Künstlerin Pınar Yoldaş ihre Arbeiten "An Ecosystem of Excess, 2023" im Saal der Wale des Senckenberg-Museums als Beitrag zur Ausstellung „Plastic-World“ (22.Juni bis 01.Oktober 2023) in der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Man sieht hier schwebend in einer Flüssigkeit präsentiert, künstlerisch kreierte Organsysteme, die Plastik aufnehmen, verdauen, ausscheiden und umwandeln können. Leider können sich Meerestiere  noch nicht von Plastikmüll ernähren, viele Fische und Seevögel verhungern oftmals qualvoll mit einem plastikmüllgefüllten Magen. Die Werke sollen aufrütteln.© Foto Diether von Goddenthow
Pathologisch-anatomischen Präparaten zum Verwechseln echt, präsentiert die Künstlerin Pınar Yoldaş ihre Arbeiten „An Ecosystem of Excess, 2023″ im Saal der Wale des Senckenberg-Museums als Beitrag zur Ausstellung „Plastic-World“ (22.Juni bis 01.Oktober 2023) in der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Man sieht hier schwebend in einer Flüssigkeit präsentiert, künstlerisch kreierte Organsysteme, die Plastik aufnehmen, verdauen, ausscheiden und umwandeln können. Leider können sich Meerestiere noch nicht von Plastikmüll ernähren, viele Fische und Seevögel verhungern oftmals qualvoll mit einem plastikmüllgefüllten Magen. Die Werke sollen aufrütteln.© Foto Diether von Goddenthow

Der Wandtext beschreibt Yoldas Werk: „Das Anthropozän hat seine Spuren hinterlassen. Plastik hat alle Lebenswelten durchdrungen: die Meere ebenso wie die Strände, die Wälder, die Landschaft, den Stadtraum, die Körper der Menschen wie der Tiere. Mikroplastik und Nanoplastik findet man in der Tiefsee, der Arktis und den Organen von Lebewesen. Plastik ist unaufhaltbar, kaum einzugrenzen – und hat sich zudem als ökologische Zeitbombe herausgestellt. Eine jüngere Generation von Künstler*innen formuliert in ökokritischen Arbeiten Einwände gegen den übermäßigen Gebrauch von Plastik im Alltag und reflektiert die Folgen für unsere Umwelt. An der Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft entwickelt Pınar Yoldaş seit 2014 die Arbeit An Ecosystem of Excess. Im Zentrum ihrer Installation stehen die Ozeane – einstmals Ursprung des Lebens und heute von Plastik durchseucht. Yoldaş’ Ausgangspunkt ist der Great Pacific Garbage Patch, ein riesiger Müllteppich zwischen Hawaii und Kalifornien. Immer häufiger verenden Meereslebewesen in Fangnetzen der Fischerei oder verwechseln Plastikmüll mit Nahrung. Die verschluckten Kunststoffteile verletzen oder verstopfen ihren Verdauungstrakt. Als Folge verhungern sie trotz voller Mägen. Hier präsentiert Pınar Yoldaş neu entstandene Lebewesen, die auf biologischen Annahmen basieren. Diese erdachte Spezies kann die Energie aus dem künstlichen Material für sich nutzen und Kunststoff verstoffwechseln. Das Werk Plastic Eating Mammal zeigt eine Verschmelzung aus Kalifornischem Schweinswal und den Amazonas-Flussdelfinen. Die neu entstandene Kreatur hat veränderte Körperteile. So haben sich ihr Schädel, Gliedmaßen und die Wirbelsäule weiterentwickelt. Dadurch besitzt das Wesen die Fähigkeit, den Plastikmüll zu verdauen und Fischernetze mit den Zähnen zu durchschneiden. Somit kann es im mit Plastik gefüllten Ozean überleben. Die Künstlerin kreiert ein posthumanes Ökosystem, in dem spekulative Organismen leben. Sie schlägt vor, wie zukünftiges Leben aussehen könnte, wenn es aus den von Plastik verschmutzten Meeren entstehen würde. Das Plastic Eating Mammal kann als Mahnmal für die Belastungen und Herausforderungen gelesen werden, denen die Meeresbewohner im 21. Jahrhundert ausgesetzt sind. Dieser Raum entstand in Kooperation mit der Schirn Kunsthalle Frankfurt im Rahmen der Ausstellung Plastic World (22.6.– 1.10.2023). Die Themenausstellung beleuchtet die Geschichte der Kunststoffe in der Kunst und eröffnet ein breites Panorama der künstlerischen Verwendung und Bewertung von Plastik im Spiegel der Gesellschaft.“

Siehe Senckenberg-Museum

 

Direktor Sebastian Baden © Foto Diether von Goddenthow
Direktor Sebastian Baden © Foto Diether von Goddenthow

KATALOG PLASTIC WORLD, herausgegeben von Martina Weinhart, mit Beiträgen von Heather Davis, Anna Huber, Dietmar Rübel, Pamela Voigt, Friederike Waentig und Martina Weinhart, sowie einem Vorwort des Direktors der Schirn Kunsthalle Frankfurt Sebastian Baden, deutschenglische Ausgabe, 256 Seiten, ca. 190 Abbildungen, 22 × 28 cm, Hardcover, Hatje Cantz Verlag, ISBN 978-3-7757-5467-5, 39 € (Schirn), 48 € (Buchhandel)

SCHIRN KUNST­HALLE FRANK­FURT am Main GmbH
Römer­berg
D-60311 Frank­furt am Main
Tel +49 69 299882-0
Fax +49 69 299882-240
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„Plastikmüll im Verdauungsappart“ – Pınar Yoldaş präsentiert „An Ecosystem of Excess“ im Senckenberg-Museum – Teil der Ausstellung „Plastic World“ in der Schirn

Pathologisch-anatomischen Präparaten zum Verwechseln echt,  präsentiert die Künstlerin Pınar Yoldaş ihre Arbeiten "An Ecosystem of Excess, 2023" im Saal der Wale des Senckenberg-Museums als Beitrag zur Ausstellung „Plastic-World“ (22.Juni bis 01.Oktober 2023) in der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Man sieht hier schwebend in einer Flüssigkeit präsentiert, künstlerisch kreierte Organsysteme, die Plastik aufnehmen, verdauen, ausscheiden und umwandeln können. Leider können sich Meerestiere  noch nicht von Plastikmüll ernähren, viele Fische und Seevögel verhungern oftmals qualvoll mit einem plastikmüllgefüllten Magen. Die Werke sollen aufrütteln.© Foto Diether von Goddenthow
Pathologisch-anatomischen Präparaten zum Verwechseln echt, präsentiert die Künstlerin Pınar Yoldaş ihre Arbeiten „An Ecosystem of Excess, 2023″ im Saal der Wale des Senckenberg-Museums als Beitrag zur Ausstellung „Plastic-World“ (22.Juni bis 01.Oktober 2023) in der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Man sieht hier schwebend in einer Flüssigkeit präsentiert, künstlerisch kreierte Organsysteme, die Plastik aufnehmen, verdauen, ausscheiden und umwandeln können. Leider können sich Meerestiere noch nicht von Plastikmüll ernähren, viele Fische und Seevögel verhungern oftmals qualvoll mit einem plastikmüllgefüllten Magen. Die Werke sollen aufrütteln.© Foto Diether von Goddenthow

Frankfurt am Main, 21.06.2023. Unter die Wal-Skelette des Senckenberg Naturmuseums Frankfurt mischt sich ab dem 22. Juni das Knochengerüst eines außergewöhnlichen Meeresbewohners: eine neue Spezies zwischen Wal und Delfin, deren Verdauungsapparat sich an die Verschmutzung der Meere angepasst hat – sie kann sich von Plastikmüll ernähren. Erschaffen hat dieses Wesen, das nicht wirklich in der Natur existiert, die international tätige Künstlerin Pınar Yoldaş. Das Exponat wird erstmals im Rahmen der Sonderausstellung „An Ecosystem of Excess“ im Frankfurter Naturmuseum gezeigt. Gemeinsam mit fünf hell beleuchteten und mit Wasser gefüllten Vasen, in denen futuristisch anmutende, künstliche Organsysteme schweben, bildet es die neueste Version des gleichnamigen Projekts, das Yoldaş seit 2014 verfolgt. Das Senckenberg Naturmuseum ist mit diesem Projekt Kooperationspartner der Schirn Kunsthalle und der dortigen Ausstellung „Plastic World“, kuratiert von Martina Weinhart.

Schon heute hat Plastik alle Lebensräume erobert: Meere, Strände, Wälder ebenso wie Städte und auch die Körper der Menschen und der Tiere. Im Zentrum der Arbeit von Pınar Yoldaş stehen die Ozeane, einstmals Ursprung des Lebens und nun von Plastik durchdrungen. Welche Lebensformen könnten sich in diesen verunreinigten Ökosystemen entwickeln? Pınar Yoldaş lässt die Evolution weiterlaufen, in einer Umwelt, in der es in manchen Bereichen heute schon mehr Plastik gibt als Plankton.

Das Ergebnis ist eine erdachte Welt, in der Lebewesen mit Organsystemen existieren, die Plastik aufnehmen, verdauen, ausscheiden und umwandeln können. So wie der gezeigte Meeressäuger, der sich auf den ersten Blick in die Gruppe der Walskelette einfügt und ein weiteres Ausstellungsstück des Senckenberg Naturmuseums zu sein scheint. Beim aufmerksamen Betrachten fallen Veränderungen an Schädel, Gliedmaßen und Rückgrat des Tieres auf, das sich an seine Umwelt angepasst hat und mit seinen Zähnen sogar Fischernetze durchbeißen kann. „Pınar Yoldaş, die Künstlerin und Wissenschaftlerin ist, gibt ihren Werken bewusst einen wissenschaftlichen Ausdruck und lässt die Betrachtenden für einige Sekunden glauben, die von ihr geschaffenen Lebewesen und Organsysteme seien tatsächlich real. Sie schafft damit eine besondere Aufmerksamkeit für eine drängende Herausforderung unsere Zeit: Die Problematik der Allgegenwärtigkeit von Plastik und dem, was daraus entstehen könnte, wird auf eine neue Ebene gehoben und Möglichkeiten der Evolution spekulativ vorausgedacht“, erläutert Museumsdirektorin Dr. Brigitte Franzen.

Auch die ungewöhnlich geformten Organe, die Plastik für die neu entstandenen Spezies nutzbar machen können, werden in Flüssigkeit schwebend in Glasvasen präsentiert – ähnlich wie auch naturwissenschaftliche Feuchtpräparate in einer Aufbewahrungslösung konserviert werden. Mit großer Sorgfalt hat Yoldaş, scheinbar lebensechte, auf biologischen Fakten basierende Organe und Organismen kreiert. Was wie Wissenschaft wirkt, ist tatsächlich aber Kunst.

Inspirationsquelle der Künstlerin war die Entdeckung des sogenannten „Great Pacific Garbage Patch“, eines Teppichs aus mehreren Millionen Tonnen von Kunststoffmüll, der im Nordpazifik treibt und in etwa der Fläche Mitteleuropas entspricht. Einige Lebewesen schaffen es schon heute, den Kunststoff für ihr Überleben zu nutzen: Insekten finden auf dem schwimmenden Plastikteppich Brutstätten für ihre Eier. Auch Bakterien besiedeln die Oberfläche und bilden Biofilme.

Die Menschheit produziert pro Jahr mehr als 400 Millionen Tonnen Plastik. „Selbst der Tiefsee-Boden ist stärker mit Mikroplastik belastet, als bislang angenommen“, berichtet Prof. Dr. Angelika Brandt, Senckenberg-Direktoriumsmitglied und Abteilungsleiterin für Marine Zoologie. Gemeinsam mit einem Forschungsteam hat sie Proben aus dem westpazifischen Kurilen-Kamtschatka-Graben in mehr als 9600 Meter Tiefe analysiert. Keine einzige davon war frei von Mikroplastik. „Ein sauberer Ozean beginnt nicht in der Nordsee, dem Atlantik oder dem Pazifik, sondern bei uns. Denn wir entscheiden, wie wir Wasser nutzen, was wir essen, wie wir Waren transportieren oder wie wir uns verhalten und mit Plastik umgehen. Ein sauberer Ozean ist von zentraler Bedeutung für die Zukunft des Lebens, die biologische Vielfalt und damit auch für uns Menschen“, resümiert die Tiefseeforscherin.

Kooperations-Projekt mit der Schirn Kunsthalle Frankfurt der Sonderausstellung Plastic-World vom 22. Juni bis 1.0ktober 2023.

 

„Plastic World“ in der Schirn präsentiert Objekte, Installationen, Filme und Dokumentationen und eröffnet ein breites Panorama der künstlerischen Verwendung und Bewertung von Plastik, die den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext spiegeln. Das Spektrum reicht von der Euphorie der Popkultur in den 1960er-Jahren über den futuristischen Einfluss des Space Age und die Trash-Arbeiten des Nouveau Réalisme bis zu ökokritischen Positionen der jüngsten Zeit; es umfasst Architekturutopien und Environments ebenso wie Experimente mit Materialeigenschaften. Zu sehen sind über 100 Werke von rund 50 internationalen Künstler*innen. Die große Installation „An Ecosystem of Excess“ von Pınar Yoldaş ist in diesem Rahmen im Senckenberg Naturmuseum Frankfurt zu sehen.

Ermäßigter Eintritt bei bei Vorlage der Eintrittskarte von Plastic World in der Schirn bis 1. Okt. 2023

Die Bei Vorlage der Eintrittskarte der Schirn Kunsthalle zur Ausstellung „Plastic World“ (22. Juni – 01.Oktober 2023) erhalten Besucher des Senckenberg Naturmuseums Frankfurt ermäßigten Eintritt. Umgekehrt erhalten Besucher mit einer Senckenberg-Eintrittskarte beim Besuch der Ausstellung „Plastic World“  in der Schirn Kunsthalle ebenfalls ermäßigten Eintritt. Die Aktion gilt mit Karten die in dem Zeitraum bis einschließlich 01.Oktober 2023 erworben wurden.

