19. Wiesbadener Literaturtage 2015 mit Ror Wolfs Collagen über zerschnetzeltes Leben eröffnet

Weiteres Programm der 19. Wiesbadener Literaturtage bis zum 21. Juni 2015

Umrahmt von den Jazzmusikern Michael Wollny (li) Piano und Heinz Sauer (Saxophon) wurden am vergangenen Sonntag feierlich die 19. Literaturtage in der Aula des Kunsthauses am Schulberg 10 eröffnet.
Umrahmt von den Jazzmusikern Michael Wollny (li) Piano und Heinz Sauer (Saxophon) wurden am vergangenen Sonntag feierlich die 19. Literaturtage in der Aula des Kunsthauses am Schulberg 10 eröffnet.

Gestern Vormittag, am 14. Juni 2015, wurden in der Aula des Kunsthauses am Schulberg 10 die 19. Wiesbadener Literaturtage eröffnet mit einer fulminanten Rede des Schriftstellers Michael Lentz anlässlich der Vernissage zur Collagen-Ausstellung Spaziergänge in der zerschnetzelten Welt des Mainzer Schriftstellers Ror Wolf. Die Ausstellung ist bis zum 5. Juli zu sehen.
Gegen 19. 30 Uhr las Kulturtage-Gastgeber Christian Brückner aus den literarischen Werken Ror Wolfs. Beide Veranstaltungen zu den beiden Sprachen Ror Wolfs wurden musikalisch umrahmt vom Jazz-Duo Michael Wollny (Piano) und Heinz Sauer (Saxophon).

Rose-Lore Scholz, Kulturdezernentin wies nochmals auf den Kunstsparten übergreifenden Ansatz hin. © massow-picture
Rose-Lore Scholz, Kulturdezernentin wies nochmals auf den Kunstsparten übergreifenden Ansatz hin. © massow-picture

In ihren Eröffnungsgrußworten skizzierten Kulturdezernentin Rose-Lore-Scholz und Dr. Helmut Müller, Geschäftsführer des Kulturfonds Frankfurt RheinMain, das künstlerische Sparten übergreifende Konzept von Literatur, bildender Kunst, Musik und Hörbuch, das den Wiesbadener Literaturtagen 2015 zugrunde liege. Bei der Vermittlung von Literatur, Darstellung von bildender Kunst oder Darbietung von Musik ginge es immer auch um den Transit, nämlich um das, was

Dr. Helmut Müller, Geschäftsführer des Kulturfond Frankfurt
Dr. Helmut Müller, Geschäftsführer des Kulturfond Frankfurt RheinMain erläuterte das Konzept des Transit, den Geschichten zwischen den Geschichten.© massow-picture

passiere, wenn nicht nur Menschen, sondern auch Gedanken zueinander kommen, schnell zueinander kommen. Und was daraus entstünde, gelte natürlich auch für die Künste: „das was jemand sagt, entspricht ganz selten dem, was jemand versteht. Der Punkt der Vermittlung, der Transit dazwischen, ist das Spannende“, zitierte Dr. Helmut Müller den Gastgeber der Literaturtage Christian Brückner, einer der wohl bekanntesten und zur Zeit besten Synchron- und Hörbuchsprecher, der noch bis zum 21. Juni durch die 19. Wiesbadener Literaturtage führen wird.

Literaturtage-Gastgeber Christian Brückner eröffnet die 19. Wiesbadener Literaturtage
Literaturtage-Gastgeber Christian Brückner eröffnet die 19. Wiesbadener Literaturtage in Beisein von Kulturdezernentin Rose-Lore Scholz, Dr. Helmut Müller, Geschäftsführer des Kulturfond Frankfurt RheinMain, Schriftsteller Michael Lentz (Laudator), Susanne Lewalter (Leiterin des Literaturhauses Villa Clementine) u.a.© massow-picture

„Als ich die Einladung erhielt und zusagte, fragte ich mich sofort, wer kommen sollte. Für mich gab es keine Frage: Ror Wolf sollte dabei sein!“, eröffnet Christian Brückner die Literaturtage. Erster tosender Applaus eines kundigen Publikums. Denn bei Insidern zwar gefeiert, habe Ror Wolf, so Christian Brückner, nicht die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erfahren, die er hätte erfahren müssen. Wolf sei ein Ausnahmekünstler, ein Monolith, ein Solitär in dieser literarischen Landschaft, glorifizierte Brückner den Mainzer Autor mit Recht. „Aber vielleicht sei Ror Wolf auf den ersten Blick nicht so einfach zu verdauen. Er ginge einen nicht so runter, „sondern es bedarf dessen, was insgesamt fehlt in unserer Kultur, in unserer Gesellschaft: Den zweiten Blick, die Beschäftigung, das Wiederlesen, das Wiederhören, das Wiedersehen, das Hingucken, das Sich-nicht-damit-Zufriedengeben“ und das Fragen „Vielleicht ist doch etwas dran?“.

