Ausstellung „Vom Freiheitskampf zur Freizeitgestaltung“ zum 150jährigen Jubiläum des Männer-Kammerchor Sonnenberg

Termin: vom 14. bis 24. September 2015, Foyer Rathaus Wiesbaden. Eintritt frei.

© massow-picture
© massow-picture
Vom Freiheitskampf zur Freizeitgestaltung

1865 gründeten 18 Sonnenberger Bürger und Mitglieder des Turnvereins einen Männergesangsverein, dem sie den Namen „Gesangverein Gemütlichkeit“ gaben. Als erster Sonnenberger Gesangverein, der heute Männer-Kammerchor Wiesbaden-Sonnenberg heißt, wollte man das kulturelle Leben in Sonnenberg fördern. Es wurden pro Woche zwei Gesangstunden abgehalten.
Doch es herrschten strenge Sitte. So ist im Protokoll vom 31. August 1865 festgehalten:
„Es wurde beschlossen … das Ausbleiben der Mitglieder beim Gesang ohne gründliche Entschuldigung eine Strafe von 4 Kreuzer, dreimaliges Versäumen hat das Mitglied den Ausschluß zu erwarten …“

Nachzulesen ist der Text auf einer Schautafel der gekonnt konzipierten  Wanderausstellung „Vom Freiheitskampf zur Freizeitgestaltung“. Diese untersucht die revolutionäre Bedeutung  der Chöre für die Demokratiebewegung seit der Französischen Revolution  und nähert sich darüber hinaus  aus soziohistorischer Perspektive vielen weiteren Themen,  etwa der Rolle der Frau: Auch im „Gesangverein Gemütlichkeit“ stellte sich die Frage „nach Frauen im Chor nicht, auch nicht als fördernde Vereinsmitglieder. Das war so … fast über 100 Jahre“.

Ansichtspostkarte "Eine lustige Sängerfahrt", aus dem frühen 20. Jahrhundert vor 1914.
Ansichtspostkarte „Eine lustige Sängerfahrt“, aus dem frühen 20. Jahrhundert vor 1914.

Aber schon damals ging es ganze ohne die Frauen auch nicht: „Festjungfrauen“, lesen wir da auf einer  Tafel, „spielten auf männerbündischen Sängerfesten mitunter eine wichtige zeremonielle Rolle, wenn es um Initiationsriten wie Einweihungen ging. Auf dem Dresdner Sängerbundesfest waren es 40 ‚Festjungfrauen‘. In festlichem Aufzug – weißes Kleid mit ‚schwarzrotgoldenem Gürtel‘ und ‚Eichenkranz‘ in den Haaren – überreichten die den Sängern ein Fahnenband, womit sie die nationaldeutschen Einigungsvisionen der Sängerbeweung versinnbildlichten. Die zeremonielle Hochachtung, die die Jungfrauen den Männerchorsängern entgegenbrachten, spiegelte die herrschenden Vorstellungen vom Geschlechterverhältnis im Milieu der Männerchöre, wonach den Frauen eine dienende Zubringerrolle und auf Festen die Aufgabe einer zeremoniellen Staffage und die passive Zuhörerrolle zufiel“.
Auch im Fall der „Gemütlichkeit“ spielten Frauen nur eine dienende Rolle, sammelten beispielsweise Gelder, nähten Vereinsfahnen und Schärpen und sorgten im Hintergrund, dass die Festgäste, also die Männer, nicht verhungerten und verdursteten …“

Wer mehr über die Rolle von „Männer und Frauen“ in Chören, „Freiheit und Unterdrückung“, „Gefühl und Verstand“, „Offenheit und Ideologie“, „Populär und Elitär“, „Alltag und Fest“ und „Alt und Jung“ im Gesamten sowie am Beispiel des Männer-Kammerchors Wiesbaden-Sonnenberg erfahren möchte, sollte sich die Ausstellung „Vom Freiheitskampf zur Freizeitgestaltung“ im Foyer des Wiesbadener Rathauses anschauen.

© massow-picture
© massow-picture

Die Ausstellung geht 10 Tage, noch bis zum 24.09.2015. Sie wurde am 14. September 2015 von Kulturdezernentin Rose-Lore Scholz im Rahmen einer Feierstunde anlässlich des 150jährigen Jubiläums des Männer-Kammerchor Wiesbaden-Sonnenberg eröffnet. Die musikalische Umrahmung übernahmen die Jubilare meisterhaft selbst.

Holger Schlosser, Vorsitzender des Männer-Kammerchos Wiesbaden-Sonnenberg, gab einen prägnanten Überblick und Einblick in das hiesige Chorwesens. Zu Beginn  wies er darauf hin, dass allein hierzulande derzeit rund vier Millionen Menschen jeden Alters in Amateur-Chören verschiedenster Prägungen aktiv seien. Das wären mehr Menschen denn je, wobei jedoch selbst die Chormitglieder zumeist – wie die restlichen 77 Millionen Nichtchorsänger/innen – relativ wenig über die Historie der deutschen Chorbewegung wüssten.