Über die Künstlerin

Impression: Pınar Yoldaş "An Ecosystem of Excess, 2023" im Saal der Wale des Senckenberg-Museums als Beitrag zur Ausstellung „Plastic-World“ (22.Juni bis 01.Oktober 2023) in der Schirn Kunsthalle Frankfurt. © Foto Diether von Goddenthow
Impression: Pınar Yoldaş „An Ecosystem of Excess, 2023″ im Saal der Wale des Senckenberg-Museums als Beitrag zur Ausstellung „Plastic-World“ (22.Juni bis 01.Oktober 2023) in der Schirn Kunsthalle Frankfurt. © Foto Diether von Goddenthow

Pınar Yoldaş (geboren 1979 in Denizli, Türkei) ist eine in den Vereinigten Staaten lebende und arbeitende Architektin, Künstlerin, Designerin und Forscherin. Sie konzentriert sich in ihrer Arbeit auf Themen wie Posthumanismus, das Anthropozän, Neurowissenschaften und feministische Technowissenschaft. Sie ist als Professorin an der University of California San Diego tätig.

Bereits im Alter von fünf Jahren stellte Pınar Yoldaş erstmals ihre Malerei aus und galt damit als jüngste Künstlerin mit eigener Ausstellung in der Türkei. Heute entwirft sie architektonische Installationen, kinetische Skulpturen, Klangkunst, Videoinstallationen und Zeichnungen. Eine ihrer eindrucksvollsten Arbeiten ist das Projekt „An Ecosystem of Excess“, für das sie ein posthumanes Ökosystem aus spekulativen Organismen und ihrer ausgedachten Umwelt schuf. Ihre Arbeit ist an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft angesiedelt.

Pınar Yoldaş wurde mit verschiedenen Stipendien der Künste und Wissenschaften ausgezeichnet, unter anderem von der John Simon Guggenheim Memorial Foundation (New York, USA), der Schering Stiftung (Berlin, Deutschland), der Duke University (North Carolina, USA), der MacDowell Colony (New Hampshire, USA) sowie der UCross Foundation (Washington, USA). Sie hat einen Ph.D. im Studiengang Visual and Media Studies an der Duke University, ein Zertifikat in kognitiver Neurowissenschaft der Duke University sowie einen Master of Fine Arts der University of California Los Angeles. Ihre wissenschaftlichen Forschungsinteressen beinhalten Bio-Art, Interaktionen von Kunst und Neurowissenschaften sowie Umweltaktivismus. Vor ihrer Ausbildung in den Vereinigten Staaten erhielt Pınar Yoldaş einen Bachelorabschluss in Architektur der Middle East Technical University sowie einen Master of Arts der Bilgi Universität in Istanbul und einen Master of Science der Technischen Universität Istanbul.

Ort:
Senckenberg Naturmuseum Frankfurt
Senckenberganlage 25
60325 Frankfurt
Telefon: +49 69 7542 0
Fax: +49 69 7542 1437
E-Mail: info@senckenberg.de

MUT ZUM CHAOS Ottilie von Goethe und die Welt der Romantik ab 23.06.2023 im Museum Deutsche Romantik

Ottilie von Goethe, Selbstporträt mit Kasperlmütze im Album ‚Allerlei‘, nach Juni 1817 © Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv, 84/II,4a
Ottilie von Goethe, Selbstporträt mit Kasperlmütze im Album ‚Allerlei‘, nach Juni 1817 © Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv, 84/II,4a

Das Deutsche Romantik-Museum rückt mit der spannenden neuen Sonderausstellung „Mut zum Chaos. Ottilie von Goethe und die Welt der Romantik“ vom 23.Juni bis 3.September Goethes Schwiegertochter „Ottilie von Goethe“ ins Zentrum.

Ottilie von Goethe (1796 – 1872), Goethes „geliebte Schwiegertochter“, wurde schon von ihren Zeitgenossen überaus kontrovers wahrgenommen. Im Fokus standen stets ihre Rolle als Schwiegertochter Goethes, ihre unglückliche Ehe mit seinem Sohn August und ihre leidenschaftlichen Gefühle. Ihre selbstbestimmten Lebensentscheidungen und ihr freiheitsliebender Geist faszinierten und irritierten zugleich.
Die Frankfurter Ausstellung, die in kleinerer Form bereits 2022 im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar zu sehen war, rückt Ottilie von Goethes bislang wenig beachtetes intellektuelles Lebenswerk in den Mittelpunkt: ihre Tätigkeit als Übersetzerin und Agentin des englisch-deutschen Kulturtransfers, ihre Unterstützung einer neuen Generation von Kunstschaffenden in Weimar, Leipzig und Wien, ferner ihre Dichtungen und ihr politisches Engagement. Ottilies handschriftlicher Nachlass, ihre Bibliothek, ihre Kunst- und archäologischen Sammlungen, ihre Publikationen und Übersetzungen erweisen sich als ein erstaunlich reicher Fundus, um ihre weltoffene Persönlichkeit darzustellen und zugleich ein Stück Frauengeschichte des 19. Jahrhunderts zu schreiben. Im Zentrum steht die Zeitschrift ‚Chaos‘, die Ottilie von Goethe unter tätiger Mitwirkung ihres Schwiegervaters herausgab. Sie zirkulierte in einem geschlossenen Zirkel von Gesprächsteilnehmerinnen und -teilnehmern und bot unter dem Deckmantel der Anonymität ganz unterschiedlichen Personengruppen, namentlich Frauen, die Möglichkeit zur Teilhabe. Die Beiträge kamen aus allen Teilen Europas, waren in verschiedenen Sprachen verfasst und gaben Gelegenheit, auf die Beiträge der anderen zu reagieren. Auf diese Weise war es möglich, die Redeordnungen der Zeit zu unterlaufen. Auf die historische Zeitschrift reagiert ein partizipatives Projekt, das Teil der Ausstellung sein wird: Studierende der Goethe-Universität Frankfurt erhalten die Möglichkeit, ein ‚Neues Chaos‘ herauszugeben, das in vielerlei Hinsicht an das ursprüngliche Projekt anknüpft. Das Rahmenprogramm umfasst Führungen und Abendvorträge. Ein von der Kuratorin Francesca Fabbri herausgegebener Ausstellungkatalog ist 2022 im Verlagshaus Römerwerg erschienen (96 Seiten mit farbigen Fotografien und Zeichnungen).
Die Ausstellung wird kuratiert von Dr. Francesca Fabbri.

AUSSTELLUNG: 23. JUNI BIS 3. SEPTEMBER, ERÖFFNUNG: 22. JUNI 2023, 19 UHR
DEUTSCHES ROMANTIK-MUSEUM: ERNST MAX VON GRUNELIUS-SAAL

OTTILIE VON GOETHE – KURZBIOGRAPHIE

1806 kam Ottilie Freiin von Pogwisch (1796 – 1872), mittellose Nachfahrin zweier alter preußischer Adelsfamilien, in die Residenzstadt Weimar, wo ihre in Trennung lebende Mutter Henriette von Pogwisch eine Stelle als Hofdame antrat. Bald war Ottilie im Haus des Staatsministers und „Dichterfürsten“ Johann Wolfgang von Goethe ein willkommener Gast. 1817 heiratete sie gegen die Bedenken ihrer Familie Goethes einzigen Sohn August, der ihr seit langer Zeit vertraut war.

Nach dem Einzug in das Haus am Frauenplan, wo die junge Familie mit dem „Vater“ unter einem Dach wohnte, entfaltete Ottilie von Goethe eine weltoffene Geselligkeit. Besonders interessierte sie sich für die englischsprachige Kultur. Sie übersetzte, dichtete und gründete die mehrsprachige Zeitschrift Chaos. Für Goethe wurde sie mehr und mehr zu einer wichtigen Gesprächspartnerin. Auch wurden drei Kinder geboren: Walther, Wolfgang Maximilian und Alma. Die Ehepartner entfremdeten sich jedoch zusehends, zu unterschiedlich waren ihre Charaktere. So suchte Ottilie von Goethe schon während der Ehe nach einem intellektuell und emotional gleichgesinnten Partner, was in der Stadt für Gesprächsstoff sorgte.

Nach dem Tod des Ehemanns im Jahr 1830 und des Schwiegervaters zwei Jahre später führte sie ihr Leben selbstbestimmt und weitgehend unabhängig von den damaligen Konventionen. Ihre liebes- und lebenshungrige Haltung ersparte ihr keine Kritik – sie selbst sprach vom „Doppelurteil, was von mir in der Welt herrscht“. Nach einer Beziehung mit einem englischen Captain gebar sie 1834 inkognito in Wien ein viertes Kind, das jedoch ein Jahr später in der Pflege starb.

1837 zog Ottilie von Goethe mit ihrem Sohn Walther nach Leipzig. Hier und in Wien, wo sie ab 1842 dauerhaft lebte, begeisterte sie sich für die literarisch-politischen Strömungen des Liberalismus. 1844 starb in Wien ihre 16-jährige Tochter Alma an Typhus – ein unüberwindbarer Schicksalsschlag für die ganze Familie. Gleichwohl entschied sie sich, in der Stadt zu bleiben. In ihrem angesehenen Salon verkehrte über zwei Jahrzehnte die literarische Szene Wiens. 1870 kehrte sie nach Weimar zurück und verbrachte im Haus am Frauenplan ihre letzten zwei Lebensjahre.

PROGRAMM ZUR AUSSTELLUNG
FÜHRUNGEN
ÖFFENTLICHE FÜHRUNGEN
Di, 27. Juni, 16:30 Uhr
So, 2. Juli, 14 und 16 Uhr
Di, 4. Juli, 16:30 Uhr
So, 9. Juli, 14 und 16 Uhr
Di, 11. Juli, 16:30 Uhr
So, 16. Juli, 14 und 16 Uhr
Di, 18. Juli, 16:30 Uhr
So, 30. Juli, 14 und 16 Uhr
So, 13. August, 14 und 16 Uhr
Im Eintrittspreis inklusive

KURATORINNENFÜHRUNGEN
mit Francesca Fabbri
Fr, 23. Juni, 11 Uhr
Fr, 23. Juni, 15 Uhr (für Lehrkräfte)
Mi, 5. Juli, 11 Uhr
Mi, 19. Juli, 16:30 Uhr
Mo, 28. August, 15 Uhr
So, 3. September, 16 Uhr
Im Eintrittspreis inklusive

THEATER-FÜHRUNGEN
mit Katharina Schaaf
So, 25. Juni, 15 und 16:15 Uhr
Sa, 1. Juli, 15 Uhr
Do, 6. Juli, 18 Uhr
Do, 13. Juli, 18 Uhr
Sa, 15. Juli, 15 und 16:15 Uhr
Sa, 22. Juli, 15 Uhr
So, 23. Juli, 15 Uhr
Sa, 29. Juli, 15 und 16:15 Uhr
Sa, 5. August, 15 Uhr
So, 6. August, 15 Uhr
So, 20. August, 15 Uhr
Kosten 5 € zzgl. Eintritt. Anmeldung erforderlich

INDIVIDUELLE FÜHRUNGEN
Es besteht die Möglichkeit, individuelle Führungen durch die Ausstellung zu buchen.

VERANSTALTUNGEN
Do, 29. Juni, 19 Uhr
DIE SCHWIEGERTOCHTER
Das Leben der Ottilie von Goethe
Buchvorstellung mit Dagmar von Gersdorff
In ihrem jüngsten Werk entwirft die bekannte Biographin Dagmar von Gersdorff ein facettenreiches Bild der
lebenshungrigen Ottilie von Goethe, von den schwierigen Jugendjahren über die Heirat mit Goethes einzigem
Sohn August bis hin zur langen Phase des Witwenstandes mit Freundschaftsbünden und rastlosen Aktivitäten. Im
Zentrum steht die Zeit an der Seite Goethes, dem sie über 15 Jahre die nächste Vertraute war.
Ort: Freies Deutsches Hochstift, Arkadensaal, Großer Hirschgraben 23-25
8 € / 4 € für Mitglieder des Freien Deutschen Hochstifts

Di, 4. Juli, 19 Uhr
SCHREIBEN OHNE NAMEN
Schriftstellerinnen um 1800
Gespräch mit Francesca Fabbri und Materina Wernli. Lesung: Barbara Englert
Wie stand es um die Publikationsmöglichkeiten von Autorinnen um 1800? Sophie La Roches ‚Fräulein von
Sternheim‘ (1771) wurde von Christoph Martin Wieland herausgegeben, Dorothea Veit-Schlegels Roman
‚Florentin‘ (1801) erschien unter dem Namen ihres Mannes Friedrich Schlegel und Karoline von Günderrode nutzte
das Pseudonym Tian, das einen männlichen Autor suggerierte. Welche Rolle spielte in solchen Zeiten Ottilie von
Goethe und die von ihr von 1829 bis 1831 herausgegebene Zeitschrift ‚Chaos‘, die die Redeordnungen der Zeit
programmatisch unterlief?
Ort: Freies Deutsches Hochstift, Arkadensaal, Großer Hirschgraben 23-25
8 € / 4 € für Mitglieder des Freien Deutschen Hochstifts