Ror Wolf, 1932 in Saalfeld/Thüringen geboren und nach 34 Umzügen seit vielen Jahren in Mainz lebend, konnte aus gesundheitlichen Gründen persönlich nicht anwesend sein, bedauerte Christian Brückner, hoffte aber, oder war sich fast ganz sicher, „dass er auf alle Fälle daran teilnimmt, was hier geschieht.“ In beiden Veranstaltungen ginge es letzten Endes um die selbe Geschichte, nämlich um die zwei Sprachen des Ror Wolfs, die Sprache der Literatur und die Sprache seiner Collagen.

Was seien Ror Wolfs Collagen anderes als unter anderem Sprache. Sie seien nicht Literatur, aber Sprache. „Gucken Sie hin, machen Sie die Ohren auf, und dann hören Sie, was gesagt wird, was mitgeteilt wird! Dass ist das, was Sie selbst sozusagen aufnehmen können, was Sie selbst machen, dazu machen, zu etwas, was so intensiv ist und so die Menschen erreichen kann , nicht muss“, lud Brückner ein, sich auf Ror Wolfs bizarre zerschnetzelte Welten einzulassen.

Ror Wolfs Collagen seien keine Illustrationen zu dem, was Ror Wolf schreibt. Diese Collagen, so Brückner, seien in ihrer Weise so total selbständig, dass sie auch in den Büchern, wo sie auftauchten, die Geschichten eben nicht illustrierten, sondern daneben ein wiederum anderes Leben führten.

Das Thema der Geschichte, hieße genau wie das Thema dieser Woche: „Wie Sprache geht und wie Geschichten kommen!“, unterstrich Brückner und fragte ins Publikum: „Und was alles ist Sprache?“, „Hier diese wohlwollenden Worte in freundlicher Sprache (anspielend auf Scholz, Müller), die Musik dieser beiden Gentlemen (Pianist Wollny, Tenorsaxophonist Heinz Sauer), diese unglaubliche Musik, was für eine Sprache, unter anderem.“ Und leitete über zur bevorstehenden kenntnisreichen sprachlichen Einführung Michael Lentz in die Werke Ror Wolfs, „wieder eine andere Sprache“. Und seine eigene Sprache als Gastgeber pointierte Brückner mit der Bemerkung: „Ich mache ein paar galante Gedanken mit Sätzen uns so (…), auch wieder eine Sprache, und dann das Entscheidende: Die Wolf’sche Sprache.“ Und wenn die zu Worte käme, so Brückner, und wenn die eine Resonanz fände an diesem Tage und vielleicht sogar bei einzeln – es ginge nur um einzelne, denen etwas imponiere, für die Legionen funktioniere das nicht – und wenn das passiere, das ein einzelner von Ror Wolfs Sprache ergriffen würde, „dann wäre eigentlich schon alles erreicht, was wir hier in unserer Ansprache gerne hätten erreichen wollen“.

Michael Lentz Einführung zu Ror Wolfs Zerschnetzeltwelten

 

Schrifsteller Michael Lentz hielt die Laudatio auf Ror Wolf und führte ins graphische wie literarische Werk des Ausnahmekünstlers gekonnt und mitreißend  ein. Lentz gilt als der derzeit beste Kenner Ror Wolf'scher Werke. © massow-picture
Schrifsteller Michael Lentz hielt die Laudatio auf Ror Wolf und führte ins graphische wie literarische Werk des Ausnahmekünstlers gekonnt und mitreißend ein. Lentz gilt als der derzeit beste Kenner Ror Wolf’scher Werke. © massow-picture