„Das hat – beginnend mit den 1960ziger Jahren – zu weit verbreiteten Vorurteilen über Wesen und Wirken von Chorgründungen des 19. Jahrhunderts und dann auch zu einem Massensterben vormals weithin gerühmter Chöre geführt.
Hinzu kommt, dass besagte Vorurteile von mehr schlecht als recht überlebenden Traditionschören zuweilen noch bedient werden. So konnte man kürzlich in der Einladung zum Jubiläumskonzert eines ehemaligen musikalischen Aushängeschildes lesen.
„(Unser Chor) wäre für seine Gründerväter nicht wiedererkennbar. Singen im Chor hat sich spürbar verändert. Um das ist gut so!“
Was vermutlich nur als Hinweis auf seine Hinwendung auf Cover-Versionen von Hits aus der Schlagerparade gemeint war, nährt nolens volens Fehl- und Vorurteile. Das Fehlurteil, der interaktive Prozess „Singen im Chor“ hätte sich im Sinne einer Verbesserung verändert und das Vorurteil, nach wie vor klassisches Repertoire pflegende Chöre seien nicht mehr up-to-¬date.
Für den Deutschen Chorverband im Vorfeld seines 2012 anstehenden 150jährigen Jubiläums Gründe genug gewesen, mit Prof. Dr. Friedhelm Brusniak und Prof. Dr. Dietmar Klenke zwei ausgewiesene Experten zu beauftragen, Licht in dieses Dunkel zu bringen. Unterstützt wurden die beiden Wissenschaftler u.a. von Mitarbeitern der Stiftung „Dokumentations- und Forschungszentrum des Deutschen Chorwesens“.
Dabei herausgekommen ist u.a. die Ausstellung „Vom Freiheitskampf zur Freizeitbewegung“, die im Rahmen des „Deutschen Chorfestes Frankfurt 2012″ in der dortigen Paulskirche erstmals gezeigt wurde. Teilgenommen hatten an diesem Fest 20.000, großenteils jugendliche Sängerinnen und Sänger aus aller Welt. Die Gesamtbesucherzahl der insgesamt 600 Einzelveranstaltungen wurde auf 200.000 geschätzt.
Eine Abordnung unseres Chores gehörte zum Kreise derer, die vom DCV-Präsidium zur Auftaktveranstaltung in die Paulskirche eingeladen waren. Selbstverständlich hatten wir uns bei der Gelegenheit auch die besagte Ausstellung angeschaut.
Beim Studium der 10 Thementafeln waren uns zahlreiche Parallelen zu historischen Entwicklungen im eigenen Chor aufgefallen, insbesondere unter den Stichworten „Freiheitskampf“ und „Öffnung für die Gesangskultur anderer Nationen“.
Wussten wir doch um das Eintreten unserer republikanisch gesinnten Vereinsgründer für Freiheitsrechte und nationale Einheit. Ebenso um die Abneigung nachfolgender Generationen, ihre musikalischen Ambitionen parteipolitisch vereinnahmen zu lassen.

Diesen tradierten Grundhaltungen verpflichtet und nostalgischen Ritualen ebenso abhold wie kurzatmigen Moden, hatten Dirigent, Vorstand und Sänger zu Anfang der 1980ziger Jahre Chor und Verein zukunftsfähig gemacht. Die Teilnahme am internationalen Kulturaustausch war eine sich geradezu aufdrängende Konsequenz.
Bei Begegnungen mit Ensembles aus dem damaligen Ostblock und aus südafrikanischen Homelands wurde uns in beklemmender Weise bestätigt, dass außermusikalische Zielsetzungen in Chören – wie das Streben nach Freiheitsrechten und nationaler Eigenständigkeit – kein Schnee von gestern war und ist.

© massow-picture
© massow-picture

Lassen Sie mich in dem Zusammenhang noch einen aktuellen Bezug herstellen: Unser aufrichtiges Interesse an Geschichte und Kultur ausländischer Kooperationspartner, sowie die denen in Wiesbaden entgegengebrachte private Gastfreundschaft öffnete uns vielerorts Herzen und Türen. Wenn man so will, eine wechselseitige „Willkommenskultur“ auf privater Ebene, die in Zeiten der Massenflucht vor Krieg, Völkermord und bitterster Armut notwendiger ist denn je.

Meiner sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,
wie Sie beim Gang durch die Ausstellung sehen werden, haben wir bei allen Thementafeln des Deutschen Chorverbandes „angedockt“. Dabei mussten wir uns naturgemäß in der Kunst des Weglassens üben. Was sich angesichts der Fülle korrespondierenden Archivmaterials als eher schwierig erwies.
Was also soll diese „Jubiläumsausstellung im Doppelpack“ zeigen?
Sie soll zeigen, dass Chormusik weit mehr bewirken kann, als die Steigerung des körperlichen und geistigen Wohlbefindens singender Individuen.
Sie soll zeigen, dass es sich angesichts historischer Fakten einerseits und gegenwärtiger Praxisbeispiele andererseits verbietet, das Wesen und Wirken von Chorgründungen des 19. Jahrhunderts als anachronistisch abzutun.
Sie soll zeigen, dass Singen in der Gemeinschaft ein dem gesellschaftlichen Wandel unterworfenes menschliches Grundbedürfnis ist, das in dem Maße Früchte trägt, wie es sich ideologischem Missbrauch entziehen und frei entfalten kann.“
(Holger Schlosser, Rede vom 14.September 2015 zur Eröffnung der Ausstellung „Vom Freiheitskampf zur Freizeitgestaltung“.

Weitere Informationen über Geschichte und Entwicklung des Männer-Kammerchor Wiesbaden-Sonnenberg :

150 Jahre Kulturarbeit in Sonnenberg

1865 (1) – Rede Goldmann zur Gala (2)