Mi, 19. Juli, 19:30 Uhr
LIED & LYRIK:WALTHER VON GOETHE
Lieder, Balladen, Texte – Versuch eines Porträts
Mit Ulf Bästlein, Bassbariton und Hedayet Jonas Djeddikar, Klavier
Carl Friedrich Zelter versprach, Obacht auf die musikalische Entwicklung Walther von Goethes (1818 – 1885),
Sohn von Ottilie und August von Goethe und Enkel des „großen“ Goethe, zu geben. Robert Schumann, der ihm
seine Davidsbündlertänze widmete, wurde sein Freund. Kompositionsunterricht erhielt er u. a. von Felix
Mendelssohn-Bartholdy und Carl Loewe. Doch trotz großer Begabung verstummte Walther von Goethe früh als
Komponist. Die Last der Ansprüche, die man an den Namen Goethe stellte, war übergroß. Seine Rezensionen,
Essays und sozialkritischen Novellen erschienen unter Pseudonym. Dennoch ist es wesentlich auch sein Verdienst,
dass Weimar die „Stadt der Klassik“ blieb.
Das jüngst wiederentdeckte kompositorische Werk Walther von Goethes, in dessen Zentrum Lied und Ballade
stehen, bedarf indes einer Neubewertung. Ulf Bästlein und Hedayet Jonas Djeddikar versuchen, ein Portrait
dieses liebenswürdigen, humorvollen und feinsinnig gebildeten Menschen und Künstlers zu zeichnen.
Ort: Freies Deutsches Hochstift, Arkadensaal, Großer Hirschgraben 23-25
16 € / 8 € für Mitglieder des Freien Deutschen Hochstifts

BESUCHERINFOS & KONTAKT

Öffnungszeiten
Freitag bis Mittwoch, Feiertage 10 – 18 Uhr*
Donnerstag 10 – 21 Uhr
*Geänderte Öffnungszeit: 28. August 10–17 Uhr

Weitere Infos über:
BESUCHERANFRAGEN & ANMELDUNG
anmeldung@freies-deutsches-hochstift.de
+ 49 (0) 69 138 80-0

Ort und Kontakt
Deutsches Romantik-Museum & Frankfurter Goethe-Haus
Großer Hirschgraben 21
60311 Frankfurt am Main
www.freies-deutsches-hochstift.de

„Looking for Medusa“ Raum-Klang-Installation der Künstlerinnen Linda Weiß und Nina M.W. Queissner vom 2. Juni 2023 bis 15. Januar 2024 im Senckenberg Naturmuseum

Salzkristalle wachsen auf einer korallenartigen Keramik – einem „tentakulären Wesen“ der Installation „Looking for Medusa“. Foto: Linda Weiß
Salzkristalle wachsen auf einer korallenartigen Keramik – einem „tentakulären Wesen“ der Installation „Looking for Medusa“. Foto: Linda Weiß

Frankfurt am Main, 01.06.2023. Korallen und Riffe sehen, hören und fühlen, also multisensorisch erfahren – dazu lädt die Installation „Looking for Medusa“ ab dem 2. Juni 2023 ein. Inspirationsquelle der Künstlerinnen Linda Weiß und Nina M.W. Queissner sind Ovids „Metamorphosen“, in denen der Dichter die mythische Geburt der Koralle aus dem Blut der Medusa erzählt. In einem hypothetischen und experimentell angelegten Lebensraum verschmelzen Skulptur und Klang miteinander. Die Fragilität und die Faszination der Riffe, ihre Gefährdung und ihre Geheimnisse sind der Resonanzboden für das Projekt. Die Installation ist Teil der Ausstellungsreihe „Triff das Riff!“, die das komplexe System Korallenriffe nacheinander aus den drei Perspektiven „Gesellschaft“, „Kunst“ und „Forschung“ beleuchtet. Mit diesem Format erprobt Senckenberg innovative und flexible Ausstellungsformen, um das Museum als Ort des Dialogs und Diskurses zu öffnen sowie aktuelle Entwicklungen und unterschiedliche Sichtweisen in Dauerausstellungen einzubringen.

Auf einer mit Seegras gepolsterten Liegefläche können Besucher*innen dokumentarischen und imaginären Unterwasserklängen lauschen, die Gerüche der getrockneten Wasserpflanzen wahrnehmen und fühlen, wie sich der Klang per Körperschallwandler auf dem Untergrund und dem eigenen Körper ausbreitet. Über ihren Köpfen schweben auf zwei transparenten Platten Keramiken, deren Formen Wasserlebewesen nachempfunden sind. Die Objekte bilden teils farbige Salzkristalle auf der Oberfläche aus, sodass bizarre Muster und Strukturen auf dem Glas entstehen. Umgeben ist dieser Ort in der Korallenriff-Inszenierung des Museums von großen Wandbehängen – besetzt mit phantastischen, organisch anmutenden Strukturen aus Gips, Textil und Leder. Hier und da wirkt es, als ob der Kopf einer Medusa aus dem fleischfarbenen Untergrund hervorbricht. Aus verborgenen Lautsprechern sind Wasserklänge zu hören.

„Für sich genommen ist das Korallenriff eine visuell sehr ausdrucksstarke Skulptur, eine hyperrealistische Konstruktion des Ökosystems Riff in verschiedenen Zuständen. Queissner und Weiß stellen sich der ungewöhnlichen Situation, nicht in einem unbesetzten Ausstellungsraum ein Projekt zu inszenieren. Stattdessen bauen sie neue Lesarten und ‚Kulturen der Natur‘ in den Raum ein. Sie bieten mit „Looking for Medusa“ verschiedene Zugänge zum Verständnis von Korallenriffen an“, sagt Museumsdirektorin Dr. Brigitte Franzen und fährt fort: „Plötzlich ist man umgeben von besonderen Klängen. Wandbehänge bilden einen Raum im Raum, in dem sich phantastische, mit Salz bewachsene Korallenwesen aufhalten. Die Installation hat eine außergewöhnliche Wirkung und ich freue mich darauf zu erleben, wie Besucher*innen den Raum für sich nutzen und den Anstoß aufnehmen, sich mit der Natur der Riffe und deren Interpretationen auseinanderzusetzen.“

In seinen „Metamorphosen“ beschreibt Ovid, wie Perseus der Medusa, dem Wesen mit dem versteinernden Blick und dem Schlangenhaar, den Kopf abschlägt. Als er das Haupt neben sich ablegt, berührt das Medusenblut die dort wachsenden Meerespflanzen und eine Metamorphose beginnt: Die Pflanzen verhärten sich zu Korallenstöcken, die Nymphen im Meer verstreuen. Die zentrale Klangkomposition ist inspiriert von der Geschichte der monströsen Transformation der Medusa zur Koralle. „Auf der Liegefläche kann man in diese Erzählung eintauchen“, sagt Queissner und erläutert weiter: „Die verwendeten Sounds sind eine Mischung aus Originalaufnahmen aus der Natur und im Studio produzierten Klängen. Wir haben uns stark mit den Reaktionen des Korallenriffs in Abhängigkeit von der stofflichen Zusammensetzung des Wassers beschäftigt. Deshalb beziehen sich die Klänge auch auf das Wasser in verschiedenen Bewegungs- und Aggregatzuständen. Die Zuhörer*innen werden eingeladen, in die verschiedenen Klangwelten unter Wasser einzutauchen.“

Um Transformation geht es auch bei den schwebenden Salzkristallexperimenten. Die kleinen Keramiken erinnern an Korallententakel; Weiß hat sie in Petrischalen verschiedenen Salzlösungen ausgesetzt. Die getrockneten Salzkristalle bilden eigene Strukturen auf den „tentakulären Wesen“, wie die Künstlerin sie nennt, und unterscheiden sich in Form und Farbe, je nachdem wie sich das Salz zusammensetzt. „Es ist faszinierend zu sehen, wie das Salzwasser die Körper durchdringt. Sie durchlaufen sozusagen einen Stresstest, und wir können beobachten, wie sie sich dabei transformieren.“ Eine weitere Skulptur ist so platziert, dass einige der salzbewachsenen Körper aus der Nähe erfahrbar werden.

Die Wandobjekte greifen visuelle und inhaltliche Aspekte des Riffs und der Figur der Medusa in ihren Formen und Farben auf. „Wie ausschnitthafte Fundstücke vom Meeresboden dokumentieren sie die Verwandlung der Medusa in steinerne Strukturen, sie oszillieren zwischen dem Marinen und dem Mythologischen,“ erörtert Weiß und sagt weiter: „Die Klänge, die Nina mit Hilfe der integrierten Lautsprecher hinzufügt, erwecken die Szenerie zum Leben.“ Queissner ergänzt: „Die marinen Klanglandschaften verleihen der Fauna und Flora eine Stimme. Ich habe sie mit Hydrophonen in Korallenriffen des südlichen Roten Meeres aufgenommen. Sie spielen mit den qualitativen Eigenschaften des Hörens über und unter Wasser. Die Differenzen dieser Sinneswahrnehmungen sind je nach Medium – Luft oder Wasser – frappierend und produzieren völlig unterschiedliche Klangfarben und -spektren.“

Auf der flexiblen Displayarchitektur des Künstlers Markus Zimmermann, dem „Transformer“, wird der Rechercheprozess zur Entstehung der künstlerischen Arbeit erläutert. Hier finden auch Zitate Raum, die zum Nachdenken über Transformation und Metamorphose anregen. Das multifunktionale Display-Modul ist ein zentrales Element der Ausstellungsreihe „Triff das Riff!“, das schnell und einfach mit neuen Inhalten bespielt werden kann und nahezu vollständig aus recycelten Materialien besteht. So ist es möglich, auf aktuelle Fragestellungen oder Anregungen von Besuchenden zu reagieren und Inhalte anzupassen.

Über die Ausstellungsreihe

„Triff das Riff!“ findet im Rahmen des BMBF-Forschungsprojektes „Temporäre Permanenz (TemPe) – Innovative und flexible Vermittlung aktueller gesellschaftlich relevanter Themen in Dauerausstellungen“ statt. Das Projekt wird stetig weiterentwickelt und vom Deutschen Institut für Erwachsenenbildung – Leibniz-Zentrum für Lebenslanges Lernen (DIE) in Bonn in Wirkung und Funktionalität erforscht. Das DIE untersucht, wie sich das komplexe Verhältnis von Inhalten und Form einer Ausstellung auf das Erleben im Museum und auf mögliche Lernprozesse auswirkt. Hierfür ist besonders interessant, den Einfluss der unterschiedlichen visuellen und multisensorischen Elemente der drei verschiedenen Perspektiven von „Triff das Riff!“ zu untersuchen.

Vom 2. Dezember 2022 bis 21. Mai 2023 war die Perspektive Gesellschaft zu sehen. Auf die künstlerische Perspektive von Nina M.W. Queissner und Linda Weiß, die ab 2. Juni 2023 gezeigt wird, folgt die Perspektive der aktuellen Forschung Anfang 2024.

Über die Künstlerinnen

Nina M. W. Queissner (geb. 1990, Darmstadt) hat in Frankreich und Belgien Bildende Kunst, elektroakustische Musik und Klangkunst studiert. Zu ihren künstlerischen Arbeiten gehören Installationen, Videos und Performances sowie Komposition für Kinoton und Radiosendungen. Mithilfe von Aufnahmetechnologien und Komposition von Klanglandschaften entwickelt Queissner eine praxisorientierte Forschung, die die ästhetische Erfahrungsdimension des Klangs in seiner Beziehung zu Landschaft und Umwelt untersucht.

Linda Weiß (geb. 1987, Hanau) studierte Freie Kunst an der Hochschule für Gestaltung Offenbach am Main und schloss 2022 als Meisterschülerin ihr Studium an der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart ab. In ihren Mixed Media-Installationen verschränkt sich Alltägliches mit sozio-ökologischen Metabolismen. Inspiriert ist ihr Materialumgang von taktilen Praktiken (Fermentieren, Kompostieren, Teig kneten, Recycling) und Methoden der Geistes- sowie Naturwissenschaften.

Das Kuratorinnen- und Projektteam

Die Entstehung der multisensorische Installation „Looking for Medusa“ wurde von der freien Autorin und Kuratorin Dr. Ellen Wagner betreut. Lisa Voigt ist Kuratorin der Ausstellungsreihe „Triff das Riff!“ vom Senckenberg Naturmuseum Frankfurt. Sie betreute und gestaltetet gemeinsam mit Senckenberg-Kollegin Christina Höfling auch die Perspektive Gesellschaft. Die Koordination des Gesamtprojekts liegt bei Katarina Haage, ebenfalls vom Senckenberg Naturmuseum Frankfurt.

Rahmenprogramm:

Interessant sind zudem die weiteren Veranstaltungstermine rund um die Ausstellung „Triff das Riff!“. Eine aktuelle Übersicht und alle weiteren Informationen zu Themen, Terminen und zur Anmeldung finden Sie dann unter: https://museumfrankfurt.senckenberg.de/de/kalender/

Ort:
Senckenberg Naturmuseum Frankfurt
Senckenberganlage 25
60325 Frankfurt
Telefon: +49 69 7542 0
Fax: +49 69 7542 1437
E-Mail: info@senckenberg.de

Als Bilder dreidimensional wurden: „HERAUSRAGEND! DAS RELIEF VON RODIN BIS PICASSO“ vom 24.05. bis 17.09.2023 im Frankfurter Städel

Rodin, Matisse, Gauguin, Picasso, Hans Arp oder Yves Klein – sie alle schufen im wahrsten Sinne des Wortes herausragende Kunst: Reliefs. Das Städel Museum präsentiert diesen Sommer eine große Ausstellung über das Relief von 1800 bis in die 1960er-Jahre. Ist es Malerei oder Skulptur, Fläche oder Raum? Kaum ein anderes künstlerisches Medium fordert unser Sehen so heraus wie das Relief: Das macht es für die berühmtesten Künstlerinnen und Künstler seit jeher so reizvoll. Die Ausstellung zeigt vom 24. Mai bis 17. September 2023 bedeutende Kunstwerke aus rund 160 Jahren  Namenszug (Hoch-Relief) © Foto Diether von Goddenthow
Rodin, Matisse, Gauguin, Picasso, Hans Arp oder Yves Klein – sie alle schufen im wahrsten Sinne des Wortes herausragende Kunst: Reliefs. Das Städel Museum präsentiert diesen Sommer eine große Ausstellung über das Relief von 1800 bis in die 1960er-Jahre. Ist es Malerei oder Skulptur, Fläche oder Raum? Kaum ein anderes künstlerisches Medium fordert unser Sehen so heraus wie das Relief: Das macht es für die berühmtesten Künstlerinnen und Künstler seit jeher so reizvoll. Die Ausstellung zeigt vom 24. Mai bis 17. September 2023 bedeutende Kunstwerke aus rund 160 Jahren
Namenszug (Hoch-Relief) © Foto Diether von Goddenthow

Die Ausstellung sei in vieler Hinsicht sehr, sehr bedeutsam, einmal, dass man gar nicht mehr gedacht hätte, „dass wir das noch jemals erleben werden, die erste große internationale Städel-Ausstellung, die wir seit knapp drei Jahren ohne pandemische Restriktionen durchführen können“, freut sich Städel Direktor Philipp Demandt beim Pressegespräch über den Neustart des Städel Museums nach dem endgültigen Auslaufen der Pandemie mit dieser großen Sonderausstellung „Herausragend. Das Relief von Rodin bis Picasso“ vom 24. Mai bis 17.September 2023. Und wollte man die Ausstellung in einem Satz zusammenfassen, „dann wäre es wahrscheinlich: ‚Aus Zwei mach Drei‘.“ Aus „Zwei mach Drei“ bedeute, wie die Zweidimensionalität in die Dreidimensionalität in 150 Jahren Kunstgeschichte fortgeschrieben worden ist. Ausgangsfragestellung dieser Ausstellung sei die Frage gewesen, „was das Relief in der Zeit von 1800 bis in die 1960er Jahre, bis in die Nachkriegskunst, eigentlich in der europäischen Kunstgeschichte ausgemacht hat.