„Man könnte das, was Ror Wolf macht in Text und Bild, nennen: zwischen Mechanik und Metaphysik“ fasste der Schriftsteller und derzeit beste Ror Wolf Experte, Michel Lentz, Wolfs Arbeit in einen ersten Leitgedanken als kleine Orientierungshilfe vorweg zusammen. Mit Veröffentlichungen in der Frankfurter Studentenzeitung Diskus habe es angefangen. Ror Wolf habe Collagen veröffentlich, „von deren Herstellung er seitdem nicht lassen kann.“ Das habe er in erster Linie zur Entspannung gemacht, um sich ein wenig vom Schreiben zu erholen. Inzwischen seien auf diese Weise rund 5000 Collagen entstanden, Zerschnetzelwelten, von denen nur eine kleine Auswahl gezeigt werden kann.
„Bis heute gewinnt Ror Wolf das Material zu diesen Collagen überwiegend aus Illustrierten, Enzyklopädien, populärwissenschaftlichen Büchern und Zeitschriften, vorwiegend der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in denen die Holzschnitt- und Stahltechnik zur Anwendung kamen“. Auch Trivialromane dienten ihm, so Michael Lentz, als Material-Reservoir.

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Buchtipp: Ror Wolf, alias Raoul-Tranchirers: Notizen-aus-dem-zerschnetzelten-Leben

„Mit seiner jüngsten Unternehmung Raoul Tranchirers Notizen aus dem zerschnetzelten Leben, schließe Raoul Tranchirer, alias Ror Wolf, seine Enzyklopädie für unerschrockene Leser in zweihundert Notizen genannten Prosastücken von A wie Abbildung bis Z wie Zusammensinken und knapp 300 visuellen Collagen ab.“ Ror Wolf, so Lentz weiter, befreie „die Ordnungsinstanz Enzyklopädie von der sich bürgerlich selbstvergewissernden Funktion: Wissen zu sammeln, und zum Teil unter populärer Aufbereitung einer interessierten geneigten Allgemeinheit zur Einsicht zu geben“. Gleichzeitig schaffe die Wolf‘sche Enzyklopädie emanzipatorische Kraft: Sie könne „das Reale vom ‚nur‘ Aktuellen befreien, und widerständig gegen alle Hoffnungslosigkeit dem geneigten Leser zur Verfügung stellen“, pointierte Lentz. „Die Enzyklopädie für Unerschrockene Leser kombiniere die miteinander konkurrierende systematische und die alphabetische Anordnung einer Enzyklopädie, indem unter der thematischen Zentral-Chiffre, also zum Beispiel zerschnetzeltes Leben, alle für Ror Wolf, alias Raoul Tranchirer, relevanten Sachen nicht nach ihrer Wichtigkeit, sondern alphabetisch gelistet seien.“

Die stabile Instabilität bei Ror Wolf
So seien Roul Wolf’s Enzyklopädien nach Prinzip selbst zerschnetzelt. Seine Erzählwelten machten, so Michael Lentz, „das Zufällige, das Unwahrscheinliche, aber auch das völlig Belanglose zum Fundament einer imaginären Science als Lese-, Seh- und Hörerfahrung, deren einzige Stabilität das Instabile sei. Stabil sei das Erscheinen der den Leser vertrauten Dinge, mit denen die Figuren in Berührung kämen wie Tische, Teller, Boden, Spiegel, Waschbecken, Fenster und Caféhaus, ein Teil des irdischen Inventars, der ersten beiden Seiten, aus dem vor zwei Jahren erschienenen Horrorroman „Die Vorzüge der Dunkelheit . 29 Versuche, die Welt zu verschlingen.“

Stabile Instabilität sei auch das Kennzeichen von Ror Wolfs Bildcollagen. „Instabilität würde auf der inhaltlichen Ebene durch die dem Prinzip Collage verpflichteten Verknüpfungen paradoxer Unwahrscheinlichkeiten erzeugt. Kompositorisch aber als Großes und Ganzes wirkten diese Gebilde ungeheuer stabil. Diese Erfahrung, das inhaltliches Nichts zur Form durchschlagen müsse, gleichwohl durch eine kompositorische raffinierte instabile Form prägnanter herausgestellt werde als eine Welt umgekehrter Kapriolen und funkelnder Figuren, mache das reizvoll Naive von Ror Wolfs Kunst aus“, konstatierte Michael Lentz höchst amüsant.
Lentz rief seinen Zuhörern zu: „Hier können sie Kind sein und staunen, und eines Umstandes sicher sein, dessen metaphysische Ungesichertheit uns aus den Träumen schrecken lässt, sollten wir denn je geträumt haben und erwacht sein. Wir sind nun mal in der Welt, und schnell fallen wir nicht aus ihr heraus, wir fallen, falls, durch sie hindurch und in sie hinein, zumindest nicht runter (…) von Ror Wolfs Welten“.