Und dazu habe das Städel-Museum keine Kosten und Mühen gescheut, „von den schönsten und wichtigsten Museen Europas die entsprechenden Beispiele hier nach Frankfurt zu holen, mit großen Namen: von Rodin, Matisse, Degas, Gauguin über Ciacometti, Hepworth, Dubuffet, Bontecous, Rosso, Richter, Mailolol, Klee, Brancusi, Matisse, Nevelson bis zu Moore, Schwitters, Kollwitz, Kirchner, Uecker, Schlemmer Picasso, Hans Arp und Yves Klein. All diese Künstler und Künstlerinnen habe das Städel für die Ausstellung „Herausragend“ nach Frankfurt geholt. „Das ist das erste Mal, dass ein großes Museum, in diesem Fall in Kooperation mit der Hamburger Kunsthalle, sich diesem Thema gewidmet hat. Kuratiert haben die Ausstellung Dr. Alexander Eiling (Sammlungsleiter Kunst der Moderne) und Dr. Eva Mongi-Vollmer (Kuratorin für Sonderprojekte). Die Projektleitung liegt bei Dr. Friederike Schütt.

Wie dieses „Who is Who“ der internationalen Künstler-Elite zeige, dass sich eigentlich kaum ein großer Künstler im 19. und 20. Jahrhundert nicht mit dem Relief, mit dieser merkwürdigen Mischform zwischen Malerei und Skulptur, auseinander gesetzt habe. „Deswegen darf ich Ihnen auf alle Fälle versprechen: Bei aller Bekanntheit der großen und größten Namen des 19. und 20. Jahrhunderts, die wir im Städel-Museum versammeln, sind die Werke, die Sie sehen, in jeder Hinsicht überraschend“, macht Demandt neugierig, und das mit Recht. Die Ausstellung ist eine grandiose Überblicks-Show und zudem didaktisch gut aufbereitet. Am besten sollte man viel Zeit mitbringen oder mehrmals kommen.

Ausschnitt aus: Medardo Rosso (1858 - 1928) Das Goldene Zeitalter, 1886. Städel Museum. Madardo beschäftigte sich  über viele Jahre mit der Frage, wie man flüchtig Wahrgenommenes bildhauerisch wiedergeben kann.  Das Motiv (Raum 2) zeigt seine Ehefrau, die den kleinen Kopf ihres neugeborenen Kindes an Mund und Wange drückt. Das Motiv ist nur vor einem bestimmten Blickwinkel aus zu erkennen - wie ein Gemälde. © Foto Diether von Goddenthow
Ausschnitt aus: Medardo Rosso (1858 – 1928) Das Goldene Zeitalter, 1886. Städel Museum. Madardo beschäftigte sich über viele Jahre mit der Frage, wie man flüchtig Wahrgenommenes bildhauerisch wiedergeben kann. Das Motiv (Raum 2) zeigt seine Ehefrau, die den kleinen Kopf ihres neugeborenen Kindes an Mund und Wange drückt. Das Motiv ist nur vor einem bestimmten Blickwinkel aus zu erkennen – wie ein Gemälde. © Foto Diether von Goddenthow

Diese Ausstellung habe man gemeinsam mit der Hamburger Kunsthalle entwickelt, um gemeinsam in die Tresore, in die Schatzkammern, sowohl des Städel-Museums als auch der Hamburger Kunsthalle hineinsteigen zu können. Denn Reliefs, so Demandt, „gehören zu den kostbarsten, aber auch eben am seltensten ausgestellten Werken in den Museen der Welt. Insofern freue ich mich sehr, dass knapp die Hälfte der in der Ausstellung 141 präsentierten Werke aus den Tresoren der Häuser hier in Frankfurt und in Hamburg stammen. Ansonsten gibt es 81 Leihgaben aus Museen, darunter das Musée d’Orsay, das Musée Picasso und das Centre Pompidou in Paris, das Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam, das Kunstmuseum Basel und das Musée des Beaux-Arts de Lyon. Zudem Leihgaben aus den wichtigsten Privatsammlungen Europas. Es werden also Werke präsentiert, „die Sie normalerweise als Besucher /Betrachter im Museum sonst nicht zu sehen bekommen“, so der Museums-Direktor.

Ausstellungsrundgang:

Die Ausstellung „Hervorragend“ bietet einen Rundgang an, der im Erdgeschoss des Ausstellungshauses startet und die enorme Bandbreite des Reliefs von 1800 bis in die 1960er-Jahre präsentiert. 13 Kapitel widmen sich epochenübergreifend den besonderen Möglichkeiten und den Grenzen der Reliefkunst jenseits entwicklungsgeschichtlicher Linien oder Stile. Reliefs finden sich in sehr unterschiedlichen räumlichen und thematischen Zusammenhängen: etwa an und in öffentlichen Gebäuden, an Denkmälern oder Grabanlagen. Sie schildern dort oft historische Ereignisse oder fungieren als allgemeine Sinnbilder. Dabei können sie als Einzelwerk genauso wie als Abfolge mehrerer Segmente in Erscheinung treten, in denen die Künstler eine Bilderzählung entfalten.

1.Plastisch erzählen

Diese beiden Reliefs, von Ludwig Schwanthaler "Schild des Herakles", 1823, u. Günther Uecker, Nagelbild "Organische Struktur, 1962,   trennen über 120 Jahre. Es liegen künstlerische Welten zwischen ihnen, und sie stehen auch symbolisch für die Bandbreite der in dieser Ausstellung "Herausragend" gezeigten "Relief-Varianaten" im Kontext einer atemberaubenden Entwicklung.  © Foto Diether von Goddenthow
Diese beiden Reliefs, von Ludwig Schwanthaler „Schild des Herakles“, 1823, u. Günther Uecker, Nagelbild „Organische Struktur, 1962, trennen über 120 Jahre. Es liegen künstlerische Welten zwischen ihnen, und sie stehen auch symbolisch für die Bandbreite der in dieser Ausstellung „Herausragend“ gezeigten „Relief-Varianten“ im Kontext einer atemberaubenden Entwicklung von erzählerischen Bildrelief bis hin zum abstrakten Narrativ vom Machen . © Foto Diether von Goddenthow

Zum Ausstellungsstart im Erdgeschoss an der ersten Wand in Raum 1 befindet sich der „Schild des Herakles“ aus dem Jahre 1832 von Ludwig Schwanthaler (1802 – 1848) neben Günther Ueckers Nagel-Werk „Organische Struktur“ von 1962. Zwischen diesen beiden gleichfalls kreisrunden Kompositionen liegen über 120 Jahre und künstlerische Welten, und sie signalisieren zugleich die gewaltige künstlerische Bandbreite der in dieser Ausstellung „Herausragend“ gezeigten Reliefs im Kontext ihrer 160jährigen Entwicklungen. Steht man davor, wird deutlich, was Erzählen im frühen 19. Jahrhundert heißt: Es geht um die Narration einer Geschichte, dargestellt durch die Figuration und kleinteiligsten Erzählungen auf dem Schild des Herakles. Bei Günther Ücker, 1962, „geht es nicht mehr um die Narration einer Geschichte, sondern da geht es um die Exemplifizierung des künstlerischen Schaffensprozesses. Aus dem Erzählen wird also das Machen. Aus dem „Was“ wird das „Wie“. Und das ist ja eigentlich eine Entwicklung, die wir durch das 19. bis ins 20. Jahrhundert haben, nämlich, dass der künstlerische Schaffensprozess, die eigentliche Erzählung plötzlich wird, und die Geschichte ein Stück weit in den Hintergrund tritt, die erzählt werden soll“, so Dr. Alexander Eiling, Sammlungsleiter Kunst der Moderne im Städel und Co-Kurator mit Dr. Eva Mongi-Vollmer, Kuratorin für Sonderprojekte.

Marmor-Epitaph für Johann-Philipp Bethmann-Hollweg von Bertel Thorvaldsen (1830, Liebieghaus Skulpturensammlung), Beispiel eines Flach-Reliefs. © Foto Diether von Goddenthow
Marmor-Epitaph für Johann-Philipp Bethmann-Hollweg von Bertel Thorvaldsen (1830, Liebieghaus Skulpturensammlung), Beispiel eines Flach-Reliefs. © Foto Diether von Goddenthow

Zudem wirken die im Raum 1 gezeigten Werke, etwa von Bertel Thorvaldsen und Hermann Blumenthal, aufgrund ihrer ebenmäßig flach gehaltenen Reliefhöhe beziehungsweise -tiefe auf den ersten Blick als homogene Einheiten. In den Arbeiten von Jules Dalou und Christian Daniel Rauch hingegen ragen einzelne Figuren weit aus der Fläche hervor. Deren Bedeutung steigert sich mit dem Grad ihrer Modellierung und ihrem Drängen ins Licht. Die gezielte Anordnung der Elemente auf der entsprechenden räumlichen Ebene ist typisch für die Möglichkeiten, im Rahmen eines Reliefs eine Bilderzählung zu gestalten.

Hochrelief gearbeiteten Entwurf für das Denkmal des Rennfahrers Émile Levassor von Jules Dalou (1898–1902, Petit Palais, Musée des Beaux-Arts de la Ville de Paris) © Foto Diether von Goddenthow
Hochrelief gearbeiteten Entwurf für das Denkmal des Rennfahrers Émile Levassor
von Jules Dalou (1898–1902, Petit Palais, Musée des Beaux-Arts de la Ville de Paris) © Foto Diether von Goddenthow

Dies wird besonders deutlich bei der Gegenüberstellungen wie dem flach gestalteten Marmor-Epitaph für Johann-Philipp Bethmann-Hollweg von Bertel Thorvaldsen (1830, Liebieghaus Skulpturensammlung) und dem im Hochrelief gearbeiteten Entwurf für das Denkmal des Rennfahrers Émile Levassor von Jules Dalou (1898–1902, Petit Palais, Musée des Beaux-Arts de la Ville de
Paris).

2 Malerisch-plastische Reliefs

Das Relief nimmt eine Mittlerstellung zwischen Malerei und Skulptur ein. Daher vereint es gestalterische Elemente aus beiden Gattungen. Im Unterschied zu Skulpturen kann durch die Trägerplatte des Reliefs auch der Umraum eines Motivs dargestellt werden. Auf diese Weise können Landschaftsausschnitte oder atmosphärische Effekte wie Wind und Wolken integriert werden, die sonst der Malerei oder Zeichenkunst vorbehalten sind.

Auguste Rodins Junge Mutter in der Grotte (1885, Musée Rodin, Paris),  beispielhaft für eine  französischen Reliefkunst des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. © Foto Diether von Goddenthow
Auguste Rodins Junge Mutter in der Grotte (1885, Musée Rodin, Paris), beispielhaft für eine französischen Reliefkunst des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. © Foto Diether von Goddenthow

Das belegen die Beispiele von Auguste Rodin und Constantin Meunier. In diesem Raum sind vor allem Reliefs der französischen Kunst des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts versammelt.
Damals wurde die Durchdringung von malerischen und plastischen Elementen besonders intensiv diskutiert. Allen Werken gemeinsam ist ein offener, ausdrucksstarker Modellierstil, der durch das Verschleifen von Übergängen diffuse Zonen schafft und die Ebenen verunklärt. In einem dynamischen Wechselspiel treten die Motive aus der Reliefplatte hervor und scheinen zugleich wieder mit ihr zu verschmelzen. Die Werke bilden einen Gegenpol zur klassizistischen Reliefvorstellung, nach der Figur und Grund klar voneinander zu trennen sind.
Stattdessen orientierten sich die Künstler vielfach an der lockeren Pinselführung der impressionistischen Malerei und entwickelten auf diese Weise eine moderne Interpretation der klassischen Gattung Relief.

3 Farbige Reliefs

Arnold Böcklin  (1827 - 1901). Schild mit dem Haupt der Medusa, 1887, Kunstmuseum Basel. © Foto Diether von Goddenthow
Arnold Böcklin (1827 – 1901). Schild mit dem Haupt der Medusa, 1887, Kunstmuseum Basel. © Foto Diether von Goddenthow

Eines der Hauptwerke der Ausstellung ist das Relief von Paul Gauguin Seid geheimnisvoll (1890, Musée d’Orsay, Paris), das in das Thema Farbigkeit im Relief einführt. Schon in der Antike wurden Skulpturen und Reliefs bemalt, um ihre plastische Wirkung zu verstärken oder den Illusionsgrad zu erhöhen. Im 19. Jahrhundert richtete sich das Interesse der Archäologen verstärkt auf diese lange in Vergessenheit geratene Praxis. In der Folge begannen auch zeitgenössische Künstler ihre Reliefs farbig zu gestalten. Von der klassischen Bemalung über die Verwendung verschiedenfarbiger Materialien bis hin zum gezielten Einfärben der Werkstoffe hatten Künstler mehrere Möglichkeiten, Reliefs farbig zu gestalten. Etwa die Hälfte der in dieser Sektion gezeigten Reliefs stammen von Malern, darunter  stark kolorierte Arbeiten von Arnold Böcklin, Maurice Denis und Ernst Ludwig Kirchner. Für sie war die intensive Kolorierung ihrer plastischen Arbeiten ein naheliegender Schritt. Daneben sind Werke von Bildhauern wie Adolf von Hildebrand, Artur Volkmann oder Albert Marque zu sehen, die sich eines reduzierten Farbspektrums oder der natürlichen Farbigkeit des gewählten Materials bedienten.

4 Die Parthenonreliefs und ihr Echo
Mehr als 100 im Flachrelief gearbeitete Reiterfiguren fügten sich zu einer 160 Meter langen Prozessionsdarstellung: Sie zierten seit dem 5. Jahrhundert vor Christus alle vier Außenwände des Parthenontempels auf der Athener Akropolis (Abb. 1).

Die bedeutenden Reliefs des Parthenontempels der Athener Akropolis (5. Jh. vor Chr.) dienten zahlreichen Künstler des 19. Jahrhunderts, darunter Johann Gottfried Schadow und Edgar Degas, formal als Vorbild für die Gestaltung eigener Arbeiten. Platte IX des Westfrieses am Parthenon (Gipsabguss) Antikensammlung im Skulpturensaal der Goethe-Universität Frankfurt.  © Foto Diether von Goddenthow
Die bedeutenden Reliefs des Parthenontempels der Athener Akropolis (5. Jh. vor
Chr.) dienten zahlreichen Künstler des 19. Jahrhunderts, darunter Johann Gottfried
Schadow und Edgar Degas, formal als Vorbild für die Gestaltung eigener Arbeiten. Platte IX des Westfrieses am Parthenon (Gipsabguss) Antikensammlung im Skulpturensaal der Goethe-Universität Frankfurt. © Foto Diether von Goddenthow

Wesentliche Teile dieses Skulpturenschmucks gelangten zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf bis heute umstrittenem Wege nach London – seit 1816 befinden sie sich im British Museum. Der Parthenon als Ganzes war ab diesem Moment das Sinnbild für die antike griechische Zivilisation und Kultur schlechthin. Für Künstler wiederum diente er vor allem auch aufgrund seiner charakteristischen formalen Eigenschaften als Vorbild. Die außerordentlich geringe Tiefe der Reliefs, die raffinierte Staffelung der Körper, der Verzicht auf Raumillusion, stattdessen die strenge Orientierung an der Grundlinie – wie ein Echo des Parthenon hallten diese besonderen Merkmale durch die Zeit. Das künstlerische Studium der Reliefs erfolgte je nach individuellen Möglichkeiten vor den Originalen, häufig aber auch anhand von Gipsabgüssen, Reproduktionen und Fotografien. Dabei unterschied sich die Art und Weise der Auseinandersetzung immens – vom getreuen Kopieren über das leicht variierende Anverwandeln bis hin zum freien Zitieren reicht die Spanne, wie die hier vorgestellten Werke von Johann Gottfried Schadow, Edgar Degas oder Hermann Blumenthal schlaglichtartig veranschaulichen.

5 Annäherungen an die Natur

Paul Klee (1879 - 1940) Blick in das Fruchtland 1932. Städel Museum, Frankfurt am Main. © Foto Diether von Goddenthow
Paul Klee (1879 – 1940) Blick in das Fruchtland 1932. Städel Museum, Frankfurt am Main. © Foto Diether von Goddenthow

Das Relief mit seinen Erhebungen und Vertiefungen erinnert  an die  Erdoberfläche und die Höhen und Tiefen ihrer Landschaften und hat viele Künstler entsprechend inspiriert.  Die  in diesem Raum der Ausstellung versammelten Künstler nähern sich dem Thema der Landschaft durch intensive Strukturierung der Oberflächen, den Einsatz von Naturmaterialien wie Sand und Schwämmen oder das Einbeziehen steiler Perspektiven.    So verwundert es kaum, dass das Relief immer wieder zur Anwendung kommt, um in unterschiedlichster Weise Eindrücke der unmittelbaren Umgebung einzufangen und daraus artifizielle Naturbilder zu erschaffen. Künstler wie Yves Klein mit seinem Relief éponge bleu (Kleine Nachtmusik) (1960, Städel Museum), Max Ernst, Paul Klee oder William Turnbull näherten sich in ihren Arbeiten durch intensive Strukturierung der Oberflächen, den Einsatz von Naturmaterialien wie Sand und Schwämmen oder das Einbeziehen ungewöhnlicher Perspektiven dem Thema der Landschaft. Das Relief wird dabei zu einem Medium für die künstlerische Neuschöpfung von Naturräumen, die zum Eintauchen in verschiedenste Welten – vom Wald bis zum Meeresgrund – einladen.

6 Augentäuschung im Relief

Eine künstlerische Illusion von Arthur Segal (1875 - 1944) "Stillleben mit Teekanne. (1926). Arthur Segal reizte das optische Experiment, die "Erweiterung des Gemäldes zum Relief", wie er selbst sagte. In seinem Stillleben arrangierte er das Teegeschirr wie auf einem Gemälde. © Foto Diether von Goddenthow
Eine künstlerische Illusion von Arthur Segal (1875 – 1944) „Stillleben mit Teekanne. (1926). Arthur Segal reizte das optische Experiment, die „Erweiterung des Gemäldes zum Relief“, wie er selbst sagte. In seinem Stillleben arrangierte er das Teegeschirr wie auf einem Gemälde. © Foto Diether von Goddenthow

Schon plastisch oder noch flächig, schon Relief oder noch Malerei? Am Übergang von der zweiten zur dritten Dimension vermögen Reliefdarstellungen bisweilen unsere Wahrnehmung auf die Probe zu stellen. Bereits in der Frühen Neuzeit konkurrierten Maler und Bildhauer im Wettstreit der Künste, dem sogenannten Paragone, um die gelungenere Naturnachahmung und Wiedergabe von Körperlichkeit. Philipp Otto Runges steinfarbener Puttenreigen, in dem er mit den Mitteln der Malerei ein scheinbar haptisches Relief erzeugt, steht am deutlichsten in dieser Tradition. Ebenso eignen sich täuschend echt gestaltete Stillleben (Trompel’oeils) für künstlerische Illusionen verschiedenster Materialien. Und das Motiv des Vorhangs, wie es von Gerhard Richter verbildlicht worden ist, war schon in der Antike im Überbietungswettbewerb der Künstler der Inbegriff für vollkommene Täuschung. Im Streben um den kunstfertigsten Augentrug vollzieht sich eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des Reliefs. Dabei verleitet die sinnliche Irritation zur Berührung, zum tastenden Überprüfen des Visuellen und regt an, unseren Blick auf die Kunstwerke zu reflektieren.

7 Gesichter im Relief

Der Porträtkunst im Relief widmet sich ein weiterer Teil der Ausstellung. Von der Medaille bis zum Materialbild bietet das Relief vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten, um Gesichter in ihrer Einzigartigkeit festzuhalten. Seit der Antike hat sich für Porträts im Relief vor allem die Profilansicht etabliert. Davon losgelöst nutzten Künstlerinnen und Künstler wie Käthe Kollwitz oder Pablo Picasso die frontal zu betrachtende Hohlform der Maske, um die Wiedergabe von Emotionen zu erproben. Alberto Giacometti und Constantin Brâncuși skizzierten die Gesichter ihrer Skulpturen mittels Ritzungen und Schraffuren, während etwa Eugène Leroy sein Selbstbildnis auf der Fläche der Leinwand aus dicker Farbpaste formte. Impression © Foto Diether von Goddenthow
Der Porträtkunst im Relief widmet sich ein weiterer Teil der Ausstellung. Von der
Medaille bis zum Materialbild bietet das Relief vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten,
um Gesichter in ihrer Einzigartigkeit festzuhalten. Seit der Antike hat sich für Porträts
im Relief vor allem die Profilansicht etabliert. Davon losgelöst nutzten Künstlerinnen
und Künstler wie Käthe Kollwitz oder Pablo Picasso die frontal zu betrachtende
Hohlform der Maske, um die Wiedergabe von Emotionen zu erproben. Alberto
Giacometti und Constantin Brâncuși skizzierten die Gesichter ihrer Skulpturen
mittels Ritzungen und Schraffuren, während etwa Eugène Leroy sein Selbstbildnis
auf der Fläche der Leinwand aus dicker Farbpaste formte. Impression © Foto Diether von Goddenthow

Von den Augenbrauen bis zur Kinnfalte prägen Hervorhebungen und Vertiefungen das Aussehen und die Mimik jedes Individuums. Schon immer war es den Menschen ein Anliegen, das eigene Antlitz für die Ewigkeit zu bewahren. Das Gesicht plastisch und doch flächengebunden zu modellieren, zählt deshalb zu den traditionsreichsten künstlerischen Aufgaben überhaupt. Seit der Antike hat sich für Porträts im Relief vor allem die Profilansicht etabliert. Sie bildet bis heute den Darstellungsstandard für kleinplastische Plaketten, Medaillen und Münzen. Losgelöst von der Flächenbindung dieser strengen Seitenansicht nutzten Künstlerinnen und Künstler wie Käthe Kollwitz oder Pablo Picasso dagegen die frontal zu betrachtende Hohlform der Maske und erprobten darin die Wiedergabe von Emotionen. Alberto Giacometti und Constantin Brancusi wiederum skizzierten die Gesichter ihrer Skulpturen mittels Ritzungen und Schraffuren, während etwa Eugène Leroy sein Selbstbildnis auf der Fläche der Leinwand aus dicker Farbpaste formte. Von der Medaille bis zum Materialbild erweisen sich die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten des Reliefs als fruchtbares Experimentierfeld, um Gesichter in ihrer Einzigartigkeit festzuhalten.

Teil II im Obergeschoss des Ausstellungshauses

© Foto Diether von Goddenthow
© Foto Diether von Goddenthow

 

8 Durchbrechen und Umgreifen von Raum
Masse, Volumen, Gewicht und geschlossene Formen galten lange Zeit als zentrale Merkmale von Skulpturen und plastischen Arbeiten. Dies sollte sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts grundlegend ändern. Nun wurde verstärkt auch der Raum in die Gestaltung miteinbezogen. Über die Trägerfläche hinaus lässt sich das Relief in alle Richtungen ausdehnen: So geben Schnitte und Leerstellen den Blick auf das Dahinter frei und erweitern damit das plane Werk um eine zusätzliche Ebene. Oder dynamische Konstruktionen ragen so sehr aus der Fläche hervor, dass sie den Raum vor sich umgreifen und in sich einschließen – wie in den Werken von Antoine Pevsner oder Lee Bontecou. Dabei liegt die Beschaffenheit des realen Raumes außerhalb des künstlerischen Einflussbereichs. Eigenschaften, wie die Wandfarbe, sind dem Zufall überlassen, bestimmen das Erscheinungsbild des Werks in wesentlichem Maße mit. In den Reliefs ergänzen sich Auslassungen und Volumen. Was in diesem Zusammenspiel als Negativ- und Positivform wahrgenommen wird, erlebt der Betrachter, indem er sich bewegt.

9 Durchbrechen und Umgreifen von Raum

Impression "Herausragend. Relief von Rodin bis Picasso" Städel Museum  © Foto Diether von Goddenthow
Impression „Herausragend. Relief von Rodin bis Picasso“ Städel Museum © Foto Diether von Goddenthow

Die hier ausgestellten Reliefs nehmen abermals das Wechselspiel von Volumen und Leere, Positiv- und Negativformen auf. Sie sind ergänzt um die frei stehenden Plastiken von Naum Gabo und Hans Arp. In deren vollständig zu umschreitenden Arbeiten treten die mittigen Hohlformen und umgebenden Körper in ein beinahe ausgeglichenes Verhältnis zueinander. Ihre Reliefhaftigkeit erschließt sich nicht mehr durch den direkten Bezug zur Wand, sondern durch die flächige Binnenform. Diese korrespondiert mit der Weite des Raums. Einen Gegensatz zur größtmöglichen Öffnung und Erweiterung der Werke in den Raum bildet die kleinformatige Arbeit Hermann Glöckners, eines erst spät gewürdigten Künstlers der klassischen Moderne. Indem er in seiner Collage die aufgeklebten Streifen aus Seidenpapier übermalte, band er die plastischen Elemente in die Fläche des Bildträgers ein. Glöckner drängte so das ursprüngliche Relief in eine in sich geschlossene Zweidimensionalität zurück.