Das Plötzliche im Zerschnetzelten
Das große Thema Ror Wolfs sei das „Plötzliche“, Roul Tranchirers, alias Wolfs, Notizen aus dem Zerschnetzelten Leben sei gar eine Hommage an das Plötzliche, wovon folgender Text Wolfs zeugte: „Plötzlich nachts stand ich auf, und dachte nichts. Alles, was ich beobachtete, verschwand sofort. Ich bemerkte plötzlich, dass ich in meiner Wohnung herumstand, und offenbar etwas suchte, aber ich hatte vergessen, was ich suchte. Plötzlich fiel mir ein, dass ich schon lange in meiner Wohnung herumstand, also suchte ich schon auch lange nach Etwas, das ich vergessen hatte. Plötzlich hatte ich auch das Suchen vergessen, ich hatte auch plötzlich das Stehen vergessen, aber plötzlich bemerkte ich, dass ich lief, dass ich herumlief. Plötzlich bemerkte ich mein Herumlaufen und sagte: „Wenn ich herumlaufe, muss ich etwas suchen! Aber was ist es? Was suche ich?, sagte ich“. Michael Lentz verdeutlichte hiermit, wie das vom ihm zitierte „Ich“ aus Roul Tranchirers Notizen aus dem Zerschnetzelten Leben plötzlich seine raumzeitliche Orientierung verloren hat, nämlich, dass Rouls Ich über bloße situative Bewusstseinsreste hinaus keinen Zugriff mehr auf Gedächtnisinhalte habe. Rouls „Ich“ hielte sich nur so beisammen, wie die Artikulation des Ich-Sagens.

Das Plötzliche – Metapher menschlicher Demenzphobie?
Rouls Text „Plötzlich“ erinnert uns an eigene erste erschütternde Vergesslichkeits- oder gar Blackout-Episoden, an gedächtnisverlustbedingte Existenzbedrohung oder gar an eine juvenale Demenz, deren Charakter für Betroffene im Erleben ja darin liegt, immer öfters selbst Alltagsroutinen als neue Ereignisse zu erleben, da die Zusammenhänge dazwischen, der Transit zwischen dem dem davor oder daneben, vergessen wurden. Mit wachsender Demenz erleben Menschen ihr Leben gewissermaßen ähnlich zerschnetzelt, wie in Rouls, alias Wolfs, Notizen über das Plötzliche aus einem zerschnetzelten Leben, Ror Wolfs intensive Thematisierung des „Plötzlichen“ im „Zerschnetzelten Leben“ dürfte, gemessen an seinem Text „Plötzlich“, somit auch explizit eine Metapher menschlich diffuser Demenzphobien sein, mit denen er, eventuell aus eigener Erfahrung selbst auf der Grenze balancierend, gerne spielt, und uns Betrachter, jedenfalls mich, wohl mehr gruselt als mit all seinen bizarren, blutrünstigen collagierten Abgrundszenarien, die auf eine zerrissene, höchst instabile Welt hinweisen. Denn was wäre bedrohlicher als der allmähliche oder plötzliche Verlust von „Kontrolle“ über uns selbst und unsere Bezüge in unsere Welt.

Ein Hauch von Thanatos
„Tritt man näher heran an die Collagen“, erläuterte Lentz, „sieht man die avatar-ertastbare Erhabenheit der einzelnen Elemente vor ihrem neuen Hintergrund, auf den sie aufgeklebt wurden. Betrachtet man die Collagen nicht ganz aus der Nähe, verschwinden diese Grenzen des Heterogenen.“ Ror Wolf wollte nicht, das man die Schnittkanten seiner zu Collagen auf den Untergrund geklebten „Schnetzel“ sieht, und man muss schon sehr nah herangehen, um winzige Schattenkanten zu erspähen.