10 Struktur und All-over
Regelmäßig strukturierte Oberflächen, seriell angeordnete Alltagsobjekte und eine überwiegend reduzierte Farbigkeit bis hin zur Monochromie kennzeichnen zahlreiche Werke in diesem Raum. Häufig erst auf den zweiten Blick ist in den Reliefs von Piero Manzoni und Adolf Luther über Peter Roehr bis hin zu Jan Schoonhoven das feine Zusammenspiel von nuancierter räumlicher Beschaffenheit und subtilem Lichtspiel zu entdecken. Gerade in den 1950er- und 1960er-Jahren wurden die Auswirkungen von reduziertem Farb- und Materialeinsatz – häufig in Gestalt sich wiederholender Muster und Formen – auf die Wahrnehmung des Betrachters ausgelotet.
Im Geiste können die Strukturen dieser Werke nahtlos auf der Wandfläche weitergeführt werden. Durch den Lichteinfall und die Reflexionen ist auch eine Erweiterung in die dritte Dimension möglich. Objekt, Wand und Raum treten dadurch in ein intensives wechselseitiges Verhältnis. Die Idee eines „All-over“, also einer flächendeckenden Struktur ohne Hauptmotiv, ist bereits in den 1920er-Jahren von Hans Arp in seinem bunten Eierbrett vorgedacht worden. Ebenfalls schon in dieser Zeit lieferten die Tapeten des Bauhauses einen wichtigen Beitrag zur Diskussion rund um die gestalterische Kraft strukturierter Wandflächen.

11 Entwürfe von Welt

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zielten Künstlerinnen und Künstler in ganz Europa darauf, mit ihren Werken an der Gestaltung einer neuen Gesellschaft mitzuwirken oder diese kritisch zu hinterfragen. Länderübergreifend lässt sich dabei eine Hinwendung zum Relief beobachten, das sowohl in den Werken der russischen Konstruktivisten Wladimir Tatlin und Iwan Puni als auch der Dada-Bewegung um Hans Arp, Christian Schad und Kurt Schwitters einen wichtigen Stellenwert innehatte. © Foto Diether von Goddenthow
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zielten Künstlerinnen und Künstler in ganz Europa
darauf, mit ihren Werken an der Gestaltung einer neuen Gesellschaft mitzuwirken
oder diese kritisch zu hinterfragen. Länderübergreifend lässt sich dabei eine
Hinwendung zum Relief beobachten, das sowohl in den Werken der russischen
Konstruktivisten Wladimir Tatlin und Iwan Puni als auch der Dada-Bewegung um
Hans Arp, Christian Schad und Kurt Schwitters einen wichtigen Stellenwert
innehatte. © Foto Diether von Goddenthow

Das frühe 20. Jahrhundert war durch einen grundlegenden Wandel geprägt, der alle Bereiche der Gesellschaft erfasste. Bahnbrechende Entwicklungen auf dem Gebiet der Wissenschaft, eine massive Industrialisierung und der technische Fortschritt stellten die Menschen vor neue Herausforderungen. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 führte vielerorts zum Zusammenbruch politischer Systeme. In ganz Europa zielten Künstlerinnen und Künstler fortan darauf, mit ihren Werken an der Gestaltung einer neuen Gesellschaft mitzuwirken oder diese kritisch zu hinterfragen. Länderübergreifend lässt sich dabei eine Hinwendung zum Relief beobachten, das sowohl in den Werken der russischen Konstruktivisten Wladimir Tatlin und Iwan Puni, der Dada-Bewegung um Hans Arp, Christian Schad und Kurt Schwitters als auch am deutschen Bauhaus einen wichtigen Stellenwert innehatte. Allen gemein war die Abkehr von der Gegenständlichkeit durch Verwendung geometrischer Versatzstücke. Da der Mensch in einer neuen Realität von Fortschritt, Technik und Maschine lebte, sollte seine Welt entsprechend beschaffen sein. Vielfach wurde daher mit vorgefundenen Materialien gearbeitet, die zu Objektassemblagen kombiniert wurden. Reliefkunst und Malerei standen dabei in einem fruchtbaren Wechselspiel. So wurden einerseits die Oberflächen der Reliefs farbig bemalt, andererseits fanden sich reliefhafte Strukturen oder eingeklebte Objekte auf den Gemälden wieder.

12 Monumentale Aufgaben
Nach den horrenden Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg begann in ganz Europa der Wiederaufbau von Gebäuden und Städten. Mit diesem Unterfangen gingen meist kommunal oder staatlich geförderte architekturbezogene künstlerische Aufträge einher. Dadurch erlebte auch das Relief als Bauaufgabe in der Nachkriegsmoderne einen wesentlichen Aufschwung. Da Deutschland in vier Besatzungsmächten aufgeteilt war, entstand eine besondere Situation. Denn die Alliierten bemühten sich zunächst, mit unterschiedlichen Maßnahmen wie der Entnazifizierung und Umerziehung auf die Bevölkerung – inklusive der Kunstschaffenden – einzuwirken.
Die Verknüpfung dieser Politik mit der Kultur, beispielsweise in Gestalt einflussreicher Kunstausstellungen, war in England eine der Aufgaben des British Council. Zu diesem Zweck propagierte dieser Künstlerinnen und Künstler wie Henry Moore, Ben Nicholson und Barbara Hepworth. Alle drei hatten sich bereits in den 1920er Jahren der Abstraktion angenähert. Damit waren sie sowohl Repräsentanten der von den Nationalsozialisten verfemten Vorkriegsmoderne als auch der Nachkriegsgegenwart. Sie prägten durch ihre Teilnahme an den ersten documenta-Ausstellungen die Kunstszene in der Bundesrepublik Deutschland.

13 Gefasste Formen
Von alters her dient der Rahmen zur gestalterischen Einfassung wie auch zum Schutz eines Kunstwerks. Zugleich erfüllt er eine inhaltliche Funktion: Er umschließt das Bildfeld nach innen und grenzt es damit zugleich nach Außen ab. Das Kunstwerk wird dadurch autonom. Ob der erhabene Rahmen dabei zum Werk oder zu dessen Umraum – als architektonische Fassung – gehört, unterscheidet sich von Fall zu Fall. Wir zeigen anhand von vier Beispielen eine reliefspezifische Besonderheit: Motivfeld und Umfassung können aus dem gleichen Material – hier Holz, Blei und Gips – gefertigt sein. Damit wird der von Anfang an mitkonzipierte und mitgearbeitete Rahmen eindeutig zum essenziellen Teil des Werkes.

Alexander Archipenkow "Badende" 1915 Städel Museum, Frankfurt am Main. In dieser Darstellung vereinte der ukrainische Künstler Malerei und Bildhauerei und erweiterte so die Grenzen des Kubismus. Diese von ihm als Skulpto-Malereien bezeichneten Werke besitzen trotz dreidimensionaler Formen Reliefcharakter. © Foto Diether von Goddenthow
Alexander Archipenkow „Badende“ 1915 Städel Museum, Frankfurt am Main. In dieser Darstellung vereinte der ukrainische Künstler Malerei und Bildhauerei und erweiterte so die Grenzen des Kubismus. Diese von ihm als Skulpto-Malereien bezeichneten Werke besitzen trotz dreidimensionaler Formen Reliefcharakter. © Foto Diether von Goddenthow

13 Mehransichtigkeit

Im frühen 20. Jahrhundert erfuhr das Relief eine Erweiterung: Vollplastische Werke näherten sich in ihrer Gestaltung zusehends dem Relief an. So entstanden frei stehend konzipierte Werke, die Merkmale von Rundplastiken mit einer eigentlich dem Relief vorbehaltenen, flächenbetonten Sicht verknüpfen. Der wichtigste Auslöser für diese Entwicklung war der Kubismus. Dieser brach den Bildraum und die Formen auf und zeigte Gegenstände oder Personen gleichzeitig aus verschiedenen Perspektiven. Aus Volumina wurden nun Flächen.

Pablo Picasso Violine, 1915  Nach seinen Erfahrungen  mit der kubistischen Malerei begann Picasso ab 1912 Reliefs aus vorgefundenen Alltagsobjekten zusammenzusetzen. Es markiert einen radikalen Gegenentwurf zu Reliefs aus modellierten Werkstoffen. Hierbei übernimmt die Wand den Reliefgrund, der hierdurch wandelbar wird. © Foto Diether von Goddenthow
Pablo Picasso Violine, 1915 Nach seinen Erfahrungen mit der kubistischen Malerei begann Picasso ab 1912 Reliefs aus vorgefundenen Alltagsobjekten zusammenzusetzen. Es markiert einen radikalen Gegenentwurf zu Reliefs aus modellierten Werkstoffen. Hierbei übernimmt die Wand den Reliefgrund, der hierdurch wandelbar wird. © Foto Diether von Goddenthow

In der Plastik wurde dieser Effekt mithilfe einer Durchdringung und Verschränkung von Formen erreicht. Der Betrachter ist aufgefordert, seinen Blickwinkel immer wieder zu ändern und die vielfältigen Sinneswahrnehmungen zu einem Gesamteindruck zu vereinen. Künstler wie Alexander Archipenko, Henri Laurens oder Jacques Lipchitz spielten in ihren Arbeiten mit der reliefhaften Verflachung des Plastischen und schlugen auf diese Weise eine Brücke zur kubistischen Malerei, die in diesem Raum durch die Werke Pablo Picassos repräsentiert wird.

Katalog:
Zur Ausstellung erschien im Prestel Verlag der gleichnamige Katalog „Herausragend! Das Relief von Rodin bis Picasso“, herausgegeben von Alexander Eiling, Eva Mongi-Vollmer und Karin Schick: In 13 Kapiteln erkundet dieses Buch die Möglichkeiten und Grenzen der Reliefkunst jenseits historischer Entwicklungslinien oder stilistischer Ordnungssysteme – und bietet dabei zahlreiche Entdeckungen und Überraschungen. Hardcover, Pappband, 264 Seiten, 23,0 x 28,0 cm, 280 farbige Abbildungen, ISBN: 978-3-7913-7985-2. (€ 39,90 Museumsausgabe), € 49,00 im Handel.

Ausstellungsdauer: 24.Mai bis 17.09.2023
Information: www.staedelmuseum.de
Besucherservice und Führungen: +49(0)69-605098-200, info@staedelmuseum.de
Ort: Städel Museum, Schaumainkai 63, 60596 Frankfurt am Main

Tickets: Tickets online buchbar unter shop.staedelmuseum.de. Di–Fr, Sa, So + Feiertage 16 Euro, ermäßigt
14 Euro; freier Eintritt für Kinder unter 12 Jahren; Gruppen ab 10 regulär zahlenden Personen: 14 Euro pro Person, am Wochenende 16 Euro. Für alle Gruppen ist generell eine Anmeldung unter Telefon +49(0)69-605098-200 oder info@staedelmuseum.de erforderlich.

HERAUSRAGEND! DAS RELIEF VON RODIN BIS PICASSO – Städel-Museum Frankfurt vom 24.04. bis 17.09.2023

Paul Gauguin Seid geheimnisvoll (Soyez mystérieuses)  1890 Lindenholz, bemalt, mit Spuren von dunklem Farbstift 73 × 95 × 5 cm Musée d’Orsay, Paris bpk/RMN – Grand Palais, Paris/Tony Querrec
Paul Gauguin Seid geheimnisvoll (Soyez mystérieuses) 1890 Lindenholz, bemalt, mit Spuren von dunklem Farbstift 73 × 95 × 5 cm Musée d’Orsay, Paris bpk/RMN – Grand Palais, Paris/Tony Querrec

Rodin, Matisse, Gauguin, Picasso, Hans Arp oder Yves Klein – sie alle schufen im wahrsten Sinne des Wortes herausragende Kunst: Reliefs. Das Städel Museum präsentiert diesen Sommer eine große Ausstellung über das Relief von 1800 bis in die 1960er-Jahre. Ist es Malerei oder Skulptur, Fläche oder Raum? Kaum ein anderes künstlerisches Medium fordert unser Sehen so heraus wie das Relief: Das macht es für die berühmtesten Künstlerinnen und Künstler seit jeher so reizvoll. Die Ausstellung zeigt vom 24. Mai bis 17. September 2023 bedeutende Kunstwerke aus rund 160 Jahren von Bertel Thorvaldsen, Jules Dalou, Auguste Rodin, Medardo Rosso, Paul Gauguin, Henri Matisse, Pablo Picasso und Alexander Archipenko sowie Hans Arp, Kurt Schwitters, Sophie Taeuber-Arp, Yves Klein, Louise Nevelson, Lee Bontecou und anderen. Dafür vereint das Städel Museum – in Kooperation mit der Hamburger Kunsthalle – Kunstwerke aus den eigenen Sammlungen und aus führenden europäischen Museen in Frankfurt, etwa aus dem Musée d’Orsay, dem Musée Picasso und dem Centre Pompidou in Paris, dem Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam, dem Kunstmuseum Basel oder dem Musée des Beaux-Arts de Lyon. Darüber hinaus werden auch selten zu sehende Arbeiten aus Privatsammlungen vorgestellt.

„Herausragend! Das Relief von Rodin bis Picasso“ wird durch die Gemeinnützige Kulturfonds Frankfurt RheinMain GmbH und den Städelschen Museums-Verein e. V. mit den Städelfreunden 1815 gefördert. Zusätzliche Unterstützung erfährt die Ausstellung durch die Georg und Franziska Speyer’sche Hochschulstiftung.

Städel Direktor Philipp Demandt über die Ausstellung: „Diesen Sommer können unsere Besucherinnen und Besucher im Städel Museum einem aufregenden künstlerischen Medium begegnen: dem Relief. Eine Kunstform zwischen Malerei und Skulptur, die den sprichwörtlichen Rahmen und die Grenzen unseres Sehens sprengt! Wir widmen dieser bisweilen verkannten Kunstform eine große Ausstellung. Es ist eine einmalige Chance, rund 140 bedeutende Werke von knapp 100 wegweisenden Künstlerinnen und Künstlern des 19. Jahrhunderts, der Klassischen Moderne und der internationalen Nachkriegskunst in Frankfurt zu erleben und das Relief als das zu würdigen, was es ist: Ausdruck großer Kunst.“

„Das Relief ist eines der ältesten Bildmedien der Menschheit. Als Hybrid steht es nicht nur zwischen den künstlerischen Gattungen Malerei und Skulptur, sondern in der Wahrnehmung auch im Spannungsfeld zwischen Sehen und Berühren. Unsere Ausstellung widmet sich den besonderen Möglichkeiten und Chancen des Reliefs in der Kunst vom Klassizismus bis in die 1960er-Jahre. Mit der Rückbindung an die klassische Antike beginnt um 1800 eine deutliche Zäsur für die Bedeutung und die Ästhetik des Reliefs und in den 1960er-Jahren markieren der ‚Ausstieg aus dem Bild‘ und der damit verbundene Transfer bildhauerischer Konzepte in Raumkonzepte einen abermaligen Dreh- und Angelpunkt. Die Ausstellung liefert keine umfassende Geschichte des Reliefs, sie wirft vielmehr einzigartige Schlaglichter auf den heute wenig bekannten Diskurs rund um die Kunst des Reliefs“, erläutern die Kuratoren der Ausstellung, Alexander Eiling und Eva Mongi-Vollmer.