Wir erfassen die Collagen ohnehin als Einheit, als ein ganzes Bild, und nicht in ihren Fragmenten, in Schnetzeln. Die besondere Spannung der Kollagen entsteht durch ihre Täuschung, nämlich dass sie zunächst beruhigend zu wirken scheinen. „Wir haben die Figuren, Gegenstände, Landschaften und Situationen schon einmal irgendwo gesehen, in Büchern, im Leben, sie sind uns in ihrer Eigenart vertraut, wir können sie zeitlich und topographisch ungefähr zuordnen.“, erklärt Lentz, aber manches, so in seiner Einführung weiter, habe Ror Wolf mit Bedacht so angeschnitten, dass Wiedererkennbarkeit und Zuordnung nicht ohne weiteres gewährleistet seien. Beispielsweise rage an den Rändern ein Kopf, eine halbe Figur, oder ein Teil einer merkwürdigen Maschine ins Bild. Sei der Torso bedrohlich, oder kann der Fremdkörper nicht genau identifiziert werden, und vorbei sei es mit der Stabilität des „Bekannten“. Wir würden überrascht, dass die Dinge auf den zweiten oder dritten Blick bei weitem nicht sind, was sie zunächst zu sein scheinen. Unsere Referenzrahmen seien zerstört, und es sei die Kunst Roul Tranchirers, alias Ror Wolf, „einen neuen Referenzrahmen als Regulativ der Bildkomposition von vornherein zu imaginieren. Und so finden sich Referenzrahmen im Bildelement, mit innerer Unendlichkeit. Das eine (Bildelement) ist ohne das andere nicht zu denken.“

Die Komplementarität der Bildschnetzel in Wolfs Collagen verdeutlichte Michael Lentz an einer kleinen Collage (siehe Abbildung links): „Die Dunkelheit der Frau im Brautkleid, die auf einem Kissen auf Schnee zu liegen scheint, der Sonnenuntergang am Horizont des Meeres, oder ist das eine Schneelandschaft, die Schwarze Hand, die von unten rechts ins Bild eingreift, sie bilden eine Dreiecksbeziehung, die fortan unverbrüchlich ist. Feuer, Wasser, Hitze und Kälte, ein Hauch von Thanatos, und diese Hand, die soeben möglicherweise voller Inbrunst vom Leben in den Tod befördert hat, und sich nach der kalten Schönheit sehnt, die Hand dirigiert die Vergänglichkeit der Schönheit“ beschreibt Michael Lentz Wolfs Collage und weist auf den Titel eines Sonetts des Barockdichters Hofmann von Hofmannswaldau aus dem 17. Jahrhundert hin, dessen erste vier Zeilen bei dieser Collage Pate gestanden haben könnten, wenn es dort heißt:
„Es wird der bleiche Tod mit seiner kalten Hand
Dir endlich mit der Zeit um deine Brüste streichen,
Der lieblich Korall der Lippen wird verbleichen;
Der Schultern warmer Schnee wird werden kalter Sand.“

Alle Collagen Ror Wolfs geben Rätsel auf. „Diese Rätsel, die sich mit jedem Betrachter neu stellen, sind von
der Art, dass sie nicht gelöst werden müssen“, beruhigte Michael Lentz. Im Gegenteil: Die Rätselhaftigkeit der Collagen begründeten wohl erst das ästhetische Wohlgefallen, und das Bedrohliche, das man in den Collagen fände, so Lentz, dessen zweites Collagenbeispiel (siehe Abbildung) an „Abgrundtiefe“ der ersten „Schneztelei“ in nichts nachsteht: „Ein Specht von der Vertikalen in die Horizontale verlagert, eine sitzende Frau die den Kopf auf die Tischplatte gelegt hat, die linke Hand vielleicht auch die rechte verdeckt ihr Gesicht, vielleicht wähnt sie sich nicht alleine und will ihre Tränen verbergen, ein tatsächlich noch im Koffer platziertes Kofferradio, was sehr schön mittig platziert wird, ein Geistertrio, das sich hier wie selbstverständlich zusammengefunden hat, beschienen von einer Petroleumlampe. Die Rückenlinie der Frau korrespondiert mit der Rückenlinie der mit einer Linksdrehung in die Horizontale beförderten Buntspechts, dessen Kopfzeichnung etwas Dachshaftes hat.“, seziert Michael Lentz Wolfs Collage und wirft zugleich allerlei anregende Fragen auf: wie der Specht auf die Frau kommt, wieso der Vogel so groß ist, oder ob die Frau ihn mit einem Schnabelhieb ins Jenseits befördert habe, was das denn für ein Licht sei, welches den Specht und die Tischplatte von oben anstrahle, und was die Petroleumlampe unten rechts bedeute.

Ja, man könne vor manchen Collagen einen halben Tag verbringen, um ihren Geheimnissen näher zu kommen. Und jeder wird eine eigene Beziehung zur Bilder-Sprache Ror Wolfs entwickeln, wird seine eigenen Geschichten dazu finden.