Städelmuseum

Rund 40.000 Menschen feierten die Rückkehr der NACHT DER MUSEEN in Frankfurt und Offenbach

Großer Publikumsmagnet: Antagon-Theater auf dem Römerberg ©  Stadt Frankfurt am Main, Foto: Peter Krausgrill
Großer Publikumsmagnet: Antagon-Theater auf dem Römerberg © Stadt Frankfurt am Main, Foto: Peter Krausgrill

Nach dreijähriger Pause meldete sich die mannigfaltige Museumslandschaft in Frankfurt und Offenbach mit einem eindrucksvollen Programm zur Kunst- und Kulturnacht zurück. Von 19 Uhr bis spät in die Nacht folgten rund 40.0000 Besucherinnen und Besucher dem Ruf von über 40 Veranstaltungsorten, um Ausstellungen, Führungen, Performances, Live-Musik, Filmprojektionen und Workshops zu erleben.

Es war wieder die gelungene Mischung großer und kleiner Momente, die die NACHT so kostbar macht: Das Eintauchen in die unendliche Vielfalt an Kunstobjekten internationaler und nationaler Künstlerinnen und Künstler. Das Genießen überraschender Konzerte, Lesungen und Performances an ungewöhnlichen Orten. Das gemütliche Schlendern entlang des Mainufers oder das inspirierende Gespräch bei den Workshops und Kursen.

„Einmalige Exponate, begeisterte Museumsbesucherinnen und Museumsbesucher und verzaubernde Momente – nach drei Jahren Pause präsentierte sich Frankfurts vielseitige Museumslandschaft zur Nacht der Museen eindrucksvoll. Das in seiner Art einzigartige Museumsufer zog mit seiner enormen Anziehungskraft Kulturinteressierte aus dem gesamten Rhein-Main-Gebiet und darüber hinaus in seinen Bann. Die museale Vielfalt, das abwechslungsreiche Rahmenprogramm und die milden Temperaturen trugen zur nächtlichen Hochstimmung bei“, freut sich Kultur- und Wissenschaftsdezernentin Dr. Ina Hartwig.

Niki de Saint Phalle Schwarze Mosaik-Nana-1999 © Foto Diether von Goddenthow
Niki de Saint Phalle Schwarze Mosaik-Nana-1999 © Foto Diether von Goddenthow

Besonders großer Beliebtheit erfreuten sich nicht nur die großen Häuser, wie die Schirn Kunsthalle mit der kunterbunten, verspielt feministischen Welt von „Niki de Saint Phalle“, oder das DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum mit seiner umfassenden Hommage an die goldenen 1920, inklusive Tanzkurse, Fotobox und Elektro-Swing. Auch bei einzigartigen und besonderen Erlebnissen war der Andrang groß, wie im sonst verschlossenen Fischergewölbe, wo sich die Besucher mit einer Taschenlampe auf dem Weg unter die Alte Brücke machen konnten, oder bei der normalerweise nur für limitierte Führungen geöffneten Deutsche Börse Photography Foundation, wo 20 junge Künstlerinnen und Künstler aus 14 Nationen die neuesten Trends des Mediums präsentierten.

Für Architektur- und Kunstliebhaber war erstmals im Rahmen der NACHT die Europäische Zentralbank (EZB) zu besichtigen, die die Türen zu ihrem imposanten Hauptsitz und der darin beherbergten Kunstsammlung öffnete.

Alle, die schon immer einen Blick ins Universum werfen wollten, stillten ihre Neugier in der Sternwarte des Physikalischen Vereins. Unter Wasser ging es mit den Aquanauten im Zoo Frankfurt, die im Mittelpunkt von kommentierten Fütterungen und Experten-Talks standen, eingebettet in ein stimmungsvolles Licht- und Musikkonzept. In die weite Ferne des peruanischen Amazonasgebiets entführte dagegen das Weltkulturen Museum mit einer spannenden Multimedia-Inszenierung von Objekten und Mustern der Shipibo.

Nacht der Museen - 48 Revolutionärinnen im Kaisersaal des Frankfurter Römers.  © Foto Diether von Goddenthow
Nacht der Museen – 48 Revolutionärinnen im Kaisersaal des Frankfurter Römers. © Foto Diether von Goddenthow

Die Themen Revolution und Demokratie wurden anlässlich des 175. Jubiläums der Eröffnung der Nationalversammlung vielschichtig aufgegriffen: Die aktuelle Ausstellung „Revolutionär:innen“ verhüllt die porträtierten Kaiser und präsentiert an ihrer Stelle 48 historisch bedeutsame Kämpferinnen direkt im Kaisersaal des Römers. Die brodelnden Jahre 1848/49 wurden in der Paulskirche selbst betrachtet. Kunstvoll dargebotene Protestlieder gab es im Deutschen Romantik-Museum zu hören. Und dem „Versprechen der Gleichheit“ widmete sich die Sonderschau des Historischen Museums Frankfurt.

Vielerorts wurde auch für Nachwuchs und Zeitgeist eine Plattform geschaffen. Im Frankfurter Kunstverein zeigten sich Newcomer der hiesigen Kunst- und Musikszene. Im DIAMANT OFFENBACH wurde turbulent auf fünf Etagen urbane Kultur gezeigt. Der Kunstverein Familie Montez solidarisierte sich mittels der Ausstellung „40 Tage, 1001 Kraniche“ mit den Menschen im Iran. Und das MOMEM Museum of Modern Electronic Music präsentierte standesgemäß Meilensteine der elektronischen Clubmusik.

Zu den Highlights des Rahmenprogramms gehörten das antagon-Theater auf dem Römerberg, das Schattenspieltheater im Gartensaal des Goethe-Hauses und die Grammophon-Lesungen von Jo van Nelsen im Sonnemann-Saal und die Berry Blue Band im Jüdischen Museum, wo die Besucherinnen und Besucher bis lange nach Mitternacht tanzten.

Diesen Samstag am Museumsufer NACHT DER MUSEEN Frankfurt und Offenbach am 13. Mai 2023

Liebieg Haus Skulpturen-Museum Foto: Tetyana Lux
Liebieg Haus Skulpturen-Museum Foto: Tetyana Lux

In wenigen Tagen meldet sich die NACHT DER MUSEEN FRANKFURT eindrucksvoll nach dreijähriger Pause zurück. Von Ausstellungen über Führungen, Workshops und Konzerte zu Partys und anderen Specials – das Programm der über 40 teilnehmenden Häuser am 13. Mai zwischen 19 und 2 Uhr verspricht Vielfalt im Zeitgeist.

Für die Planung empfiehlt es sich, das Programm in Ruhe etwas genauer zu studieren, um die Favoriten zu entdecken und daraus eine persönliche Route zu entwickeln. Im Wesentlichen gibt es fünf Hotspots, die wie alle Ausstellungsorte durch fünf BusShuttle-Routen verbunden sind.

Der Schaumainkai: Hier lässt es sich mit Blick auf die Skyline besonders gut schlendern, denn das Museumsufer ist teilweise gesperrt und ein Museum reiht sich an das nächste – wie das Ikonenmuseum, das Museum Angewandte Kunst, das DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, das Museum für Kommunikation,das Städel Museum und das benachbarte Liebieghaus sowie das Museum Giersch der GoetheUniversität.

Nacht der Museen in Frankfurt und Offenbach. Bild: Archäologisches Museum Frankfurt © Foto Diether von Goddenthow
Nacht der Museen in Frankfurt und Offenbach. Bild: Archäologisches Museum Frankfurt © Foto Diether von Goddenthow

Die City: Der Römer bietet mit der Künstlergruppe antagon theaterAKTion und dem mit dem Rad reisenden Musiker Lasca Fox gleich zwei Highlights des Rahmenprogramms. Er ist aber auch einer der Dreh- und Angelpunkte zu den vielen zentral liegenden Ausstellungsorten der Nacht, zu denen unter anderen der Kaisersaal im Römer selbst, das gegenüberliegende Historische Museum, die Paulskirche, der Frankfurter Kunstverein, die Schirn Kunsthalle, das Struwwelpeter Museum, das Deutsche Romantik-Museum, das Institut für Stadtgeschichte oder das MOMEM Museum of Modern Electronic Music an der Hauptwache gehören.

Der Nordwesten: Ob zur Galerie Schierke Seinecke in Hauptbahnhof-Nähe, zur Deutschen Börse Photography Foundation in Eschborn, zum EXPERIMINTA ScienceCenter und Senckenberg Naturmuseum in Bockenheim oder zum Geldmuseum und Kriminalmuseum im Nordend – es lohnt sich, mit den Bus-Shuttles der Nacht in den Norden Frankfurts zu fahren.

Der Osten: Wer sich aus der City in Richtung Osten bewegt, findet zum einen den Frankfurter Zoo, über den aus auch die historische Straßenbahn verkehrt, zum anderen wenige hundert Meter weiter die Europäische Zentralbank (EZB) und den Kunstverein Familie Montez an der Honsellbrücke.

Offenbach: Neben dem Ledermuseum, dem wohl bekanntesten Museum der Nachbarstadt, lockt Offenbach mit dem Klingspor Museum, dem DIAMANT OFFENBACH Museum of Urban Culture, der Druckwerkstatt im Bernardbau und dem Haus der Stadtgeschichte.

Eintrittskarten (15 Euro) gibt es in den teilnehmenden Veranstaltungsorten, online über nacht.museumsufer.de und an AD ticket/reservix-Vorverkaufsstellen. Während der NACHT DER MUSEEN berechtigt das Ticket zum Eintritt in die teilnehmenden Häuser und ist zugleich Ausweis für die Fahrten mit den Shuttle-Bussen und der Historischen Straßenbahn.

Die ermäßigte Eintrittskarte für 10 Euro ist ausschließlich im VVK erhältlich und nur gültig zusammen mit Lichtbild und Berechtigungsnachweis für Kinder unter 18, Schüler:innen, Auszubildende, Studierende, Bundesfreiwilligendienstleistende, Arbeitslose, Schwerbehinderte ab 50 GdB und Frankfurt-Pass/KulturpassInhaber:innen. Für Besitzer:innen der MuseumsuferCard ist der Eintritt frei.

Programm-Heft: Nacht der Museen 

Karikaturist Gerhard Haderer kann auch „Caravaggio“ – Werkschau im Caricatura Frankfurt präsentiert erstmals bittersüße Ölgemälde im Großformat

Das Caricatura Museum Frankfurt präsentiert ab April 2023 einen der bedeutendsten satirischen Zeichner im deutschsprachigen Raum: Gerhard Haderer (*1951 in Leonding/Österreich). 25 Jahre lang erreichte er mit seinen wöchentlichen Zeichnungen für den stern ein Millionenpublikum. Seine zahlreichen Cartoons sind meistens provokativ, auf jeden Fall immer treffend.  Ausstellungs-Impresseion. © Foto Diether von Goddenthow
Das Caricatura Museum Frankfurt präsentiert ab April 2023 einen der bedeutendsten satirischen Zeichner im deutschsprachigen Raum: Gerhard Haderer (*1951 in Leonding/Österreich). 25 Jahre lang erreichte er mit seinen wöchentlichen Zeichnungen für den stern ein Millionenpublikum. Seine zahlreichen Cartoons sind meistens provokativ, auf jeden Fall immer treffend. Ausstellungs-Impresseion. © Foto Diether von Goddenthow

Das Caricatura Museum Frankfurt – Museum für Komische Kunst präsentiert vom 6. April bis zum 17. September 2023 die Werke des „Superstars der Komischen Kunst“ Gerhard Haderer, darunter als Highlights erstmals seine bittersüßen großformatigen Ölgemälde. Kuratiert hat die Ausstellung Stefanie Rohde. 

Die Ausstellung heiße schlicht Gerhard Haderer, ähnlich wie auch einst die Alten Meister ihre Werke nur mit ihrem Künstlernamen präsentiert hätten, wobei bei Gerhard Haderer die Betonung auf „Meister“ läge, begrüßt Achim Frenz, Direktor des Caricatura Museum für Komische Kunst Frankfurt, ein wenig augenzwinkernd die Runde. Schon 2011 präsentierte das Caricatura Frankfurt  Haderers bissigen Werke. „Diese machten die damalige Werkschau zu einer der erfolgreichsten Ausstellungen unseres Museums“, so Frenz.