Auch die anderen Autoren im Programm der noch bis zum 21. Juni veranstalteten Wiesbadener Literaturtage an verschiedenen Veranstaltungsorten der Landeshauptstadt versprechen spannende Momente und die Entdeckung neuer Welten.

Programm der 19. Wiesbadener Literaturtage bis zum 21. Juni 2015

Abend-Lesung: Die wundersamen Welten des Ror Wolf

Am Abend las Christian Brückner unter dem Titel Die wundersamen Welten des Ror Wolf aus Wolfs Büchern. © massow-picture
Am Abend las Christian Brückner unter dem Titel Die wundersamen Welten des Ror Wolf aus Wolfs Büchern. © massow-picture

Am Abend würdigte Literaturtage-Gastgeber Christian Brückner inmitten der Collagen-Ausstellung den ebenso sprachmächtigen wie fabelhaften Schriftsteller Ror Wolf in einer Lesung. Ursprünglich hieß Ror Wolf Richard Wolf. Er veröffentlichte, wie beispielsweise seine Notizen aus dem geschnetzelten Leben, auch unter dem Pseudonym Raoul Tranchirer.

Jazzlegende Heinz Sauer am Saxophon.  © massow-picture
Jazzlegende Heinz Sauer am Saxophon. © massow-picture

Der Pianist Michael Wollny und der Tenorsaxophonist Heinz Sauer begleiteten den Abend mit großartigen Eigenkompositionen – ein Duo, das nicht nur der Jazzkenner Ror Wolf besonders schätzt.

 

 

 

Weiteres Programm der 19. Wiesbadener Literaturtage bis zum 21. Juni 2015

Diether v. Goddenthow (rhein.main.eurokunst.com)

Ror Wolfs Werke und Enzyklopädie für unerschrockene Leser

Ror Wolfs Werke gibt es in guten Buchhandlungen. Foto: Büchertisch der Buchhandlung Dr. Vaternahm An den Quellen   © massow-picture
Ror Wolfs Werke gibt es in guten Buchhandlungen. Foto: Büchertisch der Buchhandlung Dr. Vaternahm An den Quellen © massow-picture

Ror Wolf Werke (RWW)

Band 1: Friedmar Apel (Hrsg.): Im Zustand vergrößerter Ruhe. Die Gedichte. Schöffling & Co., 2009.
Band 2: Kai U. Jürgens (Hrsg.): Prosa I: Fortsetzung des Berichts. Schöffling & Co., 2010, ISBN 978-3-89561-921-2
Band 3: Kay Sokolowsky (Hrsg.): Prosa II: Pilzer und Pelzer. Schöffling & Co., 2010.
Band 4: Kai U. Jürgens (Hrsg.): Prosa III: Die Gefährlichkeit der großen Ebene. Schöffling & Co., 2012, ISBN 978-3-89561-922-9.
Band 5: Kai U. Jürgens (Hrsg.): Prosa IV: Nachrichten aus der bewohnten Welt. Schöffling & Co., 2014, ISBN 978-3-89561-924-3.
Band 7: Hans Burkhard Schlichting (Hrsg.): Die Einsamkeit des Meeresgrunds. Die Hörspiele. Schöffling & Co., 2012, ISBN 978-3-89561-917-5.
Band 9: Thomas Schröder (Hrsg.): Raoul Tranchirers Enzyklopädie für unerschrockene Leser. Band II, Schöffling & Co., 2009.

Enzyklopädie für unerschrockene Leser

Band 1: Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt. Anabas-Verlag 1983; erw. Neuausgabe Schöffling & Co. 1999.
als Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2009,
Band 2: Raoul Tranchirers Mitteilungen an Ratlose. Haffmans 1988; erw. Neuausgabe Anabas 1997.
Band 3: Raoul Tranchirers Welt- und Wirklichkeitslehre aus dem Reich des Fleisches, der Erde, der Luft, des Wassers und der Gefühle. Anabas 1990.
Band 4: Tranchirers letzte Gedanken über die Vermehrung der Lust und des Schreckens. Anabas 1994.
Band 5: Raoul Tranchirers Enzyklopädie für unerschrockene Leser & ihre überschaubaren Folgen. Anabas 2002.
Band 6: Raoul Tranchirers Bemerkungen über die Stille. Schöffling & Co. 2005.
Band 7: Raoul Tranchirers Notizen aus dem zerschnetzelten Leben. Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2014