Direktor Achim Frenz mit Gerhard Harderer im Gespräch vor dem Cartoon"Am Tag danach", welches  Haderer am 7. Jan. 2015 nach dem terroristischen Anschlag auf das Redaktionsbüro der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris malte.  © Foto Diether von Goddenthow
Direktor Achim Frenz mit Gerhard Harderer im Gespräch vor dem Cartoon“Am Tag danach“, welches Haderer am 7. Jan. 2015 nach dem terroristischen Anschlag auf das Redaktionsbüro der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris malte. © Foto Diether von Goddenthow

Jetzt gut 10 Jahre nach der ersten Haderer-Ausstellung später, möchte das Caricatura Frankfurt ein weiteres Feld über die neuen Arbeiten des Meisters Haderer zeigen. So habe Gerhard Haderer Achim Frenz versprochen, zum Abschluss seiner Zeit als Museumsleiter des Caricatura Museums seine bislang noch nie gezeigten großformatigen Ölgemälde in Frankfurt auszustellen. Und da nun der legendäre Museumsleiter Achim Frenz tatsächlich demnächst in den „Ruhestand“ verabschiedet werden wird, hat Gerhard Haderer, den mittlerweile eine enge Freundschaft mit Frenz verbindet, sein Versprechen eingelöst, und  ermöglicht erstmals eine Präsentation seiner großformatigen Ölgemälde.
Unter seinen Ölgemälden befinden sich sagenhafte Werke mit Abmessung von 2,50 x 1,80 Meter, „also etwas größer als seine Zeichnung und Acryl-Bilder“ in der sich Haderer in den Techniken der Alten Meister übte und sich der gestalterischen Aufgabe der großen Leinwand stellte, so Frenz. Er selbst habe ihn einmal bei einer Ausstellung im Kunst-Museum Linz den Caravaggio der komischen Kunst genannt. Mit Recht.  Denn ein Blick auf Haderers liebevoll-bösartigen satirischen Öl-Gemälde im Hell-Dunkel-Stil früher Barockmalerei eines Caravaggios (1571 -1610) reicht, um darin  den italienischen Altmeister wiederzufinden. Haderer habe sich bei Italienreisen in Caravaggios Bilder und dessen Malweise verliebt. und er habe es als Herausforderung empfunden, dessen Malweise ein wenig nachzuempfinden.

Ausstellungs-Impresseion. Im Hintergrund der Öl-Cartoon "Waldlichtung" © Foto Diether von Goddenthow
Ausstellungs-Impresseion. Im Hintergrund der Öl-Cartoon „Waldlichtung“ © Foto Diether von Goddenthow

Zum Glück, denn  Gerhard Haderer kann auch Caravaggio: Auch Haderers Figuren wirken vor den bewusst dunkel gehaltenen Hintergründen enorm  lebendig. Die Akteure seiner kurios boshaft witzigen Öl-Cartoons treten im wohldosierten Lichterschein aus dunklen Hintergründen besonders plastisch hervor. Der meisterhaft in dieser Chiaroscuro-Technik erzeugte Kontrast zwischen Hell und Dunkel verleiht Haderers  Ölgemälden eine besonders dramatische Note und  fotorealistische Ästethik und  Tiefe. Kaum ein Betrachter vermag sich der Magie dieser Öl-Cartoons entziehen. Die Bilder verführen unweigerlich zum Hinschauen und ziehen Betrachter  ins Geschehen hinein. Gerhard Haderer gelingt es durch diese spezielle Hell-Dunkel-Technik die Kompositionen an Tiefe und Theatralik gewinnen zu lassen, die seine Bildbotschaften subtil noch verstärken.

Ob er Perfektionist sei? Nein, davon sieht sich der Meister fern – „gut bei den Ölgemälden“, die eine neue echte Herausforderung waren und auch etwas mit Disziplin zu tun hätten, „hat er eine Ausnahme gemacht“, aber immer “wenn ich in die Nähe eines Perfektionisten gerate, muss ich mich selber sofort rächen, also überprüfen“, und dann entstünden eben solchen Dinge wie „‘Moff‘ dieses kleinformatige bildchenförmige Schundheftel, wie es in Österreich heißt, das nur mit einem Stift auf weißem Papier gezeichnet ist. Also Perfektionismus ist mir wohl sehr fern“, beteuert der Künstler, dem man dies nicht so ganz abnehmen kann. Zu vollkommen sind seine Werke.

Seine  Bilder entstünden in seinen Ateliers in Linz und im Sommersitz am Attersee, Ruhe, Zeit und Ordnung benötige er für die Ausarbeitung, so Frenz. Haderer arbeitet klassisch mit Stiften, Pinsel, Papier und Farbe. Auf Skizzen folgt eine erste Zeichnung, dann die Ausarbeitung mit Buntstiften in einer gekonnt eingesetzten Mischung aus zarten und kräftigen Strichen. Nie vernichtend, sondern geradezu liebevoll und mit größter Genauigkeit nähert er sich seinen Szenerien, sucht die Zwischentöne in den großen Themen.

Keep going  (c)  Gerhard Haderer 2020 © Foto Diether von Goddenthow
Keep going (c) Gerhard Haderer 2020 © Foto Diether von Goddenthow

Für Haderer sei es keine Arbeit, so Frenz, „es geht ihm leicht von der Hand, 10 bis 12 Stunden arbeitet er an einem Werk“, für seine großformatigen Ölgemälde benötigt er allerdings gute drei Monate, was jedoch dennoch recht flott ist.
Dass seine großformatigen Ölgemälde maximal 2,50 auf 1,80 Meter messen, habe einen ganz banalen Grund, nämlich läge an der relativ kleinen Wohnung in Linz. „Fünf Zentimeter größer wäre einfach nicht mehr durch die Eingangstür gegangen. Deswegen haben sich diese Bilder in diesem für mich Riesenformat in dieser Größe ergeben“, erklärt der Meister.

Im Mittelpunkt der jetzt gezeigten Ausstellung stehen Haderers bereits erwähnten, beeindruckenden Ölgemälde, die zwischen fotorealistischer Perfektion und karikaturesker Überspitzung seine exzeptionelle Position auch in der Komischen Malerei unter Beweis stellen, wie es im Prospekt des Caricatura-Museums heißt.
Komplettiert wird die Werkschau durch eine breite Auswahl an Cartoons des vielfach ausgezeichneten Künstlers. Verschiedene Arbeitsskizzen sowie eine Medienstation, die den Entstehungsprozess ausgewählter Zeichnungen zeigt, gibt zudem Einblicke in die Arbeitsweise Haderers. Seine zahlreichen Cartoons sind meistens provokativ, auf jeden Fall immer treffend. In ihnen entdeckt der Betrachtende eine Bandbreite an gesellschaftlichen oder politischen Themen: Religion, Migration, Klimawandel, soziale Ungerechtigkeit, Bürokratiewahnsinn, Sportskandale uvm. Haderer zeichnet aus Notwehr gegen den Wahnsinn: „Es wäre schön, die Mächtigen mit dem Bleistift in Grund und Boden zeichnen zu können.“ Gerade in diesen Tagen der absoluten Krisen werden seine Werke wertvoller denn je und seine Rebellion auf dem Papier umso wichtiger. Das allgegenwärtige Credo: sich einmischen, aufmischen und bloßstellen.

(Diether v. Goddenthow /RheinMain Eurokunst)

Wer ist Gerhard Haderer?

Gerhard Haderer, rein zufällig, vielleicht ein wenig symbolisch für sein spezielles Verhältnis zur katholischen Kirche, im Hintergrund der Frankfurter Dom St. Bartholomäus gegenüber vom Caricatura Museum für komische Kunst am Weckmarkt. © Foto Diether von Goddenthow
Gerhard Haderer, rein zufällig, vielleicht ein wenig symbolisch für sein spezielles Verhältnis zur katholischen Kirche, im Hintergrund der Frankfurter Dom St. Bartholomäus gegenüber vom Caricatura Museum für komische Kunst am Weckmarkt. © Foto Diether von Goddenthow

Gerhard Haderer wurde im österreichischen Leonding am 29. Mai 1951 geboren. Schon als Kind war für ihn das Zeichnen die unmittelbarste Sprache, mit der er sein Umfeld über die bloße Abbildung hinaus kommentierte. Seine Eltern förderten sein Talent. Sie ermutigten ihn, dieses beruflich zu nutzen und ermöglichten ihm eine Ausbildung zum Grafiker an der Linzer Fachschule für Gebrauchs- und Werbegrafik. Eine daran anschließende Lehre als Graveur in Stockholm brach er ab. Kurzzeitig arbeitete er als Dekorateur bei der Quelle AG, ab 1974 dann sehr erfolgreich als freier Grafiker und Illustrator für verschiedene Werbeagenturen. Insbesondere seine fotorealistischen Arbeiten in allen Bereichen der Werbeillustrationen waren auch bei großen Unternehmen und Marken schnell gefragt. Wirtschaftlich auf der Sonnenseite haderte der Künstler jedoch immer mehr mit dieser Erwerbsform und der vermeintlich heilen und strahlenden Werbewelt.

Gerhard Haderer im Gespräch mit seiner Kuratorin Stefanie Rohde. © Foto Diether von Goddenthow
Gerhard Haderer im Gespräch mit seiner Kuratorin Stefanie Rohde. © Foto Diether von Goddenthow

Mit 30 Jahren entschied er sich für einen radikalen Neuanfang. Er kündigte seine Dienste in der Werbebranche, zog mit Frau und Kindern nach Linz, wo er bis heute lebt. Hier widmet er sich fortan der Komischen Kunst. Bereits 1984 erschien Haderers erste Karikatur auf dem Cover der Salzburger Satirezeitschrift „Watzmann“. Dadurch wurde die Chefredaktion des österreichischen Nachrichtenmagazins „profil“ auf den Zeichner aufmerksam. Bis 2009 zeichnete er regelmäßig für das Magazin. Einem Millionenpublikum wurde er durch seine Kolumne „Haderers Wochenschau“ im „Stern“ bekannt, die er 1991 bis 2016 zeichnete. Ebenso arbeitete er für den „Wiener“, „Titanic“, „GEO“ und „trend“ und zuletzt für die „Oberösterreichischen Nachrichten“, seit 2017 für das österreichische Nachrichtenmagazin „news“.

Neben diesen Tätigkeiten suchte Haderer immer weiter nach neuen künstlerischen Herausforderungen und Ausdrucksformen. So erschien 1991 sein erstes Kinderbuch „Das große Buch vom kleinen Oliver“, dem weitere folgen sollten. Für die Wiener Kabarett-Gruppe „maschek“ entwarf er 2006 erstmals Handpuppen für ihre als Kasperltheater inszenierten Stücke. 2014 brachte er seinen Bestseller „Der Herr Novak“ auf die Bühne.

Von 1997 bis 2000 erschien erstmals Haderers eigenes Comic-Format mit dem lautmalerischen Titel „MOFF“, das er 2008 gemeinsam mit seinem Sohn und dessen Frau wiederbelebte. In „MOFF“ konzentriert sich der Karikaturist im Gegensatz zu seinen detailreichen Arbeiten auf schnelle Schwarz-Weiß-Comic-Strips im Kleinstformat. Konträr dazu übte sich Haderer in den vergangenen Jahren in der Ölmalerei. Mit Großformaten von 250 cm x 180 cm zitiert er dort in karikaturesker Überspitzung die dramatischen Inszenierungen der Alten Meister.

2017 gründete Haderer die „Schule des Ungehorsams“ in Linz mit dem Ziel, durch alle gesellschaftlichen Schichten einen kritischen Diskurs zu etablieren. Vorträge, Ausstellungen, Lesungen und Workshops bis hin zu Publikationen und Aktionen im öffentlichen Raum sollen Menschen mit künstlerischen Mitteln aktiv werden lassen.

Andere Angebote, die Haderers Freiheit und damit seine Unabhängigkeit eingeschränkt hätten, lehnte der Künstler hingegen kategorisch ab, darunter lukrative Angebote der Privatwirtschaft wie beispielsweise Red Bull oder das millionenschwere Angebot der FIFA, Nutzungsrechte einer Zeichnung zu erhalten.

Ausschnitt aus: Messias im Vatikan, 2014, © Gerhard Haderer © Foto Diether von Goddenthow
Ausschnitt aus: Messias im Vatikan, 2014, © Gerhard Haderer © Foto Diether von Goddenthow

Haderers Arbeiten kommentieren mit ihrem hintersinnigen Witz gesellschaftliche und politische Missverhältnisse. Sie fordern heraus, provozieren. Insbesondere diejenigen, die sich von den Karikaturen ertappt fühlen. Das zeigen viele öffentliche und teils heftige Reaktionen auf seine Werke. Sein Bestseller-Comic „Das Leben des Jesu“ zog internationale Proteste seitens der Kirche und der Politik nach sich und mündete in Anzeigen in Österreich und der Tschechischen Republik. In Griechenland verurteilte man ihn 2005 in Abwesenheit wegen Blasphemie zu einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe, in einer Berufungsverhandlung wurde er freigesprochen. Zusammen mit der Initiative „Courage – Mut zur Menschlichkeit“ sorgte er zuletzt im März 2021 für internationale Aufmerksamkeit: Als Protest gegen die Migrationspolitik der damaligen österreichischen Regierung unter Kanzler Sebastian Kurz zierte der Cartoon des „Herzlosen Kanzlers“ ein 230 Quadratmeter großes Plakat an einem der meist frequentierten Verkehrsknotenpunkte in Wien.

Haderer beobachtet, zeichnet das, was ihm auffällt, was ihn alltäglich umgibt. Intensive Gespräche und exakte Beobachtungen seines Umfeldes liefern ihm die Inspiration für ein vielfältiges Themenspektrum. Sein Figurenensemble ist vielgestaltig, neben den Großen und Mächtigen fängt er auch immer wieder Stimmung und Empfindlichkeiten der Bevölkerung ein.

Eröffnet wird die Ausstellung am heutigen Mittwoch, dem 5. April, um 18.00 auf dem Weckmarkt vor dem Caricatura Museum Frankfurt. Gerhard Haderer ist anwesend. Die Frankfurter Kulturdezernentin Dr. Ina Hartwig steuert ein Grußwort bei und Kabarettistin Maren Kroymann (Schauspielerin, Kabarettistin und Sängerin) sendet eine Videobotschaft. Musikalisch sendet von Attwenger ein Videogrußwort. Anmeldung ist nicht erforderlich, wer möchte kann es aber über E-Mail caricatura.museum@stadt-frankfurt.de

Caricatura Museum Frankfurt
Museum für Komische Kunst
Weckmarkt 17
60311 Frankfurt am Main
Telefon: 069 / 212 30161
Caricatura.museum@stadt-frankfurt.de
www.caricatura-museum.de